Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Die Welt im Aufruhr

Oktober 2024

Herfried Münkler ist einer der gefragtesten Politologen Deutschlands und veröffentlichte jüngst sein Buch „Die Welt im Aufruhr“. In St. Arbogast war er im Rahmen der gesellschaftspolitisch ambitionierten Reihe zu Gast – und zeigte Zuversicht trotz begründeter Furcht.

Politische Theorie und Ideengeschichte sind seine bevorzugten Forschungsgebiete, Kriegsgeschichte und Kriegstheorie im Besonderen. 2014 ging er in seinem Buch „Die neuen Kriege“ davon aus, dass die konventionellen symmetrischen Kriege zwischen Staaten, wie dem gegenwärtigen zwischen Russland und der Ukraine, durch asymmetrische, wie vorläufig im Nahen Osten, abgelöst würden. Im Nahen Osten kämpft der Staat Israel gegen Terrorgruppen wie die Hamas und die Hisbollah, die freilich wieder von Staaten unterstützt werden. In St. Arbogast ging es um die Möglichkeit einer Weltordnung und deren Hüter.

Geschichte als Abfolge von Zeiträumen
Grundsätzlich sei Geschichte immer eine Abfolge von Zeiten, wo die Zeit stillzustehen scheine und solchen, in denen sich die Ereignisse überschlagen und Unsicherheit und Angst verbreiten würden. Dies führe nicht selten zu panischem Verhalten und ende selten im Guten. Das bedeute immer auch für die Demokratie eine Gefahr, weil diese gesteigerte Angst politisch ausgenutzt werden könne, wovon die populistischen Parteien auch Gebrauch machen würden. Gefragt sei in solchen Zeiten aber die kühle und gelassene Reaktion ohne Hektik und Panik.

Furcht statt Angst
In Anlehnung an den dänischen Philosophen Kierkegaard meint Münkler, sei es die erste Aufgabe der operativen Politik aus Angst Furcht zu machen. Während nämlich Angst eine Grundstimmung sei, sei Furcht immer auf etwas Bestimmtes gerichtet, das Ursachen habe und diese müsse die Politik bearbeiten und könne es auch. Putin und die populistischen Parteien würden dagegen Angst bewirtschaften und profitierten vom „Leben in Angst“, denn für sie zeige in Angstsituationen immer einer auf, der wisse, wo es lang gehen müsse. Das wirke herrschaftsstabilisierend. Für die Demokratie aber sei das gefährlich und deshalb müsse aus der Angst „Furcht vor etwas Konkretem“ werden, was dann bearbeitbar werde.

Die Welt vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine
Bis zum Februar 2022 hätten wir ohne Angst und Furcht leben können, „wir waren von Freunden umzingelt“. Statt militärischer Konflikte schufen wir gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten und kooperierten ökonomisch. Eine Win-win-Situation, würde man meinen. Aber der Westen hätte seit 2008 und dem Kaukasuskrieg in Georgien wissen müssen, dass Putin nicht so „ticke“: Nicht rational und nicht wirtschaftlich denkend im Sinne der Kunstfigur des homo oeconomicus. Und dafür hatte der Westen keinen „Plan B“, denn Geld wurde lieber in wirtschaftliche Aktivitäten investiert, die den Frieden vermeintlich sichern sollten. Putins Ressentiment wurde aber übersehen. Münkler bezeichnet sie als „runtergeschluckten Zorn“, als Groll gegen den Westen, nicht mehr die Macht zu sein wie zu Zeiten der großen Zaren oder der Sowjetunion, mit Zugang zum Schwarzen Meer und zur Ostsee. Was letztlich auch nichts Gutes für das Baltikum heiße. Die USA hätten sich durch ihre „Kriege für Öl“ als Hüter der Weltordnung diskreditiert und nun fehle der „Hüter“ für diese Ordnung. Stellten nach dem zweiten Weltkrieg die US-Soldaten auf europäischem Boden die Geiseln gegen Russland dar, die einen Erstschlag verunmöglichten, ist es heute die Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der NATO. Aber auch der baltischen Staaten und da verwies Münkler auf die deutsche Panzerbrigade 45, die gerade in Litauen stationiert wird. Ein Angriff auf das Baltikum würde so zu einem Angriff auf deutsche Truppen und damit der NATO. 

Die Pentarchie
Münkler sieht eine neue Ordnung als realistisch an, die es in der Geschichte Europas seit dem Mittelalter immer wieder gab. Eine Fünfherrschaft von Ordnungsmächten, wie sie bis heute im UN-Sicherheitsrat zu finden ist. Aber die UNO funktioniere nicht (mehr) als Ordnungsmacht und er sieht eine neue Fünferkoalition als einzige realistische Alternative für einen Zustand der Welt-Ordnung. Auf Seiten der Autokratien China und Russland, auf der demokratischen Bank die USA und Europa als Europäische Union. Das Zünglein an der Waage wäre Indien, die größte Demokratie der Welt mit guten Beziehungen zu Russland. Dafür müsste aber die EU, ohne das lähmende Einstimmigkeitsprinzip mit der Vetokeule im Gepäck von einzelnen Staaten wie Ungarn, durch die militärisch starken Mitgliedsstaaten sich neuformieren. Das wären dann Deutschland, Frankreich, Polen, Italien und vielleicht Spanien. Also wieder eine Fünfherrschaft in Europa, die den Platz der USA einnehmen könnte. 

Der Nahost-Konflikt, die Pentarchie und andere Player
Auf Nachfrage aus dem Publikum zur Situation im Nahen Osten sprach Münkler von einer zutiefst zerstrittenen arabischen, muslimischen Welt, die deshalb nicht handlungsfähig sei. Das versuchten imperialistische Mächte für sich zu nützen und die Interessen seien vielfältig. Wobei er vor allem den Iran, mit seiner Rückendeckung aus Russland und einem möglichen Atomwaffenprogramm, als großen Player sieht. Und dabei habe Russland eigene Ambitionen, in diesen Raum vorzustoßen. Aber auch die Türkei, die unter Erdogan imperialistische Züge habe, wolle in diesen Raum vordrängen. Die Türkei wiederum genieße als NATO-Mitglied den Schutzschirm der USA und die USA hätten ihren Einfluss auf Israel weitgehend verloren, weil Netanyahu mache, was er wolle. Eine neue Pentarchie auf globaler Ebene könnte aber auch diesen Konflikt beenden, meinte Münkler abschließend. Auf alle Fälle müsse es Europa schaffen, seinen Platz in einer neuen Pentarchie einzunehmen, sonst würden ihn andere einnehmen, etwa südamerikanische Länder wie Brasilien oder afrikanische Staaten wie Nigeria oder ein arabischer Staat. Russland könnte dafür zerfallen und aus dieser Ordnung herausfallen. Das wäre eine gefährliche Zeit, aber es könnte auch Neues daraus entstehen. Münkler sagte auch: „Es gibt Zeiten, in denen sich die Veränderungen überschlagen, Zeiten der Unsicherheit und der Angst, mit der Neigung zu panischem Verhalten. In einer solchen Zeit befinden wir uns gerade.“

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