„Das ist eine elementare Gemeinheit"
Bill Clinton, Arnold Schwarzenegger und Steven Spielberg zählen zu seinen Fans, die NASA, die Lufthansa, Smart, Nike und viele andere zu seinen Kooperationspartnern: Umweltpionier Michael Braungart (61) hilft Unternehmen seit Jahrzehnten, Produkte ohne Giftstoffe so herzustellen, dass sie nach ihrem Verschleiß oder ihrer Nutzung als Nährstoffe wieder in die Biosphäre oder in die Technosphäre zurückkehren.
Das dahinterliegende und von Braungart entwickelte Konzept „Cradle to Cradle“ ist dabei auch eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Im Jänner kommt der Chemiker nun zu einem Ökoprofit-Workshop nach Vorarlberg – und erklärt im Interview vorab, warum Umwelt kein Moralthema, sondern ein Innovationsthema sein muss.
Herr Braungart, Sie gelten als Umweltpionier, kritisieren in Ihrem Buch „Intelligente Verschwendung“ allerdings die „Diktatur des Ökologismus“ ...
So wie der Sozialismus in der DDR nie sozial war, entsteht uns ein Ökologismus, der der Ökologie gar nicht dient. Wir tun nur so, als ob, und tatsächlich halten wir die Leute nur beschäftigt. Das ist so, als ob man auf der Titanic sitzt und sagt, wir löffeln jetzt mit dem Esslöffel anstatt mit dem Teelöffel. Das ist doch albern. Im Prinzip gesehen, hat das der Helmut Qualtinger ja einmal ganz gut erklärt, mit diesem Sketch, in dem er seinem Nachbarn sagt, dass er ein neues Motorrad hat, das doppelt so schnell fährt wie sein altes. Der Nachbar fragt ihn, wohin er denn damit will. Qualtinger antwortet: „Das weiß ich nicht, aber dafür bin ich doppelt so schnell dort.“ Wir machen die falschen Dinge perfekt und damit nur perfekt falsch. Ein gutes Beispiel ist übrigens der Biolandbau.
Der Biolandbau?
Österreich ist weltweit führend, was Biolandbau angeht, aber eigentlich ist dieser Biolandbau kollektiv eine extrem traurige Angelegenheit. Wir verwenden 21 Prozent unserer europäischen landwirtschaftlichen Fläche, um Biotreibstoffe zu produzieren, das ist eine elementare Gemeinheit. Gleichzeitig importiert Europa die Fläche Frankreichs an Futtermittel, allein aus Lateinamerika. Und wir beklagen uns dann, dass der Regenwald abgeholzt wird. In Österreich verlieren wir durch Maisanbau bis zu 30 Tonnen Boden pro Hektar und Jahr. Für Biotreibstoffe. Das ist ja völlig absurd! Und dann tun wir auch noch so, als ob wir die Umwelt schützen würden, wenn wir Mais anbauen. Das ist eine so offensichtliche Lüge. Erich Honecker hatte die Leute nicht so angelogen. Im Übrigen erleben wir im Namen dieses Ökologismus auch immer mehr Verhaltensmaßregeln und Normierungen, immer mehr Vorschriften, die wirtschaftliches Wachstum und Impulse, aber auch die Wahlmöglichkeiten der Konsumenten einschränken.
Sie schreiben in Ihrem Buch, Umwelt sei kein Moralthema, sondern ein Innovationsthema. Warum soll denn Umwelt kein Moralthema sein?
Warum? Weil der Mensch die Moral sofort vergisst, wenn es ihm schlecht geht. Dann zählen andere Dinge. Deutschland hat 30 Jahre lang praktisch nichts getan für die Umwelt, weil man meinte, Umweltschutz sei nur eine moralische Verpflichtung, die man sich mit der Wiedervereinigung aber nicht leisten könne. Und unter Stress vergessen sowieso 95 Prozent der Menschen die Moral. Ich habe mit meinen Studenten in Rotterdam folgendes ausgerechnet: Wer auf der Autobahn im Stau steht und die Spur wechselt, verursacht den nachfolgenden Autofahrern 200-mal mehr Verzögerung, als er selbst an Zeit gewinnt. Denkt da auch nur ein Autofahrer daran, wenn er es eilig hat? Nein. Ich habe mit meinen Studenten auch erforscht, an welchen Stellen die Autofahrer in Rotterdam am schlimmsten rasen. Und wissen Sie, was das Ergebnis war?
