Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Sie brauchen einen sehr starken Charakter, um als Lehrer ein netter Mensch zu bleiben“

November 2015

Philosoph und Bestseller-Autor Richard David Precht (50), Referent am zweiten Vorarlberger Bildungsforum, fordert im Interview mit „Thema Vorarlberg“ nichts weniger als eine Bildungs­revolution: „Wir können doch Leute für das 21. Jahrhundert nicht mehr nach dem Gusto des 19. Jahrhunderts ausbilden.“

Frage an den Philosophen: Was ist gerecht, Herr Precht?

Eine universale Definition von Gerechtigkeit ist schwer zu geben. Im Zweifelsfall brauchen wir das auch nicht. Aber im Hinblick auf die Bildung wäre gerecht, wenn jeder nach seinen Möglichkeiten die Chance hätte, die für ihn beste Förderung zu erhalten.

Dann ist das Schulsystem auf jeden Fall nicht gerecht.

Das gegenwärtige Schulsystem, das wir in Österreich und in Deutschland haben und das es sonst auf der Welt auch nicht gibt, sortiert Kinder im Alter von zehn Jahren bereits in unterschiedliche Töpfe, aus denen sie zwar theoretisch noch rauskommen können, aber praktisch fast nie. Diese Selektivität ist aus dem Kaiserreich übrig geblieben, als man gesagt hat: „Wir brauchen ein paar höhere Beamte. Und wir brauchen Handwerker.“ So wurden unterschiedliche Wege vorgezeichnet und unterschiedliche Schultypen geformt. Mit der heutigen Arbeitswelt hat das gar nichts mehr zu tun. Durch die digitale Revolution werden alle Mittelstandsberufe um mehr als 50 Prozent einschmelzen. Für die Arbeitsmärkte der Zukunft braucht es diese Selektivität nicht. Ich brauche keine verschiedenen Schulen. Ich brauche nur einen Schultyp. Aber innerhalb dieses Schultyps muss ich die Möglichkeit haben, auf individuelle Interessen einzugehen.

In Ihrem Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ schreiben Sie: „Wäre das Schulsystem, wie es heute besteht, ein Unternehmen, wäre es längst pleite gegangen.“

Ich halte Schulen für extrem uneffektiv. Es gibt eine große Zahl von Untersuchungen, die zu belegen versuchen, wie viel Prozent von dem, was man in der Schule lernt, man ein paar Jahre später noch kann. Das liegt unter fünf Prozent. Und das ist ein erbärmliches Ergebnis, gemessen an den vielen Stunden, die ein Schüler bis zu seinem Schulabschluss braucht.

Sie verwenden da ein Zitat von Georg Kerschensteiner. Und der hat schon Anfang des 20. Jahrhunderts gesagt: „Bildung ist das, was zurückbleibt, wenn man das Gelernte wieder vergessen hat.“

In der Schule lernen wir sehr, sehr viel auswendig. Und dann verlassen wir die Schule und haben Begriffe im Kopf wie Mitose, Phenethylamin oder Sinus und Cosinus, wissen aber überhaupt nicht mehr, was das ist. Fragen Sie einen Maturanten, der nicht Mathematik studiert hat, zehn Jahre nach seinem Abschluss, was ein Cosinus ist. Fragen Sie quer durch die Bank, ob jemand die Goldene Bulle erklären kann. Dann werden Sie sehen: Sie können es nicht. All das haben Sie in der Schule einmal gelernt. Aber Bildung besitzen Sie deswegen nicht.

Sie plädieren ja dafür, dass die Stoffmengen in der Schule drastisch reduziert werden.

Wenn Sie große Stoffmengen eingetrichtert bekommen, merken Sie sich relativ wenig. Stellen Sie sich vor, ihre berufliche Aufgabe wäre es, sich an einem Tag mit sechs, sieben Dingen zu beschäftigen, die überhaupt keinen Bezug zu­einander haben, und in allem werden Sie dann auch noch geprüft. Dann würden Sie als Erwachsener sagen: Das sind unzumutbare Arbeitsbedingungen. Und das würden Sie auch zu Recht sagen. Denn dafür ist das Hirn nun wirklich nicht gemacht. Aber genau das lassen wir unseren Kindern jeden Tag, jeden Tag erneut, in der Schule wieder angedeihen.

Und das hat historische Gründe …

Durch den Taylorismus wurde in der industriellen Revolution jeder Arbeitsvorgang normiert. Diese Art serieller Gleichschaltung wurde auf die Schulen übertragen. Deshalb wird Schülern zwei Mal 45 Minuten Mathematik, dann 45 Minuten Chemie, dann 45 Minuten Geschichte und dann 45 Minuten Sport zugemutet, und das insgesamt sechs, sieben Stunden am Tag. Und mit diesem Normierungs-und Taktungswahn glauben wir, jemandem eine Bildungsbiografie angedeihen lassen zu können!

