
Jeder einzelne Tag
Damals, als wir noch reisen konnten. Damals, als wir unsere Freunde treffen konnten und sogar in den Arm nehmen. Damals, als wir nicht voller Sorge um unsere eigene Gesundheit, unsere Mitmenschen, unsere Arbeitsplätze und Betriebe waren.
Die Sehnsucht nach der Normalität: Sie ist nachvollziehbar, aber sie verklärt natürlich – wie immer, wenn der Satz fällt, dass es früher besser gewesen sei. Sie verklärt und vernebelt vor allem die Tatsache, dass die Zeit auch früher nicht normal war. Dass wir auch ohne Corona Bruchlinien in unserer Realität vorgefunden haben.
Auch ohne diese Epidemie war klar, dass es so nicht weitergehen kann: Dass wir neue Antworten auf die Balance zwischen Ökonomie und Ökologie brauchen; dass immer mehr Menschen eine andere Vorstellung davon haben, was gelungene Karrieren ausmacht und wir daher als Arbeitgeber und Führungskräfte gefordert sind; dass Digitalisierung nicht nur Wertschöpfungsmodelle erschüttert, sondern sogar unsere Daseinsberechtigung als Menschen in der Arbeitswelt in Frage stellt; dass in unseren Gesellschaften die Polarisierung zunimmt und wir uns auf die Suche nach neuen Gemeinsamkeiten oder zumindest dem Wiederentdecken von alten Gemeinsamkeiten machen müssen; dass wir Europa neu definieren müssen, weil wir innere Spannungen von Brexit bis Ungarn auszugleichen haben, und weil von außen die Frage nach der Rolle Europas im globalen Kontext gestellt wird.
Die Liste ist lang, und man könnte sie noch weiter ergänzen und fortführen, denn da gibt’s noch vieles mehr, das auch schon vor dem März 2020 auf der Agenda gestanden ist. Und es ist nicht nur viel, es ist auch ziemlich heftig, die Aufgabenstellungen auf dieser Liste sind keineswegs einfach zu lösen.
Auch vor Corona war nicht alles normal
Früher war nicht alles besser. Früher war einfach nur früher. Und die gute alte Zeit ist bei kritischer Beschau vor allem: alt. Der Blick zurück hilft uns nur dann, wenn wir sehr differenziert beurteilen, was von damals erhaltenswert ist, was wir vor starken Veränderungen beschützen wollen, was wir in die Zukunft mitnehmen möchten. Blicken wir also nach vorne. Und stellen wir sinngemäß die gleiche Frage wie eingangs: Wie kann man auf das Kommende blicken, ohne zu sagen: Es wird alles besser? Denn so wie die Nostalgie, die zurückblickt, verklärt, so verklärt auch die Hoffnung, die nach vorne blickt. Sie hofft auf das Ende des Lockdowns, weil dann wieder der fröhliche Alltag einkehrt. Sie hofft die baldige Impfung herbei, weil damit die Pandemie besiegt sein wird. Die Hoffnung ist damit auf die gleiche Art und Weise naiv wie die Erinnerung.
Beide gedanklichen Richtungen sind in ihrer Naivität wichtig, nicht zuletzt, weil sie uns helfen, Widrigkeiten, die wir erlebt haben oder die wir noch antizipieren, auszublenden, weil sie uns damit stützen, uns Energie und Zuversicht spenden. Ganz besonders die nach vorne gerichtete Hoffnung hat diese Kraft.
Aber unser Denken und unser Sehnen darf nie auf Vollständigkeit ausgerichtet sein, nicht auf einen bestimmten Augenblick, ab dem alles besser sein wird. Denn natürlich stellt sich in der Realität niemals die Erlösung ein, die wir mit der Hoffnung verknüpfen.
In unserem Leben wird auch nach dem Ende des Lockdowns nicht alles nur eitel Wonne sein, es wird auch künftig die Mühsal des Alltags beinhalten; auch nach der breitflächigen Verfügbarkeit der Impfung wird die Corona-Krise nicht schlagartig überwunden sein. Und so weiter.
Klar, man kann sich bestimmte Ereignisse herbeiwünschen und daraus eine Verbesserung des Status Quo ableiten. Aber selbst ein Lotto-6er macht den Gewinner nicht grenzenlos glücklich und sorgenfrei.
Irgendwas ist ja immer
Das darf uns nicht davon abbringen, nach vorne zu blicken und zu streben. Im Gegenteil. Anzuerkennen, dass unser Leben eine Herausforderung ist und immer bleiben wird, auch nach Corona, nach Joe Biden, nach dem Lotto-6er, die Tatsache annehmen zu können, dass unser Dasein immer aus Ambition und Bemühen, aus Gelingen und auch aus Scheitern besteht, aber niemals aus Vollständigkeit – das anzuerkennen, ist ein wichtiger Reifeprozess. Und es ist eine unglaublich erquickliche Botschaft. Denn sie befreit uns von dem Gedanken an ein unentrinnbares Schicksal und befeuert unseren Antrieb, etwas zu unternehmen. Es gibt den Faust’schen Moment nicht, und es gibt ihn glücklicherweise nicht. Wir sind ewig Suchende.
Der Sinn des Lebens ist nicht die Vollständigkeit, sondern die Unvollständigkeit. Was uns vorantreibt, ist nicht der Gedanke daran, dass es den einen erfüllenden Tag in unserem Leben gibt, der uns glücklich macht. Sondern, was uns antreibt, das ist die Zuversicht, dass morgen ein besserer Tag sein kann als heute. Und dass das für übermorgen aufs Neue gilt. Dass wir uns entwickeln können, wachsen können, lernen – dass wir gestalten können. Jeden Tag, immer wieder.
Als Trendforscher werde ich häufig gefragt: Wie ist das, wenn Sie an morgen denken: Sind sie da Optimist oder Pessimist? Und meine Antwort lautet immer: Weder noch – ich bin Possibilist. Ich glaube daran, dass es Möglichkeiten gibt. Ich bin kein Optimist, weil ich nicht daran glaube, dass die Welt von alleine besser wird. Und ich bin kein Pessimist, denn die Welt wird auch nicht automatisch schlechter. Zukunft wird gemacht, und sie ist nicht alternativlos.
Ich bin Possibilist, die Welt lässt sich gestalten, sie bietet uns Handlungsspielräume, Chancen und Möglichkeiten. Jeder Tag bringt solche Möglichkeiten. Jeder einzelne Tag.
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