
Familie ist auch Improvisation
Trotz des laufenden Ausbaus der Kinderbetreuungseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter gibt es in Vorarlberg noch immer erhebliche Defizite. Neben Verbesserungen auf struktureller Ebene braucht es vor allem eines: ein neues gesellschaftliches Verständnis, dass Kinder nicht „abgeschoben“ werden, sondern von einer qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung neben der Familie profitieren.
Es ist nicht die leichteste Entscheidung, die Eltern zu treffen haben. Wer sich zu einer außerfamiliären Betreuung seines Kindes vor dem dritten Lebensjahr durchringt, hat neben diesem emotionalen Entschluss auch mit den infrastrukturellen Gegebenheiten zu kämpfen.
Realität ist, dass Eltern aus wirtschaftlichen Gründen oft keine andere Wahl haben, als ihre Kinder fremdbetreuen zu lassen. Viele Frauen möchten sich durch eine eigene Berufstätigkeit ihre Unabhängigkeit bewahren, sie sind aber auch aus finanziellen Gründen teilweise dazu gezwungen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Eltern oder Alleinerziehende, die dabei auf eine private Kinderbetreuung im Kreise der Verwandtschaft oder der Freunde zurückgreifen können, dürfen sich glücklich schätzen. Doch nicht allen steht die Oma- und Opa-Generation als Stütze zur Verfügung.
So erweist sich gerade die Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen als der wichtigste Faktor für die Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben und damit als Strategie gegen Armut. Die Verbesserung des Zugangs von Frauen zum Arbeitsmarkt ist wiederum gleichbedeutend mit der Verbesserung des Fachkräfteangebots und bietet den Unternehmen die Möglichkeit, sich personell möglichst gut auszustatten. Gleichzeitig ergeben sich im Bildungssystem Beschäftigungseffekte im Rahmen der Kinderbetreuung. Außerdem zeigt sich, dass Länder mit guten Kinderbetreuungsangeboten höhere Geburtenraten und mehr Frauen in Führungspositionen aufweisen.
Der Weg, den Österreich in dieser Frage trotz dieser EU-weiten Erkenntnis eingeschlagen hatte, war lange Zeit ein anderer. Statt die Kinderbetreuungsplätze auszubauen, wurden lange Karenzmodelle eingeführt. Das Ziel war klar: Mütter sollten zuhause bei ihren Kindern bleiben. Obwohl in Österreich sehr viel Geld für Familien zur Verfügung gestellt wird, „sind wir bei der Kinderbetreuung Schlusslicht und in der Geschlechterrolle sehr traditionell“, konstatiert selbst Familienministerin Sophie Karmasin. Österreich gibt fast 80 Prozent für Geldleistungen wie die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag aus. In Sachleistungen wie Betreuungsplätze fließt nur knapp ein Fünftel des Geldes.
Nun stellt der Bund den Ländern bis 2017 für den weiteren Ausbau der institutionellen Kinderbetreuung insgesamt 305 Millionen Euro zur Verfügung. Auf Vorarlberg entfallen davon über 15 Millionen Euro. Gefördert werden unter anderem Investitionen zur Schaffung neuer Gruppen und zur räumlichen Qualitätsverbesserung für bestehende sowie Personalkostenzuschüsse für neue Gruppen bzw. für die Verlängerung der Öffnungszeiten.
Bedarfs- versus angebotsorientiert
Vorarlberg ist jahrzehntelang eine bedarfsorientierte Politik in Sachen Kinderbetreuung gefahren. Das bedeutet nichts anderes als eine Ausweitung des Angebots erst bei entsprechender Nachfrage. Ein durchaus logischer Weg, der allerdings kurzfristigen Veränderungen in der Arbeitswelt nicht immer gerecht wird.
Dieser Ansatz entstammt einem ideologisch geprägten Mutterideal. Ziel der bürgerlich-konservativen Kräfte des Landes war es stets, die familiäre Betreuung zu stärken und die Eltern nicht bevormunden zu wollen. Für Soziallandesrätin Katharina Wiesflecker ist klar: „Ein gut ausgebautes Angebot an Kinderbetreuung ermöglicht vielen Familien die Wahlmöglichkeit zwischen der Betreuung zu Hause und/oder in einer guten und professionellen Einrichtung. Untersuchungen zeigen, dass diese beiden Möglichkeiten sich nicht gegeneinander ausspielen, sondern sich ergänzen. Die Betreuung außer Haus ist für viele Kinder eine gute Möglichkeit, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen. Dadurch wird soziales und sprachliches Lernen gefördert.“
Erst nach und nach hat sich in der außerfamiliären Kinderbetreuung ein vielfältiges pädagogisches Angebot entwickelt. Das meiste davon geht aber auf private Initiativen (etwa Spielgruppen) von engagierten Eltern, Ehrenamtlichen und Betrieben zurück. So langsam herrscht auch Konsens darüber, dass eine außerfamiliäre Betreuung keine Gefährdung für die Eltern-Kind-Beziehung darstellt und als Entwicklungschance gesehen wird, besonders für Einzelkinder.