Aber Änderungen sind keine in Sicht …

Das Schulsystem gehört mit zum Statischsten in der Gesellschaft, gehört zu dem, was man am schwersten verändern kann. Es ist hochgradig ideologisch vermint mit Weltanschauungen aus einer anderen Zeit. Im Hinblick auf die Herausforderungen im 21. Jahrhundert sind diese weltanschaulichen Gedanken, die wir um die Schule führen, nicht mehr zeitgemäß. Es herrscht ein unglaublicher Modernisierungsrückstand, nicht nur in den Schulen, sondern auch in der Art und Weise, wie wir über die Schulen reden.

Wie erklären Sie den Widerstand gegen eine Systemänderung?

Es gibt Widerstand von zwei Seiten – von Eltern und Lehrern. Eltern, die viel Zeit auf ihre Kinder verwenden, wollen, dass ihre Kinder ein optimales Lern­klima vorfinden, und glauben, das wäre vor allem dann der Fall, wenn keine Lernschwachen in der Klasse sind. Das heißt, die Eltern bilden keine solidarische Gruppe. Lehrer wiederum, die schon lange unterrichten, fühlen sich unangenehm angefasst, wenn jemand von außen sagt, dass das so nicht weitergehen kann. Sozialpsychologisch würde man da sagen, dass Lehrer in diesem Fall eine kognitive Dissonanz erleben. Das heißt, dann ist mit ihrem Selbstbild etwas nicht mehr in Ordnung. Und dann wehren sie sich gegen diese Kritik. Das Schulsystem immunisiert sich so gegen größere Kritik von außen.

Sie sind in bestimmten Lehrerkreisen ein großes Feindbild …

Ein Viertel der Lehrerschaft geht mit meinen Ideen konform. Ein weiteres Viertel lehnt diese Ideen ab, diese radikalen Ablehner tun jegliche Form der Einmischung von Leuten, die selber keine 20 Jahre unterrichtet haben, als völlig belanglos und unzulänglich ab. Für die ist das Klugscheißerei. Und dazwischen gibt es den größten Teil der Lehrer, die ihren Unterricht an das anpassen werden, was verändert wird. Die sind ein bisschen dafür und ein bisschen dagegen.

Die radikalen Ablehner werfen Ihnen vor, dass Sie etwas kritisieren, das Sie nicht kennen.

Dieser Vorwurf ist lustig. Mit dieser Logik könnte man sagen, dass nur derjenige, der 20 Jahre lang die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland gelenkt hat, auch das Recht hat, Angela Merkel zu kritisieren. Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder das Recht hat, auch Menschen zu kritisieren, die andere Professionen ausüben. Warum soll denn das ausgerechnet bei Lehren nicht gelten?

Vermutlich, weil Lehrer eine etwas schwierige Berufsgruppe sind. Sie sind es gewohnt, am Vormittag recht und am Nachmittag frei zu haben …

Es ist ein Beruf, der so, wie er jetzt praktiziert wird, häufig nicht charakterförderlich ist. Sie brauchen einen sehr starken Charakter, um als Lehrer ein netter Mensch zu bleiben. Sie sind ja in einer merkwürdigen Situation – sie sind am Ende der, der recht hat, gegenüber 25 oder 30 Schülern, die es weniger gut wissen. So etwas färbt natürlich auf den Charakter ab. Ich würde den Einzelunterricht sowieso ersetzen und Lehrer stattdessen in Teams unterrichten lassen. Der Lehrerberuf ist, wenn er ernst genommen wird – und das machen ja schon einige Lehrer –, ein ganz schwieriger Beruf. Doch die Ausbildung ist falsch. Ein Lehrer muss eine beeindruckende Persönlichkeit sein, dem andere gerne zuhören, der mitreißen kann und inspirieren. Deswegen sollte man Lehrer casten. Man sollte Lehrerakademien schaffen, in denen alle Herausforderungen, die der spätere Beruf mit sich bringen wird, tatsächlich praktisch erlernt werden. Ich würde den Lehrerberuf gerne aufwerten!

In Österreich wird seit Langem über die gemeinsame Schule debattiert, im End­effekt aber immer nur darüber, was auf dem Türschild stehen soll und nie über Inhalte …

Genau. So sieht das aus! Sie haben völlig recht. In Deutschland werden jetzt die Hauptschulen abgeschafft und mit den Realschulen zusammengelegt, und diskutiert wird nur darüber, ob das weiterhin Realschule heißen sollen oder Ganztagsschule. Wir streiten über Etiketten. Wir streiten immer über die Hardware und nie über die Software.

Die Vorarlberger Landesregierung will die gemeinsame Schule in acht bis zehn Jahren umsetzen. Was in dieser Schule gelehrt werden soll, wurde bis dato mit keinem Wort erwähnt.

Man kann Schule nicht wie bisher machen und einfach sagen, dass das jetzt halt eine Gemeinschaftsschule ist. Das wird nicht funktionieren. Man bräuchte gute Leute, die erklären können, wie man in dieser neuen Schule all die Fehler der klassischen Schule aufheben kann. Es braucht eine vollkommen andere Art Schule. Ich habe da ja den Vorschlag von Lernhäusern gemacht – große anonyme Schulen nach dem englischen Collegesystem in einzelne Abteilungen zu zerlegen, damit man sich individueller um die Schüler kümmern kann.

