Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Ein Leben, zwei Worte: Tu’ etwas!

März 2019

Der Philosoph und Wirtschaftsvordenker Anders Indset (40), einer der „Diskurs-Zukunft“-Referenten in Bregenz, sagt im Interview mit „Thema Vorarlberg“:
„Wir müssen die verloren gegangene Kunst des Denkens wieder zum Leben erwecken.“ Ein Gespräch über die Zukunft, über Mensch und Maschine – und die letzte Religion der Menschheit.

Herr Indset, Sie haben einmal geschrieben: „Wir müssen wieder lernen, Fragen zu stellen.“

Wir leben in einem permanenten Reaktionsmodus, wir reagieren in dieser Phase der fatalen Informationsgesellschaft nur noch auf Impulse und verlassen uns dabei auf die Technologie. Aus diesem permanenten Dopamin-gesteuerten Junkie-Modus müssen wir raus. Wenn der Mensch sich nur noch blind auf Daten und Algorithmen verlässt, dann kann er sein Urteilsvermögen weder einschalten noch einsetzen. Natürlich ist es gut, viele Informationen und eine große, validierte Datengrundlage zu haben, aber Fortschritt werden wir nur erzielen, wenn wir Technologie mit menschlichem Urteilsvermögen paaren.

Und dieses Urteilsvermögen, das ist verloren gegangen?

Unsere Gefühle, unsere Gedanken, unser Denkvermögen, all das haben wir verloren, wir leben nur noch in Automatismen. Der Mensch mag einen Marathon rennen können und körperlich fit sein, das ist wichtig, aber der Mensch sollte auch tiefe Kniebeugen für sein Gehirn machen. Wir sollten uns auch Zeit nehmen für unser komplexes Ding da oben, für unsere Rübe. Es wird Zeit, dass wir anfangen, unser Gehirn zu trainieren. Es wird Zeit, dass wir wieder lernen zu denken. Mit einer Denkstunde pro Woche, bei der man sich nichts vornimmt, sich nur einmal hinsetzt und meinetwegen ein leeres Blatt Papier betrachtet. Und wenn man zunächst nur vor sich starrt, bis einem die Augen anfangen zu bluten, irgendwann beginnt man nachzudenken ... Wir müssen die verloren gegangene Kunst des Denkens wieder zum Leben erwecken.

Sie wollen, auch das haben Sie geschrieben, „in Vergessenheit geratene Werte und Werke der Philosophie in das 21. Jahrhundert projizieren“.

Egal, wie wir uns drehen und wenden, wir kommen häufig zu Kant, zu Hegel, zu Heidegger zurück, zu all diesen gigantischen Vordenkern. Nur ist es schwer, in diesen langen komplexen Sätzen die Quintessenz dessen zu entdecken, was wir heute auch anwenden könnten. Wir wissen natürlich, dass es all diese Denker gab, das ist nicht das Problem, aber wir haben vergessen, was in ihren Werken steht und was damit vor langer Zeit schon einmal gedacht worden ist. So wie ich die Philosophie lebe, möchte ich sie anwendbar machen. Ich möchte die Quintessenz der Philosophen praktisch nutzbar machen. Wir können diese unglaublichen Gedanken dieser genialen Vordenker heute nutzen, um unsere Gesellschaft zu verbessern und die Zukunft zu gestalten. Allerdings ist die höchste Komplexität im 21. Jahrhundert die Einfachheit. Und deswegen müssen wir aus diesen komplexen Werken der alten Vordenker die Essenz simplifizieren – und damit anwendbar machen. 

Es wird Zeit, dass wir wieder lernen zu denken.

Auf dass wir nachdenken, was wir eigentlich wollen?

Ob der Mensch tatsächlich einen freien Willen hat, das ist eine komplexe Frage, über die wir lange philosophieren können – und wenn wir einen haben, dann nur ganz begrenzt. Aber zweifelsohne nehmen wir vieles auf, an Sinneserfahrungen, an Erlebnissen, an Wissen. Und aus dieser subjektiven Wahrnehmung, aus unseren Beobachtungen, können wir neue Realität gestalten und damit auch unsere Zukunft gestalten. Nur: Wir müssen uns mehr auf die Schliche kommen. Es gibt nicht den einen Weg. Es gibt mehrere. Es gibt mehrere potenzielle Realitäten, die wir gestalten können. Und das ist die Sache mit den Zielen. 

Sie kritisierten in Bregenz Auswüchse des Kapitalismus. Ist der Mensch auf einem Irrweg? 

Wir glauben immer, etwas darstellen zu müssen, wir glauben immer, uns mit anderen vergleichen zu müssen. Wir haben die Maslowsche Pyramide, die menschliche Bedürfnisse und Motivationen erklärt, so breit ausgelegt, dass wir mittlerweile irrigerweise meinen, ein Ferrari als Zweitauto und eine Yacht für jeden wäre ein Grundbedürfnis des Menschen. Das ist frustrierend. Aber die Sache geht wesentlich tiefer. Ich würde nicht sagen, dass der Mensch auf einem Irrweg ist, ich würde eher sagen, dass dem Menschen überhaupt ein Weg fehlt, eine übergeordnete Leitidee. Das aber ist auch eine Frage der Generationen. 

