Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Eine Art des Wahnsinns“

April 2021

Ariadne von Schirach (42) sagt im Interview, dass die Gesellschaft psychotisch geworden sei, der Mensch habe durch die umfassende Ökonomisierung des Lebens existenzielle Gewissheiten verloren.
Ein Gespräch mit der Bestseller-Autorin über Erregungszustände in der Pandemie, den „widerlichen Ausdruck“ der Systemrelevanz – und „die dauerhafte Anwesenheit einer sinnlosen anderen Welt“.
Ariadne von Schirach spricht auf den „Tagen der Utopie“, die demnächst in Vorarlberg stattfinden.

Frau von Schirach, Sie hatten 2019 gesagt, dass die Gesellschaft psychotisch geworden sei. Hat die Pandemie das, was Sie damals diagnostiziert hatten, weiter verstärkt?
In einem psychotischen Sinn verrückt zu sein heißt, dass man den Kontakt zur Realität verloren hat und damit auch den Sinn, den man seinem Leben geben kann. Und den wir unserem Zusammenleben geben können. 2020 war ein verrücktes Jahr, und 2021 hat nicht viel besser angefangen. Auch im Umgang mit der Pandemie zeigen sich psychotische Elemente: Erregungszustände, verkörpert von der lauten und oft auch manipulativen medialen Berichterstattung. Wahnideen wie krude Impfverschwörungstheorien. Störungen des Wir-Erlebens durch Leute, die Corona schlicht leugnen. Und mangelnde Krankheitseinsicht angesichts politischer Kurzsichtigkeit und Kommunikationsverweigerung – bei immer stärker werdender gesellschaftlicher Spaltung. Corona wirkt wie ein Brennglas für gesellschaftliche Missstände, das Vorhandenes sichtbarer macht.

Sie sprechen von bereits vorhandenen Bruchlinien in der Gesellschaft.
Ja. Für jemanden, der mit Kindern in einer engen Sozialwohnung lebt, war und ist ein Lockdown eine andere Erfahrung als für den, der in einer großzügigen Altbauwohnung in der Mitte der Stadt logiert. Dass bestimmte Berufe viel zu schlecht bezahlt und viele Menschen weit abgehängt sind, hat man auch vorher gewusst. Neu ist, dass wir in der Pandemie begonnen haben, zu definieren, was systemrelevant ist und was nicht.

Stört Sie der Ausdruck „systemrelevant“, der Menschen und Berufe in relevante und irrelevante einteilen will?
Das ist ein widerlicher Ausdruck, der politisch allerhöchstens zu rechtfertigen ist, um den Ausnahmezustand einer Pandemie zu organisieren. Ganz davon abgesehen, dass ich Kunst und Kultur für supersystemrelevant halte, bleibt auch bei Menschen, die sich beispielsweise um Kinder, um Kranke oder um Alte kümmern, die Frage: Warum sind und bleiben diese nun offiziell systemrelevanten Berufe trotzdem so schlecht bezahlt? Aber das ist nicht das einzige Paradoxon dieser Zeit: Wir stoppen alles, um in unserer Gesellschaft Leben zu retten, während im Mittelmeer immer noch Menschen ertrinken. Aber die sind offenbar nicht systemrelevant, die sind nicht einmal für irgendjemanden relevant. Das ist doch psychotisch. Die Maßstäbe, wessen Leben bewahrt werden soll, sind nicht nachvollziehbar.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es „die Auflösung des Allgemeinen“ sei, die zu dieser psychotischen Gesellschaft geführt habe. Die Auflösung des Allgemeinen?
Wir haben damit begonnen, Fakten durch Deutungen zu ersetzen. Wortschöpfungen wie Fake-News verweisen auf einen fundamentalen Zweifel an der Wirklichkeit. Doch wenn Wahrheit und Lüge, Fakt und Fiktion ununterscheidbar werden, erodieren die Grundfesten unserer Welt. Es gibt Deutungen, wo es keine Deutungen geben kann. Allein darüber zu diskutieren, ist eine Art des Wahnsinns. So wenig, wie man darüber diskutieren muss, ob an Corona Menschen sterben oder ob die Erde nicht doch eine Scheibe ist, so wenig muss man doch darüber diskutieren, was im Leben wirklich wichtig ist. Aber wir scheinen es vergessen zu haben, stattdessen ist die Antwort auf alle Fragen: Geld. Mehr Geld. Noch mehr Geld. Die daraus resultierende unendliche Ausbeutung erzeugt die dauerhafte Anwesenheit einer sinnlosen anderen Welt, die von unendlicher Verwertung und unendlicher Geschwätzigkeit bestimmt ist.

