Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Mit den alten Rezepten kann der neuen Welt nicht mehr begegnet werden“

November 2016

Autor Lars Vollmer (45) fordert im Interview mit „Thema Vorarlberg“ ein neues, ein zeitgemäßes Verständnis von Organisation. Strenge Hierarchien und alte Management-Rezepte haben Vollmer zufolge ausgedient, den Könnern im Unternehmen müsse entsprechender Freiraum gegeben werden. Meetings? Mitarbeitergespräche? „Weg damit“, sagt der Wirtschaftsvordenker. Der Nutzen? „Wäre eine Rückkehr zur echten Arbeit. Denn in den Unternehmen wird nicht mehr gearbeitet, nur noch Arbeit gespielt.“

Sie provozieren gleich schon mit dem ersten Satz Ihres neuen Buchs, steht da doch geschrieben: In den meisten Unternehmen wird zu wenig gearbeitet.

Ich hoffe, dass die Provokation auf fruchtbaren Boden fällt und die Diskussionen losgehen. Ich habe mich mit dieser Forderung auch nicht im Jahrhundert geirrt, denn ich lege den Begriff Arbeit hier sehr streng aus und lehne mich dabei an ein Bonmot von Reinhard Sprenger an: „Arbeit ist immer Arbeit für andere, sonst ist es Beschäftigung.“ Wenn man diesen Maßstab anwendet, ist es tatsächlich so, dass in Unternehmen immer weniger gearbeitet wird – obgleich alle immer mehr beschäftigt sind. Meine Forderung lautet also: Wir müssen in unserer Arbeitszeit wieder mehr Zeit mit echter, produktiver Arbeit, nicht mit unproduktiver Beschäftigung verbringen.

Wie ist das zu verstehen?

Studien zeigen, dass Menschen in ihrer Arbeitszeit zu gut 50 Prozent damit beschäftigt sind, nicht zu arbeiten, sondern Arbeit zu spielen, indem sie immer öfter an Meetings, Konferenzen, Tagungen teilnehmen müssen. Das ist Business-Theater! Unter dem immer mehr Menschen leiden, weil es sie vom echten Arbeiten abhält, und das auch dem Kunden nichts bringt. Haben Sie jemals schon ein Meeting erlebt, an dessen Ende die Teilnehmer rufen: Was für ein tolles Meeting! Ich sage: Das perfekte Meeting kann es nicht geben. Und das nicht nur, weil Meetings zu lange dauern, weil geschwafelt wird, weil der eine wiederholt, was der andere gesagt hat, weil man in diese ritualisierten Prozesse reingeht, wie man sich zur Oma an den Kaffeetisch setzt. Und jeder denkt sich hinterher: Wofür haben wir das jetzt gemacht? Das Gleiche gilt auch bei Mitarbeitergesprächen. Das sind aus der Zeit gefallene Rituale, diese Meetings und Mitarbeitergespräche, diese Berichte und Konferenzen. Und von diesen Praktiken, die nur dem Erhalt der formalen Strukturen dienen, die keine Wertschöpfung bringen und die ich liebevoll Bullshit-Praktiken nenne, gibt es in Unternehmen Hunderte.

Apropos aus der Zeit gefallen: Sie schreiben, dass die Welt zwar immer komplexer werde, doch die Managementmethoden in vielen Unternehmen nach wie vor die alten seien.

Ja. Organisation und Management folgen auch heute noch meistens einer tayloristischen Blaupause. Der 1911 begründete Taylorismus trennte Denken und Handeln, manifestiert in der Macht-Hierarchisierung innerhalb von Organisationen, in der funktionalen Teilung einzelner Abteilungen und in der zeitlichen Trennung: zuerst planen, dann umsetzen. Der Taylorismus, der in der Blütezeit der industriellen Revolution ausreifte, hat den Unternehmen Erfolg gebracht, extremen Erfolg. Und wenn in Unternehmen heute etwas schwierig wird, greift man gerne auf diese alten, bewährten Rezepte zurück.

Und liegt damit falsch?