Eine Frage der Generationen? Inwiefern?

Die ältere Generation, die ab Mitte 50 und aufwärts, gibt nochmals alles. Aber in der jüngeren Generation beobachte ich sehr viele verunsicherte Menschen – in einem Alter, in dem man eigentlich eine Familie gründen und beginnen sollte, Kapital für das spätere Leben zurückzulegen, sich also Stabilität aufzubauen, zweifeln viele. Da beobachte ich eine Generation, die so ein bisschen die Hoffnung in den Kapitalismus verloren hat, weil der Kapitalismus sie im Stich gelassen hat. Und die moderne Medizin in Form von Social Media, der man sich hingibt wie der Junkie dem Rausch, die lenkt nur vom Alltag mit all seinen Problemen ab. Wir haben ein gesellschaftliches Problem, weil diese Generation zwanghaft versucht, an ihrer Jugend festzuhalten und nicht erwachsen wird. Man darf heute nicht erwachsen werden, man kann heute gar nicht mehr erwachsen werden. Es gibt diese Reife nicht mehr. Doch ist das kein Irrweg. Es ist ein Mangel an Perspektive. 

Sie sagten ja in Bregenz: „Wir haben eine Maschine geschaffen, die alles kann und alles hat. Aber der Kompass fehlt.“

Der Kompass ... Wir müssen jetzt anfangen, ein höheres Bewusstsein zu bekommen. Wir brauchen eine Bewusstseinsrevolution, wir brauchen eine neue Leitidee, um die Gesellschaft besser verstehen und auch gemeinsam gestalten können. Und wenn wir die Gesellschaft besser verstehen wollen, muss der erste Schritt lauten, die Wirtschaft neu zu denken. Wir brauchen eine ökonomische Motivation, um den Wandel herbeizuführen. Wir brauchen eine neue Leit­idee für unseren unvollendeten Kapitalismus, ich beschreibe das in meinem neuen Buch „Quantenwirtschaft“. Diese neue Leitidee muss über die Wirtschaft kommen. Und wir dürfen uns da keiner Illusion hingeben: Es wird kein Messias kommen, der uns aufklärt und den Weg vorgibt. Wir sind alle gefordert. Wir alle müssen etwas machen und uns trauen, die Wirtschaft und die ökonomische Motivation neu zu denken. Das ist wesentlich. Denn der Kapitalismus ist, wenn Sie so wollen, die letzte Religion, die wir noch haben. 

Ist nicht blinde Technologiegläubigkeit die neue Religion?

Die Technologie ist das Göttliche, der Kapitalismus ist unsere Religion. Wir versuchen, in der Technologie einen Gott zu bauen. Wir versuchen, Glückseligkeit und Unsterblichkeit in der Technologie abzubilden. Wir glauben noch an den Kapitalismus, aber das Göttliche, das suchen wir in der Technologie. Das ist „Deus ex Machina“, der Gott aus einer Maschine. Und die Frage ist dabei nicht, ob wir einen Gott bauen können, die Frage ist vielmehr, ob wir einen digitalen Supergott bauen wollen. Wir brauchen eine bewusste Entscheidung darüber, wie weit wir da gehen wollen. Ich sage: Das wäre fatal für die Menschheit, das würde mit Sicherheit das Ende unserer humanistischen Basis bedeuten.

Wenn die Maschine, wie Sie ja sagten, alles besser kann als der Mensch, was ist dann?

Möchten Sie irgendwann einmal jemandem begegnen, der alles besser kann als Sie und Ihnen die Frage stellt: „Andreas, stört es Dich, wenn ich nicht ganz Mensch bin?“ Das heißt nicht, dass das automatisch kommt, es ist aber ein Szenario, das genauso plausibel ist wie jedes andere. Denn alles, was die Menschen geschaffen haben, sind nur Geschichten. Das sind nur Storys, an denen wir uns festklammern. Die Wirtschaft, ihre Produkte, die Börse, das Bargeld, das gesamte kapitalistische System, wir wissen, dass es nicht perfekt ist, aber all das funktioniert, weil es in unseren Köpfen existiert. Aber was ist, wenn wir nun all diese Geschichten in Algorithmen packen? Wenn genügend Menschen sagen, dass wir das tun sollen? Weil eben Algorithmen alles besser können?

Was ist dann?

