Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Dieses Phrasen–Gewitter!“

Oktober 2020

Ijoma Mangold (49), Literaturkritiker der „Zeit“, spricht im Interview über sein aktuelles Buch, den neuen Konformismus der Linken und das von allen Seiten eingesetzte Phrasen-Arsenal, das nur dazu diene, „die Gemeinde der ohnehin schon Bekehrten einzuschwören“. Für Mangold aber ist der „Zustand des totalen Konsenses unerträglich“, er sagt auch: „Es ist ein unglaubliches Maß an Bigotterie, das unsere Gegenwart charakterisiert.“

Herr Mangold, Sie nennen Ihr neues Buch „Der innere Stammtisch“ auch das „Tagebuch einer unreinen Seele“, ein interessanter Ausdruck. Warum unreine Seele?
Es ist vielleicht der seltene Fall eines politischen Buches, das über ein gewisses Maß an Selbstironie verfügt. Und wenn ich von einer ‚unreinen Seele‘ spreche, dann deswegen, weil ich das Gefühl habe, dass wir unsere politischen Meinungen und weltanschaulichen Positionen nach außen stets so präsentieren, als wären sie das Ergebnis eines reinen, unschuldigen, vernünftigen Abwägens. Als hätte man sich nach Maßgabe der Vernunft und erst nach Anhörung aller Pro- und Contra-Argumente für die richtige Position entschieden. Dabei wissen wir natürlich alle, dass das Bullshit ist. 
 
Bullshit? 
Wir wissen doch, dass wir bei politischen Fragen immer schon eine Meinung haben und uns erst nachträglich um Argumente als Rechtfertigung bemühen. Mein Buch kreist daher um die Frage: Wäre es nicht fruchtbarer, die Affekte und Ressentiments, das Schmutzige oder Unreine, das an all unseren politischen Meinungsbildungsprozessen beteiligt ist, nicht zu verleugnen, es nicht zu bestreiten – sondern es im Gegenteil in den Blick zu nehmen, um dann vielleicht auch aufklärerisch damit umgehen zu können? 
 
Sie sagen da recht deutlich, Sie interessiere „der Schmutz“, auf dem Ihre „Standpunkte blühen wie Blumen auf dem Mist“ …
Es geht um die psychoanalytische Innenschau. Mir gefällt der Ausdruck ‚innerer Monolog‘ für die Art und Weise so gut, wie wir mit uns selber über die Dinge sprechen, die uns in der Welt begegnen, vor allem die politischen Dinge. Dieser innere Monolog unterscheidet sich signifikant von unserer veröffentlichten Meinung; das ist keine Schande, aber sich diese Diskrepanz bewusst zu machen, das halte ich für produktiv. Denn in diesem inneren Monolog ist ganz vieles am Werk, da sind die Affekte und die Ressentiments, die Intuition, die Präferenz und die Wut und der Hass. Und wenn man daher – beispielsweise – gegen Hass im Netz argumentiert, dann ist mir das oft zu gouvernantenhaft oder nonnenhaft. Als hätte nur der böse Feind, der Gegner Gefühle des Hasses! Das ist doch erkenntnistheoretisch blind. 
 
Sie schreiben auch: „Eigentlich bin ich auf Harmonie aus und eher konfliktscheu, aber was politische oder weltanschauliche Meinungen betrifft, ertrage ich Harmonie so wenig wie der Teufel das Weihwasser.“ Wie passt denn dieser Satz zu dem vorher Gesagten? 
Wenn wir im Freundes- oder Familienkreis oder im Kollegenkreis sind, also in Gruppen, in sozialen Gebilden, dann dienen Aussagen zum politischen Weltgeschehen in der Regel gar nicht so sehr dazu, eine sachliche Beschreibung loszuwerden. Sie dienen vielmehr einem gruppendynamischen Prozess: Die Gruppe geschlossen zu halten. Man kritisiert Trump, weil man sich damit des Einverständnisses aller anderen am Tisch sicher sein kann; dann können sich alle gegenseitig auf die Schulter klopfen und sich in ihrer gemeinsamen Abscheu gegen Trump als eine Gemeinschaft fühlen. Das ist gar nicht zu verurteilen, aber auch hier möchte ich den Blick darauf lenken, dass viele unserer politischen Meinungsäußerungen diesem gruppendynamischen Zweck folgen. Mich kribbelt es immer in den Fingern, wenn zu viel Einverständnis herrscht. Ich finde den Zustand des totalen Konsenses einen unerträglichen. Das heißt, wenn ich in einer Gruppe bin und sich alle in irgendeiner Sache mal wieder komplett einig sind, – etwa, dass Boris Johnson der Wahnsinn sei und der Brexit undemokratisch, weil von den Torys erschlichen –, dann würde ich schon automatisch, reflexhaft, versuchen, die Gegenposition einzunehmen. 
 