Ja, weil der Taylorismus nur unter der Prämisse funktioniert, dass die Welt weitestgehend stillhält. Dieses Modell war auf Langsamkeit und auf bereits vorhandenes Wissen ausgelegt, um steuern zu können. Die Rezepte stammten aus einer Welt, die zwar durchaus schon komplex war, in der Unternehmer allerdings Überraschungen von außen zumindest zu einem gewissen Teil ignorieren konnten, ohne Gefahr zu laufen, Schaden zu nehmen. Der Wettbewerb war kleiner. Alles war planbar. Und das entspricht einfach nicht mehr den wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Märkte sind enger, dichter, schneller geworden. Die Dynamik ist dramatisch. Mit den alten Rezepten kann der neuen Welt nicht mehr begegnet werden. Die Zeiten haben sich geändert.

Sie illustrieren das Gesagte im Buch mit der Schlachtordnung der alten Römer …

Die Römer waren über Jahrhunderte hinweg die führende Militärmacht. Die Organisationsform vom Typus „Römische Legion“ war allen anderen Organisationsformen vom Typus „Wilde Horde“ weit überlegen. Sie waren einfach gut gemanagt, jedenfalls ein paar Jahrhunderte lang. Und bis heute gibt es für nichtdynamische und niedrigkomplexe Spielfelder kein besseres Spielsystem! Aber ein modernes Militär könnte mit der Struktur der alten Römer heute keine Schlachten mehr gewinnen. Weil nichts mehr berechenbar ist. Weil zu viele Überraschungen auftauchen. Im übertragenen Sinn gilt das auch für den Wettbewerb. Mit der alten Organisation, die zu ihrer Zeit extrem effizient war, können Sie heute nicht mehr gewinnen. Die alte Organisation ist zu langsam, sie ist zu starr. Wir haben es mit der Evolution von Systemen zu tun. Die alten Systeme sterben eben aus – so auch die tayloristischen Grundordnung, die in manchen Wirtschaftsbereichen schon seit Jahren nahezu leblos dahinkrebst.

Sie ärgern sich, schreiben Sie, besonders über zwei Typen. Welche denn?

Ich ärgere mich über Beton-Tayloristen. Und über Pulswärmer (lacht). Weil beide falsch liegen. Es gibt gegen die Thesen, die ich aufstelle, üblicherweise zwei Arten von Gegenargumenten. Die einen – die Beton-Tayloristen – sagen, man müsse Unternehmen nur härter anfassen, man müsse sie unter Kontrolle haben und „durchregieren“, die Leute müssten einfach nur wieder diszipliniert arbeiten und sich an die Termine halten. Diese Typen pochen die auf die alten Tugenden der tayloristischen Idee und wollen selbige gar noch verstärken. Die anderen – die Pulswärmer – nehmen eine sehr humanistische Sichtweise ein, sie sagen, ein Unternehmen werde dann wieder Erfolg haben, wenn man lieb ist zu den Menschen und sie gut behandelt. Dabei gehen sie allerdings von der falschen Prämisse aus: Pulswärmer betrachten die Strukturen in den Unternehmen nicht, sie führen Misserfolg in Unternehmen ausschließlich auf eine bewusste Unmenschlichkeit der handelnden Personen zurück. Nun wird allerdings kein Unternehmen bewusst unmenschlich geführt, sozusagen als Selbstzweck. Nein, Unmenschlichkeit ist die Folge unmenschlicher Strukturen.

Die perfekte Organisationsform für das Unternehmen des 21. Jahrhunderts soll es nicht geben. Es ist eine Sache der Individualität …

Genau! Mit der Adaption dieser tayloristischen Blaupause ist man vor Jahrzehnten gut gefahren. Aber die Lösung für das 21. Jahrhunderts ist nicht, die alte Blaupause durch eine neue Blaupause zu ersetzen, was derzeit häufig versucht wird mit Modellen wie Holocracy. Die gute Organisation des 21. Jahrhunderts ist eine individuelle, eine Organisation, die jedes Unternehmen für sich selbst zu finden und zu definieren hat. Denn Organisation muss sich heute noch viel enger der individuellen Aufgabe und den im System befindlichen Mitarbeitern anpassen. Organisation darf keiner allgemeinen, grundsätzlichen Logik mehr folgen. Meines Erachtens braucht es in der Zukunft so viele Organisationsformen, wie es unterschiedliche Aufgaben gibt. Und das sind ganz, ganz viele verschiedene.

