Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Die Macht der Manipulation

April 2022

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Montagsforum: Über die Neukonstruktion unserer Informationswirklichkeit, neue Ungewissheiten – und das „Vokabular der Resignation“.

Nach pandemiebedingter, längerer Pause startete das Montagsforum nun wieder mit einem neuen Semester, mit dem Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und mit dessen hochaktueller Rede über die Macht der Desinformation.
Den Besuchern im Dornbirner Kulturhaus erzählt Pörksen zunächst eine Geschichte. Er erzählt von Misha Katsurin, einem Ukrainer, der in Kiew geblieben ist, um sein Land zu verteidigen und von dessen Vater Andrei, der in Russland lebt. Die ersten Bomben sind längst schon auf Kiew gefallen. Doch der Vater hat sich nicht gemeldet, auch nach Tagen nicht. Also greift Misha selbst zum Telefon, ruft an und sagt: „Vater, hier fallen Bomben. Willst Du denn gar nicht wissen, wie es uns geht, wie es deinen Enkeln geht?“ Doch der Vater antwortet: „Bei euch fallen keine Bomben! Es gibt keinen Krieg, nur eine Militäroperation zum Schutz der Ukraine vor den Nazis.“ Russische Soldaten würden der ukrainischen Bevölkerung nur Lebensmittel bringen und warme Kleidung: „Das habe ich mit eigenen Augen gesehen, im Fernsehen. Also hör‘ auf, mir etwas anderes zu erzählen.“ 

Papa, glaube!

Das Gespräch, es endet im Streit. Und Misha, aufgebracht, postet diese Erfahrung auf Instagram. Zehntausende Menschen teilen den Post, hunderte Ukrainer kommentieren ihn. Sie berichten alle dasselbe: Dass sie in ihren Gesprächen mit Verwandten und Freunden in Russland nicht mehr durchdringen, dass sie nicht mehr hinter „diesen digitalen eisernen Vorhang“ kommen, wie Pörksen das nennt.
Doch Misha resigniert nicht. Er begreift, dass in dieser Situation eine Aufgabe liegt, er setzt mit anderen eine Website auf, eine Webseite mit dem Namen „Papa, believe!“, zu Deutsch: „Papa, glaube!“ Dort liefert Misha den Ukrainern Kommunikationshilfen in diesem entfesselten Propaganda- und Desinformationskrieg, Hilfen für Ukrainer im Gespräch mit ihren russischen Verwandten.
„Wie spricht man mit jemandem, der noch nicht einmal hören kann, dass er einen nicht hören kann?“, fragt Pörksen. Mit einem Menschen also, der das erlebt, was der US-amerikanische Publizist Julian Sanchez eine „epistemische Schließung“ nennt: Die Information, die erschüttern könnte, sie ist da; aber sie ist längst in übergeordneten Rahmungen verborgen, sie erreicht den Menschen nicht. 
Misha telefoniert weiterhin mit seinem Vater. In einem dieser Gespräche sagt er ihm, dass die Familie im Badezimmer ausharre, im vermeintlich sichersten Raum, um den Bomben entkommen zu können. Er berichtet von Freunden, deren kleine Tochter seit Stunden nicht mehr aufhören kann, zu weinen. Schließlich bricht die Abwehr des Vaters ein. Das russische Propagandabild reißt. Der Vater sagt zu seinem Sohn: „Misha, ich glaube Dir. Es ist Krieg.“

Das Vokabular der Resignation

Die russische Propaganda. Die selbsternannten Querdenker in der Pandemie. Die Leugner des Klimawandels. Die allgegenwärtigen Fake-News.
Es heißt, wir würden heute im „postfaktischen Zeitalter“ leben. Aber Pörksen ist da skeptisch. Denn zum einen werde ständig ein neues Zeitalter ausgerufen. Zum anderen behaupte, wer vom Postfaktischen spricht, zumindest implizit, es habe davor auch eine Zeit des Faktischen gegeben, „eine goldene Zeit der Wahrheit“. Eine Zeit, in der Lügner und die Lüge immer verfolgt wurden? Die hat es nie gegeben. Pörksen ist aber aus noch einem Grund skeptisch: „Wer vom Postfaktischen spricht, der spricht die Sprache der Resignation, der verwendet das Vokabular der Resignation.“ Zwar gebe es eine massive Wahrheitskrise im digitalen Zeitalter, sagt der Forscher: „Wer aber vom Postfaktischen spricht, der deutet diese Krise um – zu einem bereits feststehenden Resultat der Menschheitsgeschichte.“ 