Einfach, um den kollektiven Frieden zu stören? 
Ja. Um den Frieden zu stören. Damit ein bisschen mehr los ist in der Bude …
 
Auch wenn von Greta Thunberg die Rede ist? 
Genau. Das ist auch so ein Musterbeispiel für Gesinnungsharmonie. Der große Erfolg von Greta hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass sich in ihr ein ganzes Milieu als eine Gemeinschaft empfinden kann. Das Phänomen Greta ist ja anders als in religiösen Begriffen gar nicht mehr zu beschreiben. Sie ist quasi eine Erlösungsfigur, die uns erretten soll von der Schuld, die wir als menschliche Zivilisation auf uns geladen haben; wir sind die Sünder, die den ganzen CO2-Schmutz in die Luft blasen, und Greta dagegen die makellose Jungfrau, durch deren Unbeflecktheit eine neue, bessere Welt möglich wird, wenn wir ihr nur folgen. Sie hat ja auch ein Gesicht wie aus der russischen Ikonenmalerei. 

Der Mensch braucht etwas, das er gewisser­maßen als des Teufels betrachten kann.

Das alte Wort ‚Bigotterie‘, es kommt immer wieder vor in Ihrem Tagebuch ... 
Wenn Sie mich fragen, durch was ich unsere Gegenwart vor allem charakterisiert sehe, dann würde ich sagen: Vor allem durch ein unglaubliches Maß an Bigotterie, durch ein wirklich hohes Maß an gouvernantenhaftem Verhalten, das versucht, allen das gleiche Vokabular, die gleiche Redeweise und die gleiche Denkweise nahezulegen. Sie können damit auch eine Verschiebung des gesellschaftspolitischen Diskurses beobachten. Was sich heute in diesem Milieu der ‚Social-Justice-Warriors‘, in diesem Milieu der ‚Woken‘, manifestiert, betrachtet sich selbst ja als links, erscheint mir aber in meiner eigenen historischen Erinnerung vom Habitus und von der Wildheit des Denkens her das Gegenteil von dem zu sein, was früher als links galt. Denn früher war links: sich an keine Regeln halten. Provokant sein. Herausfordernd sein. Die Abweichung suchen. Doch heute läuft dieses ganze angebliche ‚linke‘ Denken auf einen extremen Konformismus hinaus; deren Protagonisten es bereits als unerträglich empfinden, wenn jemand nur ein anderes Wort gebraucht, als es der Diskurs im Moment als geboten erachtet. 
 
Sie ärgert dieser „selbstgerechte Gewissheitston“, Sie ärgert „diese Inszenierung der eigenen Besorgtheit“. 
Ja, weil uns das dümmer macht, als wir sind. Das Spannende, das Problematische, das Herausfordernde an Politik ist ja gerade, dass wir sie betreiben müssen, ohne Gewissheit zu haben. Wir müssen uns daher viel stärker bewusstmachen, wie groß unser Nichtwissen und wie begrenzt unser Wissen ist. Wenn man die eigene Fehlbarkeit stärker in den Blick nimmt, verbietet sich ein solch auftrumpfender, selbstgerechter Ton von selbst, weil man die Vorläufigkeit der eigenen Überzeugungen ja immer schon mitdenken muss. Ich würde also immer für Nachsicht plädieren. Man sollte mit seinen Mitmenschen nachsichtig sein, weil man selber die Nachsicht bitter nötig hat. Ich habe in meinem Leben auch schon viel Unsinn erzählt, der sich am nächsten Tag als unhaltbar erwiesen hat; aber das ist die condition humaine, die Natur des Menschen … 
 
Sie identifizieren in Ihrem Tagebuch „Worthülsen“, mit der sich Empörte zu Wort melden. 
Alle Menschen sind gegen Worthülsen und gegen Phrasen, das ist bestimmt ein großer Konvent. Mein Punkt ist eher der, zu sagen, dass ein ganz zentraler Kernbestand des Kampfvokabulars in vielen Diskussionen tatsächlich nicht Begriffe des Empowerments sind, wie so gerne gesagt wird – sondern vielmehr reine Phrasen, die das Denken nicht vorantreiben, sondern ersetzen. Und das gibt es auf rechter wie auf linker Seite. Auf linker Seite ist alles „Rassismus“; auf der rechten alles „Meinungsdiktatur“, die einen reden von „Slut-Shaming“ oder „Victim Blaming“, die anderen von der „DDR 2.0“ oder von „Multi-Kulti“. Aber mit all diesen Worthülsen wird keine Argumentation und kein Gedankengang angestoßen. All diese Phrasen machen den Diskurs nicht interessanter, sie machen ihn nicht lebendiger, sie versehen ihn nur mit einem Etikett. Dieses Phrasen-Arsenal dient doch nur dazu, die Gemeinde der eh schon Bekehrten einzuschwören. Die nickt dann zustimmend, sowie sie diese Begriffe hört – das Nicken ersetzt ja immer das Denken -; aber den politischen Widerpart, den es eigentlich zu überzeugen oder wenigstens zur Nachdenklichkeit zu bringen gälte, den erreicht man durch dieses Phrasen-Gewitter natürlich gar nicht. „Preaching to the convertet“, das ist eine der langweiligsten und ödesten intellektuellen Übungen ... 
 