Nein …
Vor Kindergärten! Da rasen die Autofahrer im Durchschnitt doppelt so schnell wie erlaubt, weil sie es eilig haben. Also: Man vergisst die Moral sofort, wenn man Stress hat. Deswegen sage ich: Umwelt ist kein Moralthema. Umwelt ist ein Innovationsthema. Umweltschutz hat nichts mit einer angeblichen Verpflichtung für die göttliche Schöpfung zu tun. Man muss nur begreifen, dass ein Produkt, das Abfall wird, einfach nur ein schlechtes Produkt ist. Ein Produkt, das giftige Stoffe enthält, hat nur ein Qualitätsproblem.
Sie sagen ja, dass die Menschen „primär kein Umweltschutzproblem, sondern ein Designproblem“ hätten.
Ja. Die Menschen denken, es sei Umweltschutz, wenn man nur weniger kaputt macht. Das aber wäre ja so, wie wenn ich sagen würde: Es ist bereits Kinderschutz, wenn ich mein Kind nur fünfmal anstatt zehnmal schlage. Es gibt keinen Schutz durch nur weniger Zerstörung. Und dann dieses Wort „klimaneutral“! Was soll denn das schon heißen? Stellen Sie sich vor, Sie kommen nach Hause und erzählen Ihren Kindern, dass Sie heute kinderneutral sein wollen. Das ist doch albern.
Eine Ihrer zentralen Botschaften lautet: „Es geht nicht darum, in der Zukunft weniger schlecht zu sein, es geht darum, ‚mehr gut‘ zu sein.“
Ja, genau, darum geht es! Um nur weniger schädlich zu sein, sind wir zu viele Menschen auf der Welt. Aber: Wir können einen Fußabdruck hinterlassen, der zum Feuchtgebiet wird. Wir brauchen Systeme, die aktiv die Umwelt schützen, wir brauchen beispielsweise Gebäude, die Luft und Wasser reinigen und anderen Lebewesen Platz schaffen. Ich rede von Gebäuden, die konkret dafür da sind, nützlich zu sein und nicht einfach weniger schädlich.
In einem Interview hieß es, der Begriff „nachhaltig“ sei ein Reizwort für Sie.
Der Fehler im Denken beginnt schon mit der Definition von Nachhaltigkeit: die Bedürfnisse der jetzigen Generation zu erfüllen, ohne den zukünftigen zu schaden. Wie traurig ist das denn? Sie kommen nach Hause und sagen Ihren Kindern, dass Sie ihnen nicht schaden wollen. Nur Kindern nicht schaden zu wollen? Ich will doch gut zu meinen Kindern sein, oder? Das Denken dahinter ist ein Schuld-Management, ein Vermeiden, Sparen, Verzichten. Das war gut, um wenigstens die Probleme kennenzulernen, aber für die Zukunft ist das doch keine Lösung, überhaupt nicht.
Und wie lautet die Lösung?
Die Dinge müssen völlig anders gestaltet werden. Es geht um Überfluss und um Genießen und nicht um Verzicht. Wenn die Menschen Produkte, Werkzeuge und Häuser von Anfang an intelligenter gestalten würden, müssten sie an Dinge wie Verschwendung, Verschmutzung oder Mängel nicht einmal denken.