Wer auf alle Bildungsfernen Rücksicht nimmt, senkt unweigerlich das Niveau. Das ist eines der Argumente gegen die gemeinsame Schule.

Das gilt nur dann, wenn alle den gleichen Stoff bekommen! Das will ich ja nicht. In dem Schultypus, den ich skizziert habe, würde das so ausschauen, dass nur bis zum Ende des sechsten Schuljahres der Klassenverband zusammenhält und nur bis zu diesem Zeitpunkt der Stoff ein gemeinsamer ist. Danach würde in Projekten gelehrt, die unterschiedliche Interessen berücksichtigen. Gesamtschulen wie wir sie jetzt kennen, funktionieren meistens schlecht oder gar nicht. Und das ist mir auch völlig bewusst. Ich will diese Gleichschaltung wegbekommen! Chancengerechtigkeit bedeutet nicht Gleichheit. Chancengerechtigkeit bedeutet: jeder nach seinen Möglichkeiten! Also muss ich jedem nach seinen Möglichkeiten in der Schule auch etwas anbieten.

Sie wollen ja nichts weniger als eine Bildungsrevolution.

In unserer Gesellschaft ist doch längst eine gewaltige Revolution im Gange, eine der großen Revolutionen der Menschheit – durch die Digitalisierung. In 20 Jahren werden wir keine Automobilindustrie mehr haben, jedenfalls keine, die mit der heutigen noch zu vergleichen ist. Es wird viele Berufe, die wir heute noch als selbstverständlich erachten, nicht mehr geben. Im Finanzamt wird kein Mensch mehr arbeiten, Züge werden nicht mehr von Menschen gefahren, vieles andere mehr. Wir werden in einer völlig anderen Gesellschaft leben. Aber die Schule reagiert nicht darauf. Sie bleibt stehen. Wir können doch Leute für das 21. Jahrhundert nicht mehr nach dem Gusto des 19. Jahrhunderts ausbilden! Und wenn die Schule nicht auf diese Revolution reagiert, wird das totale Chaos produziert, an den Arbeitsmärkten und in der Gesellschaft. Die Verteidiger der gegenwärtigen Schulformen erinnern mich ein bisschen an die Opas in der DDR – also die Funktionäre Ende der 1980er-Jahre, die glaubten, der Sozialismus würde noch viele Jahrzehnte bestehen.

Das zu erkennen und darauf zu reagieren, würde allerdings visionäre Politiker brauchen.

Daran glaube ich nicht. Die gibt’s nicht! Oder anders gesagt: Die, die es gibt, die werden nichts. Sie können das System auch nicht von oben verändern. Die Politik kann die Schule nicht verändern. Die Macht der Kultus- und Bildungsminister schätze ich gegen null ein. Die Schule kann nur von unten verändert werden. Es braucht visionäre Schulleiter, es braucht visionäre Lehrer und visionäre Eltern. Aber stellen Sie sich vor, in Österreich würde die Politik nur ein bisschen was von dem einführen, was ich mir vorgestellt habe! Wer das macht, würde bei der nächsten Wahl abgewählt. Und der, der als nächstes drankäme, würde alles wieder zurückdrehen. Die Leidtragenden an diesem Prozess wären alle daran Beteiligten. Funktionieren kann eine Änderung nur von unten her, an einzelnen Schulen, und nur dann, wenn es die Leute an diesen Schulen auch mehrheitlich so wollen. Solche wunderbaren, umgebauten Schulen gibt es ja. Nur müsste es davon eben mehr geben.

Sie nennen Arbeitslosengeld „eine Entschädigung für nicht gewährte Chancengleichheit“.

Es gibt viele Kinder, die aus sozial desolaten Familien kommen, die schon im Kindergarten den Anschluss nicht schaffen und dann häufig verhaltensauffällig werden. Sie machen keinen Schulabschluss, schlittern in eine Arbeitslosen- oder manchmal auch in eine kriminelle Karriere. Diese Kinder hatten zu gar keinem Zeitpunkt jemals die Chance, mit den anderen mitzuhalten. Und die werden dann von uns auf Staatskosten ein Leben lang alimentiert. Man kennt ja den Satz von Kennedy: „Was ist teurer als Bildung? Keine Bildung.“

Trotzdem wird wohl vieles von dem, was Sie fordern, Utopie bleiben.

Es werden viele Veränderungen im Zuge der Digitalisierung kommen. Diese Veränderungen werden aber nicht unweigerlich zum Besseren führen. Sie werden nur dann zum Besseren führen, wenn die pädagogischen Wege, die ich beschrieben habe, auch realisiert werden. Und wenn wir jetzt nicht sagen, die digitale Revolution ist die Chance, über eine neue Pädagogik nachzudenken, wird es unter Umständen noch übler, als es jetzt ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

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