Warum nennen Sie eigentlich „Parteienverachtung eine der allergrößten Dummheiten“? 
Weil ich mir keinen anderen Prozess der kollektiven Organisation von politischen Interessen vorstellen kann als durch Parteiungen. Parteien werden gerne deswegen verachtet, weil ihr Streit als vulgär gilt. Allerdings ist die Entzweiung, die darin zum Ausdruck kommt, eine anthropologische Konstante. In der Geschichte der Menschheit gab es noch nie irgendeine Frage, über die es nicht möglich war, sich zu entzweien. Und erst aus dieser Entzweiung heraus entsteht fruchtbare politische Auseinandersetzung. Es gibt da den sehr schönen jüdischen Witz von einem Mann, der Schiffbruch erleidet, auf einer einsamen Insel landet und erst nach zehn Jahren gerettet wird. Als seine Retter die Insel betreten, sehen sie, dass der Mann drei Häuser gebaut hat. Sie fragen ihn nach dem Grund. Er sagt: „Im ersten Haus wohne ich. Das zweite Haus ist die Synagoge, in die ich gehe.“ Und was sei dann mit dem dritten Haus, wollen die Retter wissen. Der Mann antwortet: „Das ist die Synagoge, in die ich nicht gehe.“ Das heißt, dass der Mensch gewissermaßen auch immer die eine Synagoge braucht, in die er nicht geht; der Mensch braucht etwas, von dem er sich absetzen und das er gewissermaßen als des Teufels betrachten kann. 
 
Sie stellen auch fest: „Der neue Mainstream ist das Unterfangen, sich vom alten Mainstream absetzen zu wollen.“ Wie ist denn das gemeint? 
Wir haben früher immer versucht, unsere eigene Position zu bestärken, indem wir darauf hinwiesen, dass hinter ihr Mehrheiten stünden, dass man also keine Minderheitenposition vertritt. Das hat sich völlig umgekehrt. Das beobachte ich im Gespräch mit Freunden, mit Kollegen, das beobachte ich überall. Jeder, der heute eine Meinung vorträgt, schickt am liebsten die Worte vorweg: Ich weiß, dass ich damit eine Minderheitenmeinung einnehme, ich weiß, dass alle anderen das anders sehen, ich weiß, dass der Mainstream das anders sieht. Dieses Sich-Absetzen-vom-Mainstream ist mittlerweile selbst die Mainstream-Position geworden. Und das ist dann doch eine interessante Diskursverschiebung. Das können Sie auch bei anderen Begriffen beobachten. 

 

Ich finde den Zustand des totalen Konsenses einen unerträg­lichen.

Bei welchen denn? 
Na etwa beim Begriff des „Kritischen“. Früher war das Kritische eine dissidentische Haltung. Der Kritiker des Systems war ein Dissident abseits der gesellschaftlichen Mehrheit. Heute betrachten sich alle Menschen als Kritiker, heute sind alle „gesellschaftskritisch“. Auch der Begriff „Querdenker“, der aus einer klassischen linken Abweicher-Tradition stammt, ist mittlerweile Mainstream. Jeder ist Querdenker. Wir haben das letzthin in Berlin bei den Corona-Demonstrationen beobachten können, an diesem bunten Portfolio von Reichsbürgern bis Öko-Hippies, das sich da versammelt hat. Die bezeichnen und beschreiben sich ja allesamt als Querdenker. 
 
Aber wenn niemand mehr Mainstream sein will, wer ist dann eigentlich der Mainstream? 
Ja, das wäre interessant! Da habe ich auch keine klare Antwort. Vielleicht würde es sich für einen Menschen mit politischer Fantasie lohnen, den Mainstream neu zu erfinden. 
 
In Ihrem Buch findet sich auch folgende schöne Beschreibung der Gegenwart: „Je stärker sich das Selbstbild, eine pluralistische Gesellschaft zu sein, durchsetzt, desto weniger ertragen wir Abweichungen.“ 
Auf Twitter oder auf Facebook ist das bestens zu beobachten. Es geht mir dabei aber gar nicht einmal so sehr um die Meinungen oder die Positionen, die da verfochten werden; mir geht es darum, dass viele Menschen in diesen sozialen Medien Meinungen, die der eigenen nicht entsprechen, gar nicht mehr ertragen. Während man früher gesagt hatte: „Herausforderung! Lass‘ uns die Klingen kreuzen!“, lautet das Konzept heute, dem anderen erst gar keine Bühne mehr zu lassen, Stichwort „deplatforming“ und „Cancel Culture“: Der politische Gegner darf erst gar keine Bühne bekommen. Für mich, der ich eine große Freude am sportlich begriffenen Schlagabtausch habe, ist das eine dröge Vorstellung. Und die ist auch nicht gut für das Meinungsklima. 
 
Alles ereifert sich. Der ungerührte Mensch, der ist out? 
Ja. Das Cool-Sein, das Drüberstehen, dieses Stilideal des Dandys gewissermaßen, das scheint heute nicht mehr hoch im Ansehen zu stehen. 
 
Aber was wäre dann das Fazit? Keep cool? 
Keep cool fänd‘ ich gut. Absolut. 
 
Vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.