Sie sagten in diesem Zusammenhang einmal, dass Recyclingbemühungen auf einem negativen Glauben basieren würden. Klingt fast ketzerisch, der Satz …
All die Gegenstände, Produkte, Verpackungen, Gebäude, Autos, Textilien sind nie für Recycling entwickelt worden. Wir reden da im Prinzip nur von einer verzögerten Mülldeponie. Es geht das Konzept von Müll nicht auf. Die Natur kennt ja auch keinen Müll. Wir sind also dümmer als alle anderen Lebenswesen. Wir müssen begreifen, dass alles Nährstoff werden soll. Und nicht Müll. Es ist doch viel schlauer, die Dinge von vornherein als Nährstoffe zu begreifen, entweder für die Biosphäre oder für die Technosphäre. Sonst optimiert man nur die falschen Sachen. Alle Dinge, die verschleißen, sollen in die Biosphäre gehen, alle Dinge, die genutzt werden, in die Technosphäre.
Produkte ohne Giftstoffe und Abfall herzustellen und wieder in den Kreislauf einzuschleusen, ist das der Grundgedanke von „Cradle to Cradle“?
Das ist nur die Mindestbedingung. Etwas ohne Gift zu machen, das ist nur das Minimum. Aber das ist noch keine Leistung. Verstehen Sie? Es geht darum, Dinge zu machen, die von vornherein nützlich sind und deren ökologischen Fußabdruck man feiert. Wir können 40 Jahre Weltuntergangsdiskussionen in Innovationen und in Qualität umsetzen. Das ist im Übrigen auch die einzige Chance der europäischen Wirtschaft.
Wie ist das zu verstehen?
In Europa haben wir im Prinzip den Anschluss an die Weltspitze verloren. Wir haben in der Nanotechnik nichts mehr mit der Weltspitze zu tun. Das Gleiche gilt für die Gentechnik – übrigens eine äußerst verlogene Diskussion –, das gilt für Elektronik, für das Internet, für die Digitalisierung, da sind wir überall zehn, fünfzehn Jahre hinterher. Ich habe eine koreanische Mitarbeiterin, die sitzt jeden Morgen da und denkt sich, ihr Rechner sei kaputt. Dass das so ewig dauert, das kennt sie aus Korea nicht. Was wir unter schnellem Internet verstehen, ist einfach nur ein Witz. Es gibt allerdings einen Bereich, in dem Europa punkten könnte. Und das ist der Umweltbereich. Die einzige Chance, die wir haben, ist, Umweltschutz mit Digitalisierung zu kombinieren und mit allen anderen Technologien, dann wären wir führend. Denn die Europäer, insbesondere die Österreicher, haben da ein Know-How, das es in anderen Ländern nicht gibt. Dieses Know-how ist in den Unternehmen selbst entstanden, ganz ohne Zutun der Politik.
Sie schreiben ja, dass Wirtschaftsführer mit guten Ideen die Kraft hätten, „unseren Umweltproblemen auf eine Art zu begegnen, wie es die Regierungen nicht können“.
Das Mobiltelefon oder die Waschmaschine sind auch nicht von Regierungen vorgeschrieben worden, die sind durch Kreativität und Innovation zustande gekommen. Und wir können jetzt 40 Jahre Weltuntergangsdiskussionen in echte Innovation, in Qualität, in Schönheit umsetzen und Sachen schaffen, gegen die die Sklavenarbeit in Asien gar nicht mehr konkurrieren kann. Ein typisches Beispiel ist die Firma Gugler in Melk.
Und warum?
Weil Gugler das erste Unternehmen weltweit ist, das Druckerzeugnisse herstellt, die perfekt kompostierbar sind. Mit Gugler kann man das gesamte Papier in biologische Kreisläufe zurückbringen, das heißt, man kann es kompostieren oder verbrennen, es ist wesensmäßig ein besseres Papier. Und jetzt ist Papier etwas wert. Das ist als Innovation aus der ganzen Umweltdiskussion entstanden. In Österreich! Kataloge von Möbelhäusern hatten vor 30 Jahren übrigens 90 giftige Stoffe enthalten. Ein Katalog, der heute in Österreich oder in Deutschland gefertigt wird, enthält 50 giftige Stoffe. Was also hat man erreicht? Man hat viel Geld ausgegeben und das Produkt ein bisschen weniger schädlich gemacht. Und dann denken wir, das sei Umweltschutz! Im Übrigen stirbt die europäische Druckindustrie sowieso ab. Heute werden ein Katalog, eine Monatszeitschrift, selbst Werbematerial in China oder Malaysia gedruckt und nach Europa transportiert. Und in diesen Produkten sind übrigens wieder die 90 giftigen Stoffe drinnen. Das heißt, wir machen die High-Tech-Entsorgung für giftigen Sondermüll aus China oder Malaysia. Nun „recyceln“ wir dieses Papier und machen Karton daraus. Und damit essen Sie mit jeder Pizza, die sie sich liefern lassen, etwa ein Drittel dieser Druckchemikalien mit, weil die Kartons diese Giftstoffe ja an die Pizza abgeben.