Kontinuierlicher Ausbau
Tatsächlich ist in Vorarlberg ab dem Jahr 2000 sehr viel in Bewegung gekommen. Das hält auch Susanne Feigl im Vorarlberger Gleichstellungsbericht fest: „Die Betreuungsquote der Dreijährigen ist in Vorarlberg laut Bundesstatistik* deutlich angestiegen, allein zwischen den Kindergartenjahren 2006/07 und 2012/13 von 48,8 auf 77,3 Prozent, also um 28,5 Prozentpunkte. Während Vorarlberg 2006/07 bei den Dreijährigen noch die niedrigste Betreuungsquote aller Bundesländer hatte, ist diese in Vorarlberg inzwischen höher als in den Bundesländern Kärnten und Steiermark.“ Laut Berechnungsmethode der Landesstatistik weist Vorarlberg eine aktuelle Betreuungsquote der Dreijährigen von 91,3 Prozent auf. Seit 2008 sind aufgrund einer Novellierung des Kindergartengesetzes Kindergärten für Kinder ab drei Jahren zugänglich.
Nur in Wien wird derzeit das sogenannte Barcelona-Ziel der Europäischen Union, die Betreuungsquote für Kinder unter drei Jahren auf 33 Prozent zu erhöhen, erreicht. Diese Quote hat sich in Vorarlberg in den letzten acht Jahren zwar mehr als verdoppelt – sie stieg von 10,6 Prozent im Kindergartenjahr 2005/06 auf 23,9 Prozent im Kindergartenjahr 2013/14 –, liegt aber immer noch rund neun Prozentpunkte unter dem Barcelona-Ziel. Landesrätin Wiesflecker geht davon aus, dass die Betreuungsquote in den nächsten Jahren weiter ansteigen wird. Bis 2020 soll das Barcelona-Ziel erreicht werden.
Unflexibel und starr
Doch längst nicht alles ist eitel Wonne. Versorgungslücken, lange Schließzeiten in den Ferien, fehlende Plätze sowie unflexible und unpassende Öffnungszeiten sind Wermutstropfen im Bemühen des Landes um den Ausbau finanziell erschwinglicher und qualitativ hochwertiger Betreuungseinrichtungen. „Die Kleinkinderbetreuung in Vorarlberg wurde in den letzten zehn Jahren massiv ausgebaut, wir stellen jedoch fest, dass vor allem im ländlichen Raum der Bedarf noch nicht gedeckt ist“, weiß die Geschäftsführerin des Vorarlberger Familienverbandes, Andrea Kramer, aufgrund von Anfragen ihrer Mitglieder. Gerade Eltern aus kleinen Gemeinden würden teils lange auf einen Betreuungsplatz warten. „Schwierigkeiten, einen passenden Betreuungsplatz für ihr Kind zu finden, haben aber auch Eltern aus größeren Gemeinden, deren Karenz beispielsweise im Jänner ausläuft. Die Betreuungseinrichtungen für unter dreijährige Kinder werden im Herbst gefüllt, und wenn man einige Monate später kommt und einen Betreuungsplatz für seine Tochter oder seinen Sohn sucht, ist meist kein Platz mehr“, erzählt Kramer.
Wenn berufstätige Mütter aufgrund eines unflexiblen Systems Jobangebote ablehnen müssen, läuft etwas nicht rund. So ergangen ist es der Wolfurterin Doris Hörburger. „Wer den Betreuungsrhythmus unter dem Jahr ändern will, hat kaum eine Chance dazu. Immer wird mit der Beibehaltung von Strukturen argumentiert“, ärgert sich Hörburger.
Susanne Feigl bemängelt in ihrer Studie die oftmals fehlende Mittagsbetreuung für Kinder in außerfamiliären Einrichtungen und die teilweise immer noch berufsunfreundlichen Öffnungszeiten. Cornelia Huber vom Katholischen Bildungswerk sieht vor allem in der unterschiedlichen Handhabung der Gemeinden, in den Kosten und in starren Sprengeleinteilungen Hindernisgründe für eine externe Betreuung. Auch für die Unternehmerin Conny Domig-Ströhle, Geschäftsführerin von Ströhle taschen&mehr, variiert das Angebot je nach Gemeinde zu stark. „Eine Ferienbetreuung, die während der Ferien und an Fenstertagen immer geöffnet ist, würde vielen Familien den gemeinsamen Urlaub erleichtern.“
Wirtschaft übernimmt Verantwortung
Immer mehr Betriebe nehmen daher das Heft selbst in die Hand und richten eine eigene oder sogar eine überbetriebliche Kinderbetreuung ein. Firmen wie Head oder Alpla gehen schon länger diesen Weg. Vor sechs Jahren hat die A.M.I. GmbH mit einer öffentlichen Kinderbetreuung gestartet. „Die Arbeitswelt wird schneller, flexibler, fordernder, und Qualität steigert sich in vielen Bereichen zur Perfektion. Es wird immer wichtiger, gute Mitarbeitende zu finden und diese auch zu halten. Dabei spielt die Bindung, die aus der Kleinkindbetreuung im Haus entsteht, eine wesentliche Rolle“, erklärt Regine Hopfner die Vorzüge einer eigenen Einrichtung. Heron war das erste Unternehmen im Land, das 1997 eine eigene Kinderbetreuung auf die Beine gestellt hat. „Es ging uns um Qualität vor Quantität. Schön wäre es, wenn diese Arbeit gesellschaftlich noch mehr anerkannt und auch besser bezahlt wäre“, appelliert Bettina Beer.