Dann würde der Wandel sehr schnell passieren. Wir würden Autoritäten und Macht von Menschen zu Algorithmen verlagern. Der Mensch wäre der zweite Sieger. Wir wären nur noch die zweit­intelligenteste Spezies. Und zu glauben, dass wir mit unseren Affengehirnen in der Lage sind, eine Superintelligenz mit einem Intelligenzquotienten von 2000 und 3000 zu konstruieren und die auch noch kontrollieren zu können, das ist ein fataler Irrtum. Daher lautet mein Appell, dass wir aufpassen müssen und auch in den nächsten zehn Jahren zu entscheiden haben, welche Zukunft für uns denn erstrebenswert ist. Wir alle müssen uns damit beschäftigen. Denn die Frage, was nach der 
Digitalisierung kommt, ist eine existenzielle philosophische Frage – die vergleichbar ist mit der Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Und es ist die Frage, ob der Mensch eines Tages zum „Homo Obsoletus“ wird, zum überflüssigen Menschen.

Die Frage ist nicht, ob wir einen Gott bauen können, die Frage ist vielmehr, ob wir einen digitalen Supergott bauen wollen.

Ergo braucht es Aufklärung? Eine mutige, eine echte?

Genau, wir brauchen heute eine Renaissance der Denker. Hätten wir ein höheres Verständnis, würden wir nicht jeder dogmatischen Sache sofort hinterherspringen, nein, wir würden den Skeptizismus einsetzen und Sachen hinterfragen. Warum ist das so? Warum muss das so sein? Aber wie klärt man Menschen auf, dass sie eine Aufklärung brauchen? Das ist ein sehr langer und sehr mühsamer Weg, den wir da gehen müssen. Aber wir müssen ihn gehen und uns von einer Wissensgesellschaft in eine Verstandesgesellschaft transformieren – eine Gesellschaft, in der die Menschen Sachverhalte und Zusammenhänge besser verstehen und damit auch besser beurteilen können. Denn heute haben wir mehr Wissen, aber weniger Verstand denn je zuvor.

Eine Bewegung schaffen, ein neues Verständnis, für das, was da kommt! Welchen Eindruck hatten Sie da eigentlich vom Diskurs Zukunft in Bregenz?

Bregenz? Ich war sehr positiv angetan von dieser geballten Kraft und der Aufbruchsstimmung, die dort herrschte. Da haben sich über eintausend Menschen an einem Mittwochabend versammelt, um eine Vision, eine Leitidee präsentiert zu bekommen. Ich glaube, dass die Region über sich hinauswachsen kann durch die geballte Kraft dieser vielen Menschen, die da an einer gemeinsamen Richtung und in eine gemeinsame Richtung arbeiten wollen. Dieser Region steht eine positive Zukunft bevor …

Wenn denn auch die Politik diese Vision, den Diskurs Zukunft, zu teilen beginnt.

Wenn genug Kraft da ist, wenn eintausend Leute an eine Idee glauben, dann wird sich diese Idee auch sehr schnell in einer Region verbreiten. Und das heißt dann für die Politik auch: Bist du dagegen, hast du keine Stimmen. Also wird auch die Politik ziemlich zügig nachziehen, so funktionieren diese Systeme. Auch wenn wir uns wünschen würden, dass von der Politik selbst mehr Gestaltung kommt und mehr Mut, mehr Mut zur Veränderung. Aber die Politik zeichnet sich in unserer Pseudodemokratie mehr durch egozentrische Agenden und weniger durch den Willen aus, Gestalter des Wandels sein zu wollen …

Tja. Das neue Zeitalter werde dennoch das Zeitalter des Menschen sein, haben Sie im „Handelsblatt“ formuliert. Ein schöner Satz …

Die Technologie hat keine Agenda, sie macht diese Welt von alleine weder schlecht noch gut. Was wir aber alle in den nächsten Jahren verstärkt erkennen werden, ist die Tatsache, dass wir alle einen inneren Philosophen haben. Wir werden uns in dieser immensen technologischen Entwicklung immer stärker mit der Frage beschäftigen, was es heißt, ein Mensch zu sein und welche Zukunft für uns erstrebenswert ist. Die Menschen sehnen sich nach Tiefgang, nach tiefen Gesprächen. Und ich hoffe und ich glaube auch, dass wir deshalb eine neue Blüte der Menschheit, eine neue Blüte des Humanismus erleben können.

Und das Fazit? Wie lautet das Fazit?

Wir sprechen über die Zukunft, wir sprechen über die Digitalisierung, wir sprechen über die digitale Transformation. Das sind alles abstrakte Gebilde, die für mich keinen Sinn machen. Die digitale Transformation hat kein Ende, wir transformieren uns nicht zu irgendetwas. Aber: Jeder Mensch heute hat ein deutlich größeres Potenzial, als er sich selbst zumutet. Der Einfluss auf die eigene Realität ist viel größer als das, was man gemeinhin annimmt. Und wir können aus unserer Geschichte lernen. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard hat so treffend gesagt: „Verstehen kann man das Leben rückwärts, leben muss man es aber vorwärts.“ Also: Wir haben ein Leben, und da geht es um zwei Worte: Tu’ etwas! Denn Zukunft ist das, was wir daraus machen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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