Können wir ein – weiteres – Idealbeispiel eines Produktes nehmen, das nach Ihrem „Cradle to Cradle“-Prinzip entstanden ist?
Möbelbezugsstoffe. Zuschnitte der Möbelindustrie in Europa sind so giftig, dass sie als Sondermüll verbrannt werden müssen. Da sitze ich auf dem Bezugsstoff und rutsche hin und her und nehme praktisch den Bezugsstoff in mich auf. Das kann doch nicht sein! Wir haben deswegen essbare Möbel-Bezugsstoffe entwickelt, die anschließend als Torfersatz in Gärtnereien verwendet werden können. Essbarer Bezugsstoff heißt, dass alle Zutaten so sind, dass ich sie auch essen könnte, nicht, dass ich sie essen muss. Diese Bezugsstoffe sind 20 Prozent billiger in der Herstellung, es entsteht kein Müll, der Arbeitsschutz ist viel einfacher. Sie werden in der Schweiz gefertigt und können mit Asien konkurrieren, weil sie wesensmäßig besser sind. Das ist ein typisches Beispiel für ein Biosphären-Produkt, das Produkt ist nützlich, es ist nicht weniger schädlich. Dasselbe gilt für die Technosphäre. Wir haben nichtgiftige Teppichböden entwickelt und dazu ein neues Geschäftsmodell.
Ein neues Geschäftsmodell?
Man verkauft den Menschen keinen Teppichboden mehr, sondern zehn Jahre Nutzung. Nach zehn Jahren geht der alte Teppichboden an den Hersteller zurück, der Kunde bekommt einen neuen. Und indem der Hersteller nur die Dienstleistung verkauft und das Material zur Wiederverwendung zurückbekommt, kann er zur Produktion der Teppichböden die schönsten und besten Materialien nehmen und nicht die billigsten. Diese Teppichböden reinigen übrigens aktiv die Luft und binden Feinstäube an sich. Das ist sehr wichtig! Warum soll denn daheim die Lunge die Luft reinigen, wenn ein Teppichboden das genauso kann? Oder: Man verkauft – nach demselben Muster – keine Waschmaschine mehr, sondern nur noch eine bestimmte Anzahl von Waschgängen. Dann kann der Hersteller die besten Materialien nehmen und nicht den billigsten Dreck.
Nötig wäre „zeitlose Achtsamkeit im Gegensatz zur gehetzten Hirnlosigkeit“, dieser Satz findet sich am Ende Ihres Buches und so könnte auch das Fazit lauten, oder?
Wir können nützlich für diesen Planeten sein, wir müssen nicht immer weniger schädlich sein. Wir können wirklich etwas ändern, aber wir müssen jetzt begreifen, dass Umweltschutz kein Moralthema, sondern die einzige echte Innovationschance der europäischen Wirtschaft ist. Ansonsten wird Europa zu einem Museum für China.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Michael Braungart * 7. Februar 1958 in Schwäbisch Gmünd, ist ein deutscher Verfahrenstechniker und Chemiker. Er entwickelte zusammen mit William McDonough das „Cradle to Cradle“-Konzept. Braungart ist Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam und Autor mehrerer Publikationen. Dem Interview zugrunde liegt sein Buch „Intelligente Verschwendung“, oekom Verlag, München 2013. www.braungart.com
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