Eine Neukonstruktion

Schluss, Aus, Ende? Nein! Nicht zu resignieren, ganz im Gegenteil, wehrhafter zu werden, das ist laut Pörksen die Aufgabe der offenen Gesellschaft; und sie ist dringender denn je, in einer Zeit, in der die Auswirkungen der entfesselten Desinformation und Propaganda für jedermann sichtbar sind: „Von der Generationenentscheidung des Brexit, über den Wahlsieg von Donald Trump, dieser Hybridfigur aus Internet-Troll und Reality-TV-Star, bis hin zur Orchestrierung des Völkermords an der Minderheit der Rohingya in Myanmar.“ 
Man müsse sich aber hüten, nur von „Fake-News“ zu sprechen, warnt Pörksen: „Denn Fake-News sind nur Oberflächenphänomene, sind nur Schaumkronen auf dem Meer der vernetzten Welt.“ In Wahrheit erlebe die Menschheit heute nicht weniger als „eine Neukonstruktion, eine tektonische Verschiebung der Informationswirklichkeit.“ 

Wahrheit braucht Zeit

Diese neukonstruierte Wirklichkeit, die macht Pörksen an vier Diagnosen fest: An einer neuen Geschwindigkeit. An neuen Ungewissheiten. An neuen Anreizen. Und an neuen Manipulationsmöglichkeiten.
Diagnose eins: Eine neue Geschwindigkeit. Die neuen Medien bringen mit ihrem Tempo auch die alten Medien unter Zugzwang und verschärfen damit „in drastisch-dramatischer Weise“ den alten journalistischen Grundkonflikt zwischen Geschwindigkeit und Genauigkeit. Pörksen sagt, der Netzphilosoph Peter Glaser habe diesen Konflikt einst auf die wunderbare Formel gebracht: „Information ist schnell, Wahrheit braucht Zeit.“
Diagnose zwei: Eine neue Ungewissheit. Der Mensch, sagt Pörksen, sei ein bestätigungssüchtiges Wesen: „Wir wollen Bestätigung, wir suchen die Ruhebank fester Wahrheiten, ganz besonders intensiv in Momenten der tatsächlichen oder der bloß gefühlten Gefahr.“ Bestimmte Kräfte nutzen das aus, indem sie gerade in solchen Phasen „Scheingewissheiten barrierefrei in die Erregungskreisläufe des digitalen Zeitalters einspeisen“.
Habe das Mantra einstiger Netz-Utopisten noch gelautet, mehr Information mache den Menschen automatisch mündiger, müsse man heute feststellen: „Immer mehr Informationen unklarer Herkunft erhöhen die Chancen effektiver Desinformation.“
Diagnose drei: Neue Anreize. Einem Zitat zufolge ist das Internet „eine Datenbank unserer Intentionen und Faszinationen“, eine Datenbank unserer Sehnsüchte und Wünsche. Im Netz zeigt sich, wie sehr bestimmte Worte – wie etwa „Sex, Mysterium, Geheimnis“ – die Menschen faszinieren und wie sehr sie attrahiert werden, beispielsweise von der Formulierung: „Du wirst nicht glauben, was dann passiert ist!“ Diese neuen Anreize befeuern laut Pörksen den Kampf zwischen dem Prinzip der Interessantheit – und dem Prinzip der Relevanz, allerdings mit negativem Ergebnis: „Das, was im Kampf um Aufmerksamkeit funktioniert, dominiert das, was tatsächlich wichtig wäre.“ 
Diagnose vier: Neue Manipulationsmöglichkeiten. Laut Pörksen erleben wir heute „eine Demokratisierung und Effektivierung“ medialer Manipulation. Demokratisierung bedeutet: Jeder kann mitmachen, jeder kann manipulieren. Und was Effektivierung bedeutet, das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Im Netz kursierte ein Video, in dem der ukrainische Präsident die Niederlage seines Landes gesteht und kapituliert. Facebook und andere Netzwerke, „die ihre von Geldgier getriebene Ideologie der Neutralität allmählich aufgeben“, hätten verzweifelt versucht, dieses Video zu löschen. Und warum? Weil das Video gefälscht war, weil es ein so genannter „Deep Fake“ war, eine mit Hilfe von Programmen der künstlichen Intelligenz hergestellte, perfekte Fälschung.
Bei jeder Krise, sagt Pörksen, bei jedem Anlass würden Troll-Armeen in die sozialen Netzwerke entsandt, „die Andersdenkende niederbrüllen und Meinungsmehrheiten simulieren.“ Und weil sich der Mensch an Mehrheiten orientiert, spielt auch „dark advertising“ eine Rolle, dunkle Werbung, die nur die jeweils definierte Zielgruppe zu sehen bekommt. 

Schein­gewissheiten werden barrierefrei in die Erregungs­kreisläufe des digitalen Zeitalters eingespeist.

Geschenk oder Fluch?

