Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Empörung ersetzt nicht das politische Argument“

Februar 2023

Auf Einladung von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka hatte der deutsche CDU-Politiker Wolfgang Schäuble (80) die Festrede anlässlich der Wiedereröffnung des österreichischen Parlaments gehalten. Schäuble sprach 25 Minuten, ein Teil seiner Rede wurde tags darauf von den Grünen und von anderen scharf kritisiert. So sprach die grüne Klubobfrau Sigrid Maurer von „ideologiegetriebenen Vorstellungen“ Schäubles, „vom Klimawandel bis hin zur Geschlechtergerechtigkeit“. Unten angeführt ist jener Teil der Rede, auf den sich Maurers Kritik bezogen hatte. War diese Rede tatsächlich „ideologiegetrieben?“ Urteilen Sie selbst!

Wir brauchen eine Kultur des Zuhörens, die Bereitschaft, den Blickwinkel des jeweils anderen mitzudenken, ins Gespräch zu kommen, nicht von vornherein auszuschließen, dass der andere auch recht haben könnte. Und: Wir müssen uns viel stärker darum bemühen, den anderen überhaupt zu erreichen. Und vor allem brauchen wir wirkungsvolle Antworten darauf, wie wir gesellschaftliche Gruppen, die sich längst nur noch aus Quellen informieren, die gar kein Interesse am demokratischen Diskurs haben, zurückholen in unsere Öffentlichkeit.
Wir haben diese verhärteten Fronten in der Debatte über die Pandemie erlebt. Wer die Maßnahmen verteidigte, oder noch schärfere Beschränkungen forderte, wurde angefeindet und ebenso derjenige, der die Pandemiepolitik in Zweifel zog. Für eine differenzierte Haltung, für das Anhören der anderen Meinung, blieb wenig Raum.
Schon in den 80er Jahren beobachtete der Philosoph Hermann Lübbe die Neigung, die moralische Integrität des Gegenübers anzuzweifeln, statt seiner Argumentation zu widersprechen. Das ist bequem. Aber Empörung ersetzt nicht das politische Argument und nicht die notwendige Auseinandersetzung.
Nicht jeder, der die Pandemie-Maßnahmen hinterfragt, ist ein Verschwörungstheoretiker, nicht jeder, der sich wegen der Aufnahme von Flüchtlingen sorgt, ein inhumaner Fremdenfeind und nicht jeder, der die europäischen Klimaziele anzweifelt, ein sogenannter Klimaleugner. Wir sollten Acht geben, legitime Positionen nicht aus dem Diskurs zu drängen, auch nicht unter der Geltendmachung von Moral oder Identitäten, die sich ja bekanntlich schlecht verhandeln lassen. 
So entschieden sich die parlamentarische Demokratie gegen jegliche Angriffe auf ihre Regeln und Verfahren wehren muss, so offen muss sie für gegensätzliche Ansichten bleiben. Sie braucht ein maximales Maß an Duldsamkeit gegenüber anderen Meinungen, solange diese nicht den grundlegenden Werten widersprechen. Wenn ich für Gleichberechtigung eintrete, kann ich dennoch Vorbehalte gegenüber dem Gendersternchen haben, das Binnen-I ablehnen oder mich auch für den grammatikalischen Unterschied zwischen „dem Leser“ und „dem Lesenden“ stark machen. 
Politik lässt sich nicht durch Moral ersetzen, auch nicht durch Wissenschaft. Fakten allein ergeben noch keine Politik, abgesehen davon, dass es auch in der Wissenschaft endgültige Wahrheiten nicht gibt, und wissenschaftlicher Fortschritt zumeist in der Falsifizierung bis dato gültiger Auffassungen besteht. Aber abgesehen davon, darf es in der Politik nicht so leicht endgültige Wahrheiten geben, weil damit ja die Freiheit künftiger Entscheidungen untergraben würde. Welche Lösung vernünftiger ist als eine andere, ergibt sich nicht allein aus Fakten, sondern eben auch aus Bewertungen. Und die unterscheiden sich. Alles andere wäre das Ende des Politischen. Und Legitimität erzielt die Demokratie durch beides, durch sachgerechte Lösungen und ihr verfassungsrechtlich gesichertes Verfahren der Mehrheitsentscheidung. 
Dass wir beispielsweise dem Klimawandel entgegen wirken müssen, lässt sich doch nicht ernsthaft bezweifeln. Das entlässt uns aber nicht aus der Pflicht, über den besten Weg zu streiten, gegenläufige Interessen auszugleichen und Mehrheiten zu überzeugen. Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie nicht nur gegen das demokratische Prinzip in Stellung, sondern auch gegen die Kompliziertheit sachgerechter Lösungen.
Zum Beispiel, wenn politische Mehrheiten den vermeintlich besten Weg etwa zur Reduzierung der Umweltbelastung durch den Straßenverkehr festlegen, anstatt für neue technologische Lösungen offen zu bleiben.
Sehr geehrte Damen und Herren, zur freiheitlichen Demokratie gibt es keine bessere Alternative, jedenfalls keine, die sich mit unseren Werten verträgt. Allerdings gilt sie nicht mehr unhinterfragt als das bessere Modell. Die Demokratie muss sich beweisen, auch im Wettstreit mit autoritären Staats- und Gesellschaftsmodellen, die mit einem Effizienzversprechen für sich werben, ohne auf Freiheit und Menschenrechte, auf rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien Rücksicht zu nehmen.
Sollten wir aber selbst zweifeln an der Überlegenheit unserer Demokratie, die das Erbe der westlichen Freiheitsgeschichte ist, dann sollten wir doch bedenken, dass die meisten Menschen auf dieser Erde, die nicht das Glück haben, in freiheitlicher Demokratie und mit dem Schutz der Würde jedes Menschen zu leben, sich genau danach sehnen. 

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