Paradebeispiel PRISMA
Bereits fünf dieser überbetrieblichen Kinderbetreuungseinrichtungen hat die PRISMA Unternehmensgruppe – jeweils gemeinsam mit Partnern – im Umkreis von 30 Kilometern realisiert. Unterstützung kam vom Land und den Gemeinden, wie Bernhard Ölz, Vorstand der PRISMA Unternehmensgruppe, betont: „Die Offenheit und Unterstützung des Landes und der jeweiligen Standortgemeinden für Kooperationen und neue Projekte hat die Umsetzung dieser Kinderbetreuungsmodelle erst möglich gemacht.“
Für PRISMA war es eine Frage der Standortaufwertung und der Mitarbeiterbindung. Gero Riedmann, im Unternehmen mit dieser Sache betraut: „Wir haben uns 2005 im Millennium Park trotz einer nicht gerade überwältigenden Bedarfserhebung für eine überbetriebliche Kinderbetreuung entschieden, weil wir überzeugt waren, dass ein Angebot die Nachfrage steigert. So kam es dann auch.“ Eltern müssen erst Vertrauen in eine Einrichtung aufbauen und haben oft einen kurzfristigen Betreuungsbedarf. Die Einrichtungen, für die es inzwischen lange Wartelisten gibt, punkten mit kurzen Wegen und damit einem geringen Zeitverlust für die Eltern. Auch die sonst so starre Sprengeleinteilung wird lockerer gehandhabt: „Es werden auch Kinder aufgenommen, deren Elternteil nicht in der jeweiligen Standortgemeinde wohnhaft ist, sondern hier seinen Arbeitsplatz hat“, betont Riedmann. Hier sieht er noch Diskussionsbedarf, denn der Wohnsitz sollte nicht das entscheidende Kriterium sein: „Die Gemeinde Lustenau sieht solche Einrichtungen als wichtige Unterstützung für ihre Betriebe und lässt hier eine gewisse Großzügigkeit erkennen.“ Es könnte daher auch für andere Gemeinden sinnvoll sein, Kinderbetreuungseinrichtungen innerhalb einer Region als gemeinsame Sache zu verstehen.
Konkreter wird da die Landesvorsitzende von Frau in der Wirtschaft, Evelyn Dorn: „Eltern sollten ihre Kinder wahlweise sowohl in der Wohngemeinde als auch in der Gemeinde des Unternehmensstandorts betreuen lassen können.“ Allerdings kennen die Gemeinden keinen Spaß, wenn es um Förderungen für gemeindefremde Kinder geht.
Andrea Kramer vom Familienverband sieht hier ebenfalls Potenzial: „Eine Lösung wäre der Ausbau von gemeindeübergreifenden Kleinkinderbetreuungseinrichtungen sowie von betriebsübergreifenden Einrichtungen, denn meist können nur große Unternehmen eigene Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stellen. Auch braucht es für eine kleine Gruppe von Kindern den Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten zu Randzeiten. Dazu bekommen wir oft verzweifelte Anrufe von Eltern, die es schon überall probiert haben.“
Im Bereich der Kleinkindbetreuung sind 80 Prozent private Anbieter, 20 Prozent der Plätze werden von Gemeindeseite angeboten. LR Katharina Wiesflecker: „Es ist wichtig für armutsgefährdete Familien und Frauen, einen kostenfreien Zugang zur Kleinkindbetreuung zu ermöglichen. Die Gespräche dazu sind im Gange und wir werden noch im Laufe dieses Jahres eine einheitliche und praktikable Lösung entwickeln.“
Gemeindekooperationen als Lösung?
Da es für viele kleine Gemeinden nur schwer möglich ist, ein qualitativ hochwertiges und umfassendes Kinderbetreuungsangebot im Alleingang zu finanzieren, bieten sich Gemeindekooperationen an. Schnell wird aber klar, woran solche Kooperationen scheitern. Eine vom Land 2009 in Auftrag gegebene Studie zur Vision Rheintal macht offensichtlich, dass es in den Gemeinden oftmals am grundlegenden Verständnis und Bewusstsein für Kinderbetreuung mangelt. Kritisiert wurde auch die schlechte Qualität bei der Bedarfserhebung. Es fehle an visionärem Denken, was möglich sein kann. Ein positives Beispiel ist das Kinderhaus „Villa Kamilla“ in Röthis, das von acht Vorderländer Gemeinden getragen ist und gemeinsam finanziert und verwaltet wird. Doch solche funktionierenden Kooperationsmodelle sind die Ausnahme. Einmal mehr schlägt das bekannte Kirchturmdenken voll durch.
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