Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Jeder Tag ohne digitale Medien ist ein guter Tag“

Juli 2016

Hirnforscher und Bestseller-Autor Manfred Spitzer (58) warnt mit drastischen Worten vor der „digitalen Demenz“. Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ sagt der Psychiater, Psychologe und Hochschullehrer, dass der Konsum digitaler Medien süchtig mache – mit gravierenden Folgen. Spitzers drastische Feststellung: „Man kann leicht abschätzen, dass digitale Medien mittlerweile der Hauptverursacher von Krankheit und Tod sind.“

Nicht dass dies das Ziel dieses Gesprächs sein sollte, Herr Professor, aber wer Sie fachlich ärgern will, muss nur sagen: Es ist gut und richtig, dass Kinder bereits von klein auf Umgang mit Tablet und Smartphone haben …

Ach, wenn ich mich über jeden ärgern wollte, der dummes Zeug redet … Übrigens: Die Tatsache, dass jeder Knirps über ein Tablet oder Smartphone wischen kann, zeigt doch nur, dass es da gar nichts zu lernen gibt: Die Bedienung ist ja buchstäblich kinderleicht.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Cyberkrank!“, dass die digitale nicht die reale Welt ersetzen könne, ganz besonders nicht bei Kindern. Warum denn nicht?

Kleine Kinder brauchen Umgang mit der realen Welt, um zu lernen, wie diese sich anfühlt und funktioniert. Sie müssen die Dinge begreifen – im besten Sinne des Wortes!

Was ist denn für einen Hirnforscher so schlimm an der frühen und starken Nutzung dieser Medien?

Gehirnbereiche, die für höhere geistige Leistungen zuständig sind, haben keinerlei direkte Verbindung mit der Außenwelt. Die Kommunikation mit dieser geschieht vielmehr über die sensorischen und motorischen Areale. Wenn in diesen keine komplexen Muster der Außenwelt entstehen – indem immer wieder nur die gleiche Handbewegung ausgeführt wird und dabei immer die gleichen Tastempfindungen entstehen –, können in den höheren Arealen auch keine entstehen! Anders gesagt: Wie soll es mit dem komplexen Denken klappen, wenn Input und Output immer nur ganz monoton sind?

Erzürnt es Sie deshalb, wenn in Kindergärten und Schulen Kinder bereits der Umgang mit Medien gelehrt wird, im Rahmen sogenannter Medienkompetenztrainings?

In Kindergarten und Grundschule verdummen wir Kinder aktiv, wenn wir sie über Glasbildschirme „wischen“ lassen. Das ist das Gegenteil von Kompetenz! Hinzu kommt: Digitale Medien erzeugen Sucht. Die Zahl der Internetsüchtigen wird für Deutschland mit einer halben Million – vor allem junger – Menschen angegeben. In Südkorea, dem Land mit der wahrscheinlich besten digitalen Infrastruktur, beträgt der Anteil der Smartphone-Süchtigen in der Altersgruppe zwischen 10 und 19 Jahren nach Daten aus dem dortigen Wissenschaftsministerium bereits über 30 Prozent. Dort macht man sich daher ernsthafte Sorgen! Und wir sollten dies auch tun. Lassen Sie mich dies anhand eines Vergleichs erläutern: Alkohol ist Teil unserer Kultur und kann, beispielsweise in der Medizin als Desinfektionsmittel, Leben retten. Aber er schadet der Gehirnentwicklung und macht süchtig. Daher führen wir ganz bewusst kein „Alkoholkompetenztraining“ in Kindergärten und Grundschulen durch, sondern bewahren unsere Kinder vor dessen Folgen, solange sie besonders anfällig dafür sind. Nicht anders sollten wir es mit den digitalen Medien halten, denn diese erzeugen Sucht und schaden der Gehirnentwicklung.

In Ihrem Buch „Cyberkrank!“ heißt es: „Den heute vorliegenden Daten zufolge wiegen die gesundheitsschädlichen Auswirkungen einer digitalisierten Kindheit und Jugend schwerer als die negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Alkohol- oder Tabakkonsum.“ Klingt hart …

Mag sein. Aber man muss doch zur Kenntnis nehmen, dass die folgenden Auswirkungen auf Körper, Seele und Geist eindeutig nachgewiesen sind: Ängste, Aufmerksamkeitsstörungen, Bewegungsmangel, Bluthochdruck, Depressionen, Diabetes, Empathieverlust, Haltungsschäden, Kurzsichtigkeit, Müdigkeit am Tage, Persönlichkeitsstörungen, Schlafstörungen, Sucht und Übergewicht. Hinzu kommen Unfälle bei der Benutzung von Smartphones durch Unachtsamkeit und vermehrte Risikobereitschaft, was sich sowohl beim Straßen- als auch beim Geschlechtsverkehr auswirkt: In den USA sterben jährlich nach Untersuchungen der dortigen Behörden mehr als 400 Menschen durch das Lesen oder Schreiben von Textnachrichten beim Autofahren, und durch ungeschützten durch Smartphone-Apps vermittelten Gelegenheits-Sex steigt weltweit die Zahl der Infektionen mit Geschlechtskrankheiten. Der Zusammenhang wurde an einer großen Ambulanz für Geschlechtskrankheiten in Los Angeles im vergangenen Jahr wissenschaftlich nachgewiesen. Wenn man das alles aufaddiert und sich klarmacht, dass es hier nicht um 10 oder 30 Prozent der Bevölkerung geht, sondern im Hinblick auf die junge Generation um über 90 Prozent, dann kann man leicht abschätzen, dass digitale Medien mittlerweile der Hauptverursacher von Krankheit und Tod sind.