Wie aber ist die digitale Revolution insgesamt zu bewerten? Als Geschenk? Als Fluch? Pörksen sagt, es gebe die Apokalyptiker, laut denen der Diskurs bereits erloschen sei, „erloschen in einer Kloake aus Propaganda und Desinformation und Hassrede“.
Und dann gebe es die Euphoriker, für die die Macht der einstigen Schleusenwärter am Tor zur öffentlichen Welt gebrochen ist und der Mensch hineinkatapultiert in eine Welt des Informationsreichtums. Er selbst wechsle zwischen diesen Postionen, erklärt Pörksen, er profitiere als Wissenschaftler von diesem Informationsreichtum, sage aber auch: „Wir müssen diesen Raum des Öffentlichen vor Desinformation schützen.“
Nur: Wie soll das gelingen? Wie kann Desinformation bekämpft, gleichzeitig aber die Idee der Kommunikationsfreiheit bewahrt werden? „So wie in den 1970er-Jahren das Umweltbewusstsein entstanden ist, als Reaktion auf die Ausplünderung des Planeten, so müsste heute eine Art Öffentlichkeitsbewusstsein entstehen, als Reaktion auf die publizistische Vermüllung unserer Außenwelt.“ 

Die redaktionelle Gesellschaft

Pörksen setzt auf Bildung. Auf die Stärkung des Individuums. Der Wissenschaftler sagt: „Wir müssen von der digitalen Gesellschaft, in der wir heute leben, zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden.“ Einer Gesellschaft also, in der die Maximen und Prinzipen des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden sind: „Im journalistischen Handwerk steckt eine konkrete Ethik, die uns alle angeht. Weil wir selbst medienmächtig und potenziell zu Sendern geworden sind, ist das journalistische Bewusstsein für uns, die wir alle ein Smartphone haben, relevant geworden.“ 
Aber was sind die Maximen und Prinzipien des guten Journalismus? „Veröffentliche wahrheitsorientiert. Prüfe erst, publiziere später. Analysiere deine Quellen. Sei skeptisch. Orientiere dich an Relevanz und Proportionalität.“ Klingt wunderbar. Aber wie soll der Mensch, wie sollen wir alle an diesen Punkt gelangen? Die Medienrevolution der heutigen Zeit sei in etwa vergleichbar mit der Erfindung der Schrift oder der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, sagt der Medienforscher: „Da brauchen wir doch längst schon ein eigenes Schulfach, um diese Medienrevolution einzuhegen, zu domestizieren, zu besprechen.“ Medien- und Machtanalyse sei in einem solchen Fach zu lehren, die jüngeren Generationen hätten „Medien als Instrumente der Welterkenntnis“ verstehen zu lernen, als Instrumente, die darüber bestimmen, wie unsere Diskurse ablaufen. In diesem Schulfach müsse aber auch die Kunst der öffentlichen Rede gelehrt werden; auch die profunde Auseinandersetzung mit Quellen. „Es müssten zudem ‚angewandte Irrtumswissenschaften‘ unterrichtet werden, um die Menschen zu immunisieren gegen die Illusion, den Irrglauben, den Irrtum.“

Ein transparenter Journalismus

Und der Journalismus selbst? Der habe „dialogischer und transparenter“ zu werden: „Der kategorische Imperativ für einen Journalismus, der einen Beitrag zur Medienmündigkeit in der Breite der Gesellschaft leisten will, muss lauten: Gib deinem Publikum jede nur denkbare Möglichkeit, die Qualität der von dir verwendeten Information einzuschätzen.“
Pörksen will den „Dialog zwischen der vierten Gewalt des klassischen Journalismus‘ und der fünften Gewalt der vernetzten Vielen; einen Dialog zwischen der klassischen Publizistik und einem Publikum, das längst selbst medienmächtig geworden ist“. Ebenso werde man nicht umhinkommen, die Megamassenmedien der digitalen Zeit zu regulieren, also jene Plattformen, die mit Algorithmen das Weltbild von Milliarden Menschen zurechtpuzzeln. Auch da will Pörksen: Transparenz. Er will Transparenzberichte über die publizistischen Aktivitäten dieser Plattform veröffentlicht sehen, veröffentlicht von einem Plattformrat, der sich aus Vertretern der betreffenden Unternehmen, Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und aus unabhängigen Wissenschaftlern zusammensetzen solle. 
Die Ethik und die Herkunft des Kommunikators, sie werden unter digitalen Bedingungen zunehmend dubios und dennoch die entscheidenden Ankerpunkte bei der Einschätzung von Kommunikation bleiben, auch das sagte Pörksen. Der Information suchende Mensch sollte sich also stets fragen: Wer spricht mit welchen Absichten zu wem?

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