Eine sinnlose andere Welt?
Es ist eine Welt, in der ständig etwas produziert wird, das niemand braucht, und in der man sich ständig selbst produziert, ohne dass das jemanden interessiert. Wir verlieren unsere Gleichheit auf der Suche nach immer neuen Identitäten. Wir vergessen, dass uns Menschen mehr verbindet als trennt, wir vergessen, dass wir Kinder gut behandeln sollen, wir vergessen, wie wir mit Schwachen, Alten, Kranken und Fremden umzugehen haben. Wir verlieren die existenziellen Gewissheiten, was der Mensch ist und was der Mensch mit seinem Leben anstellen soll. 

Sie machen für den psychotischen Zustand der Gesellschaft maßgebend „die umfassende Ökonomisierung der Welt“ verantwortlich.
Die Ökonomisierung von allem, was wir kennen, ist eine Wette auf die Zukunft, die man verrät, um in der Gegenwart Geld zu machen. Der Soziologe Niklas Luhmann definiert eine Krise als Zustand, in dem ein gesellschaftliches Subsystem anfängt, alle anderen Systeme zu vereinnahmen. Er warnte vor den fatalen Folgen, dass in einem solchen Fall aus einer sehr beschränkten Perspektive plötzlich alle existenziellen Angelegenheiten geregelt werden sollen. Heute erleben wir die Totalität des ökonomischen Subsystems. Es geht nicht mehr darum, ob etwas gut, schön oder gerecht ist, es geht nur noch darum, ob etwas profitabel ist. Alle Entscheidungen sind diesem ökonomischen Denken untergeordnet. Doch dieses Denken höhlt die Strukturen des Wirklichen und des Angemessenen aus. Wir führen Universitäten wie Unternehmen, wir betreiben ein Hospiz mit Gewinnerwartung, wir versuchen, Kunst und Kultur zur Ware zu machen. Die Interessen weniger bestimmen das Schicksal vieler, und Corona hat die Reichen nur noch reicher gemacht. Das ist grotesk. Alle wissen das. Nichts passiert. 

Die sozialen Medien sind kostenlos. Aber wir sind ihre Produkte.

Weil das Spiel schon entschieden ist?
Ich glaube nicht, dass das Spiel schon entschieden ist, obwohl es entlastend ist, davon auszugehen. Doch eine psychotische Gesellschaft beschreibt einen Übergangszustand. Das Alte ist noch nicht überwunden und das Neue noch nicht geboren. Doch die Zukunft ist nicht vorgegeben, sondern offen, fluide. Wer beobachtet, verändert das Beobachtete. Deswegen ist es wichtig, dass man Hoffnung hat. Und Zuversicht. Ich glaube, dass wir in apokalyptischen Zeiten leben, denn Apokalypse bedeutet: Offenbarung. Alles tritt ans Licht und will verwandelt werden – von der ungerechten Verteilung von Reichtum über gesellschaftliche Missstände wie Sexismus, Rassismus oder Queerfeindlichkeit hin zu den ökologisch fatalen Folgen unserer profit- und konsumgetriebenen Lebensweise. Wir müssen uns endlich wieder den Realitäten des Lebens stellen. Denn nach Corona ist vor der Klimakrise.

Ihr Buch liest sich auch, die Betonung liegt auf auch, als Kritik an den Medien …
Die Medien sind Profiteure und Beschleuniger, Ankläger, aber auch Opfer. Was dem Markt der Profit ist, ist ihnen die Aufmerksamkeit. 

Besonders aber kritisieren Sie die sozialen Medien, respektive den Stellenwert, den die Menschen diesen Medien beimessen.
Die sozialen Medien vermischen beides, Profit und Aufmerksamkeit, Selbstdarstellung und Selbstausbeutung. In Silicon Valley sagt man: Wenn du nicht für das Produkt bezahlst, bist du das Produkt. Die sozialen Medien sind kostenlos. Aber wir sind ihre Produkte. Dass es etwas umsonst gibt, ist eine der Illusionen, von denen wir uns verabschieden müssen. Naja, die Liebe ist umsonst. Und der Tod. Doch die sozialen Medien kosten unser Leben, unsere Lebenszeit, indem sie eine Illusion von Unsterblichkeit erzeugen, eine Illusion eines schmerzfreien Lebens, eine Illusion von Relevanz. Ganz davon abgesehen, dass viele der reichsten Männer der Welt ihr Geld mit genau diesen Illusionen verdienen. 