Sie möchten die Welt vor der „Digitalen Demenz“ bewahren. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?

Ärzte in Südkorea verwenden den Begriff seit mittlerweile fast zehn Jahren zur Bezeichnung von Symptomen junger Männer, die sehr viel Zeit am Computer verbrachten: Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnisstörungen, Gereiztheit, depressive Verstimmung, Schlaflosigkeit und Lernstörungen. Ich selbst habe den Begriff in meinem Buch „Digitale Demenz“ noch einmal dahingehend geschärft, dass es tatsächlich um einen geistigen Abbauprozess im Alter geht, der durch übermäßigen Konsum digitaler Medien in Kindheit und Jugend beschleunigt wird. Der Grundgedanke ist ganz einfach: „Demenz“ heißt zunächst einmal nichts weiter als „geistiger Abstieg“. Und für jeden Abstieg gilt, dass er umso länger dauert, je höher man anfängt. Wer vom Matterhorngipfel absteigt, kann lange abwärts laufen und ist immer noch ziemlich weit oben; wer hingegen von einer Sanddüne am Meer hinunter läuft, ist gleich unten. Nichts anderes meint der Begriff „digitale Demenz“: Wer durch übermäßige Nutzung digitaler Medien in Kindheit und Jugend seiner Gehirnentwicklung schadet (dies ist nachgewiesen), bei dem werden im Alter die Symptome geistigen Abbaus früher auftreten. Man spricht hier auch von der kognitiven Reserve, die darüber entscheidet, wann ein Gehirnabbau sich durch geistigen Abbau bemerkbar macht: Ist die kognitive Reserve groß, kann viel kaputt gehen, ohne dass die geistige Leistung merklich abnimmt. Arbeitet das Gehirn aber, weil es untrainierter ist, schon an seiner Leistungsgrenze und erlebt dann kleine Schäden, nimmt die geistige Leistungsfähigkeit rasch ab.

Was sie kritisieren, ist die Folge unseres eigenen Handelns. Niemand zwingt einen, ein Smartphone zu benutzen. Niemand zwingt einen, Mitglied sozialer Medien zu sein …

Genauso wie uns niemand zwingt, ungesunde Nahrungsmittel zu essen oder sie unseren Kindern zu geben. Aber wir tun dies in großem Stil, weil die Werbung ganze Arbeit leistet. Und ganz ähnlich wird eben immer davon geredet, wie toll sich unsere jungen Leute selbst darstellen und vernetzen können und so weiter. Niemand spricht davon, dass Facebook – nachweislich – depressiv, unzufrieden und einsam macht.

Sie sprechen von einer Smartphone-Sucht. Ist diese Sucht mit anderen Süchten vergleichbar?

Definitiv ja! Es geht ja um das Gleiche: Man kann ein Verhalten nicht mehr sein lassen, verbringt sehr viel freie Zeit damit, wird unruhig und aggressiv, wenn man getrennt vom Suchtmittel ist, vernachlässigt deswegen andere Aktivitäten – Schule, Freunde – und braucht immer mehr. Ähnlich wie der Alkoholiker Alkohol ja nicht wegen des Genusses trinkt, sondern weil er seine Entzugssymptome bekämpfen muss, zückt der Smartphone-Süchtige nicht sein Smartphone zum Vergnügen, sondern aus Angst, etwas zu verpassen, oder gar aus der Furcht davor, gerade keine Verbindung, kein „Netz“ zu haben. Nach einer DAK-Studie, in der das Forsa-Institut tausend Mütter und Väter zum Internet- und Computergebrauch ihrer 12- bis 17-jährigen Kinder befragt hat, sagen 49 Prozent der Eltern, dass ihr Kind länger online bleibt, als es sich eigentlich vornimmt, 22 Prozent sagen, dass ihr Kind sich ruhelos, launisch, niedergeschlagen oder gereizt fühlt, wenn es versucht, seine Internetnutzung zu vermindern oder ganz damit aufzuhören, 15 Prozent sagen, dass ihr Kind Familienmitglieder oder andere Personen angelogen hat, um zu verbergen, wie viel es das Internet wirklich nutzt, und 12 Prozent sagen, dass ihr Kind das Internet nutzt, um Problemen zu entfliehen oder schlechte Stimmung zu beenden, etwa Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld, Angst oder Niedergeschlagenheit. Das macht sehr nachdenklich und zeigt, welch dringender Handlungsbedarf hier besteht!

Und diverse Geheimdienste freuen sich …

Wie ich in „Cyberkrank!“ gleich am Anfang zeige, muss man Edward Snowden hoch anrechnen, dass er einer Weltöffentlichkeit die Augen dafür geöffnet hat, wie stark sie von den Geheimdiensten ausspioniert wird. In meinen Labors geht seither der Spruch um: „Warum unsere Daten archivieren? Wenn wir was brauchen, rufen wir einfach bei der NSA an!“ Aber Spaß beiseite: Die Menschen fangen zumindest im „alten“ und, verglichen mit den USA, etwas weniger fortschrittsgläubigen Europa damit an, die eigene Mediennutzung kritisch zu hinterfragen. Was aber vor allem medial weiterhin kaum hinterfragt wird, sind gesundheitliche Auswirkungen, die auch den Kontrollverlust betreffen. Wer sich nicht mehr als Herr seiner Geschicke erlebt, erfährt Stress, und der schadet der Gesundheit langfristig enorm.

Sie machen dafür ja eine Lobby verantwortlich, ähnlich der Tabakindustrie.

Ja. Es vergeht kein Tag, an dem nicht von „digital genial“, dem „Ende der Kreidezeit“ an den Schulen, der wunderbaren digitalen Zukunft unseres Landes und vielem anderem geschwärmt wird. Zudem wird unterschwellig immer wieder betont: Digitale Medien seien „nun mal da“, und wir müssten uns mit ihnen abfinden. Tatsache ist aber: Wir kaufen sie, mit öffentlichem und mit privatem Geld! Und genau darum geht es. Denn man muss eines wissen: Google, Apple, Microsoft, Amazon und Facebook gehören zu den zehn reichsten Unternehmen der Welt und haben eine Marktkapitalisierung von zusammen 2500 Milliarden US-Dollar. Sie sind daher auch die reichste Lobby, der gegenüber die Tabaklobby sich bescheiden ausnimmt. Diese hat es jedoch über mehr als ein halbes Jahrhundert geschafft, das Rauchen in unseren Köpfen mit „Freiheit und Abenteuer“ zu verbinden statt mit „Raucherbein und Lungenkrebs“, was allein in Deutschland jährlich 140.000 – in 50 Jahren also sieben Millionen! – Tote verursacht hat. Die IT-Branche ist noch reicher und verursacht noch mehr Schaden, indem sie die Köpfe unserer nächsten Generation vermüllt. Politiker und Bildungsverantwortliche handeln verantwortungslos und versündigen sich an der nächsten Generation, die übrigens das Problem längst selber erkannt hat, lautet doch das „Jugendwort des Jahres 2015“ Smombie, also Smartphone-verursachter seelenloser und willenloser Mensch!

Sie ecken an mit Ihren Aussagen. Man nannte Sie schon einen „Krawall-Psychiater“ und den „Sarrazin der Computerkritik“. Stört Sie derlei Kritik?

Einerseits ja, andererseits zeigt sie, dass meine Kritiker eines nicht haben: die besseren Argumente! Hätten sie es sonst nötig, mich persönlich zu diffamieren?

Wie lautet Ihr Rat an jeden einzelnen Nutzer digitaler Medien? Und wie lautet Ihr Rat an die Eltern?

Weniger ist mehr! Die Dosis macht das Gift. Jeder Tag ohne digitale Medien ist ein guter Tag.

Sie haben vor Jahren schon recht trocken festgestellt: Fernsehen macht dick, dumm und aggressiv. Was macht dann die übermäßige Nutzung digitaler Medien mit uns?

Letztlich dasselbe, aber in mehrfacher Hinsicht noch viel mehr: Die Anzahl der Probleme und Gesundheitsschäden, die durch digitale Informationstechnik verursacht werden, ist deutlich höher als beim Fernsehen, und der Grad der Nutzung der Neuen Medien ist es auch. Von daher haben wir allen Grund, beunruhigt zu sein. Und noch ein Letztes: In Südkorea, dem Land mit 30 Prozent Smartphone-süchtigen Kindern und Jugendlichen, gibt es seit Mai 2015 – weltweit erstmals und einzigartig – ein Gesetz, das die Smartphone-Nutzung von Menschen unter 19 Jahren beschränkt und regelt. Software blockiert den Zugang zu Pornographie und Gewalt, registriert die Nutzungszeit und meldet den Eltern, wenn der tägliche Smartphone-Gebrauch (der in Sükorea bei durchschnittlich 5,4 Stunden täglich liegt) ein bestimmtes festgelegtes Maß überschreitet. So umstritten diese Maßnahme auch ist, so zeigt sie doch eines sehr deutlich: dass ein Staat begriffen hat, dass seine Grundfesten erodieren, wenn man junge Menschen und deren Bildung und Gesundheit dem unkontrollierten Profitstreben von Unternehmen überlässt, die zu den reichsten der Welt gehören. Das ist unverantwortlich. Wir Erwachsene haben die Verantwortung für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung der nächsten Generation als unsere wichtigste Aufgabe zur Sicherung unseres Gemeinwohls, unserer Zukunft und unserer Kultur. Handeln wir entsprechend!
 
Vielen Dank für das Gespräch!

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