Wir haben damit begonnen, Fakten durch Deutungen zu ersetzen.

Sie formulieren da so schön: „Alles bedeutet etwas und nichts zugleich, es gibt keinen Abstand, keine Reflexion, keine Distanz, keinen Geist“ …

Das beschreibt die Welt der sozialen Medien und auch die Welt der Medien, die davon bestimmt sind, dass immer weiter geredet und gezeigt und produziert wird, ohne dass jemals etwas Reales passiert. Gerade diese Unablässigkeit ist der Motor der Verzauberung, denn ein Moment der Distanz würde ja dazu führen, dass es etwas bedeutet, was gesagt wird. Sagen Sie, brennt der Regenwald eigentlich noch? Das ist eines der relevantesten Themen der Welt, und ich habe nie wieder etwas davon gehört. Natürlich gibt es immer noch objektiven und kritischen Journalismus, der wichtiger ist denn je. Aber in ihrer Gesamtheit erscheinen die Medien als Mitproduzenten und -profiteure jener „sinnlosen anderen Welt“, die nur Erregung, aber keine Erlösung mehr kennt. Denken braucht Zeit, aber alles ist viel zu schnell geworden. Der wache Geist ist immer der abwägende, der zweifelnde Geist, für Descartes war der Zweifel die erste Gewissheit. Aber wir wollen ja nicht mehr nachdenken, wir wollen unsere Zeit lieber mit Quatsch verschwenden. 

Hat der Mensch sich selbst verloren?
Im Unbestimmten?

Der Mensch neigt dazu, sich zu verlieren und sich wieder zu finden. Aber es ist gewiss, dass man Zeit braucht, um sich zu besinnen und dem Leben einen Sinn zu geben. Noch leben wir in einer verrückten Illusion der Unendlichkeit – unendliches Wachstum, unendlicher Profit, unendlicher Spaß. Von diesen Illusionen müssen wir uns verabschieden. Zum Leben zurückzukehren heißt, unsere Sterblichkeit anzuerkennen, unsere Verbundenheit, unsere Verantwortung. 

Sie sagten in einem Interview, Mensch zu sein, bedeute, sich immer wieder neu entscheiden zu müssen. Könnte, sollte das das Fazit unseres Gesprächs sein?
Mensch zu sein heißt, sich zu fragen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Die Zukunft ist offen, weil wir in jedem Moment entscheiden können, woran wir festhalten, was wir verwerflich finden und womit wir unsere Zeit verbringen. Wir müssen immer wieder neu auf unser Hiersein antworten und unser Leben dadurch zugleich verantworten. Das ist kein Kopfkino, sondern ein Dialog mit dem, was gerade mit uns ist. Der Psychologe Viktor Frankl spricht an dieser Stelle von der Forderung der Stunde, und der Mensch hat in der Tat einen Sinn für die Forderung der Stunde – wenn er nicht allzu abgelenkt ist. Wir wissen, wann wir zuhören sollen, uns engagieren müssen oder die Stille genießen dürfen. Wir haben einen Sinn für den Sinn, wir müssen uns nur entscheiden, ihn wieder zu gebrauchen. Die Zukunft ruft uns.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

 

Tage der Utopie – Festival für eine gute Zukunft 2021

Unter anderem mit Ariadne von Schirach, Ilija Trojanow und Lasse Rheingans.

Montag, 26. April bis Samstag, 1. Mai 2021. Wenn coronabedingt möglich, vor Ort in der Kulturbühne AMBACH und in Arbogast, Götzis – und in jedem Fall als Live-Stream.
Anmeldung zum Festival: tagederutopie.org

Für Online-Teilnehmende übertragen wir jeden der sechs Abende als moderierten Live-Stream mit der Möglichkeit via Chat-Funktion Fragen an die Sprecherinnen und Sprecher zu stellen. Sie erhalten einen Zugangslink zum jeweils gebuchten Abend. Im Falle eines Lockdowns werden auch die vor Ort-Tickets in Online-Zugänge umgewandelt.

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