Um das zu illustrieren, nehmen Sie des Öfteren Anleihen beim Fußball, verweisen etwa auf Messi und auf Ronaldo …

Ich benutze die Fußball-Metapher auch deswegen sehr gerne, weil Fußball für jedermann ersichtlich unvorhersehbar und im Kern auch unbeherrschbar ist und damit stellvertretend steht für ein komplexes System, wie es auch für einen Markt oder ein Unternehmen gilt. Messi und Ronaldo, die wahrscheinlich derzeit weltbesten Fußballer, schießen beide Tore, sind aber sehr unterschiedliche Spielertypen. Deswegen sind ihre Mannschaften, der FC Barcelona und Real Madrid, auch anders ausgerichtet: Sie orientieren sich in ihrem Spielsystem und in ihrer Organisation jeweils an den spezifischen Fähigkeiten dieser beiden Könner. Und, was man bisweilen vergisst: Beide Mannschaften agieren in jedem Spiel taktisch etwas anders, richten sich bei starken Gegnern jeweils auch auf deren Schwächen aus. Das ist eine schöne Idee von Organisation, die um die Könner herum gestaltet und zudem immer individuell auf die jeweilige Aufgabe – sprich Marktsituation – ausgerichtet wird.

Wobei der Könner in Ihren Überlegungen zentralen Raum einnimmt …

Wenn Überraschungen auf ein Unternehmen einprasseln und es für dieses Problem noch kein Wissen in einer Organisation gibt, keine Regel und keine Vorschrift – dann braucht es eine Idee, also etwas ganz Neues. Ideen aber können nicht aus Prozessen heraus entstehen, der Taylorismus kann keine Ideen produzieren, Ideen entspringen immer Individuen. Steigt die Dynamik, in der sich ein Unternehmen bewegt, steigt auch die Notwendigkeit, Ideen zu produzieren. Und das heißt, dass ich den Menschen in seiner Vollständigkeit im Unternehmen brauche – ich brauche ihn nicht nur als Handlanger für gewisse Tätigkeiten. Deswegen ist es entscheidend, Könnern den notwendigen Freiraum zu geben, ihre Ideen auch formulieren und ausprobieren zu können. Würden Könner nur Regeln befolgen, könnte man sie auch durch Rhesusaffen ersetzen oder, wie es der Allmachtsfantasie der Indus­trie-4.0-Anhänger entspricht, durch Androiden. Das Problem ist nur, dass Roboter keine Ideen generieren. Ideen kommen von Individuen. Wo Dynamik im Spiel ist, brauche ich Könner. Und die Könner brauchen Freiraum.

Sie verwenden da den schönen Satz: Ich will in einem Unternehmen des 21. Jahrhunderts vor allem individuelle Freiheit walten sehen.

Das ist eine wirtschaftliche Notwendigkeit! Es ist nicht einfach nur ein Gnadenakt, den Menschen Freiheit zu gewähren. Echte Arbeit braucht einen hohen individuellen Freiheitsgrad, damit sich Könner im Sinne des Unternehmens selbstverantwortlich entfalten können. Nur so kann das Business-Theater wieder durch echte Arbeit ersetzt werden.

Die tradierten Formen des Managements sollen obsolet sein, sagen Sie. Aber eine Führung braucht es doch. Wenn wir beispielsweise ein Orchester hernehmen: Das sind alles Könner, und doch braucht es einen Dirigenten …

Na ja, wir kennen ja auch Orchester, die ohne Dirigenten auskommen und international gefeierte Alben aufnehmen und Konzerte geben. Auch das Erfordernis eines Dirigenten ist vielleicht ein Stück weit eine überholte Überzeugung. Aber wir lieben nun mal Orchester mit Dirigenten, und ein Dirigent kann mit einem Orchester auch ganz hervorragende Arbeit leisten. Allerdings müssen wir uns immer wieder vor Augen halten, dass ein typisches klassisches Orchester immer nur Interpretationen bereits existierender Stücke geben kann. Innovation entsteht nur in sehr, sehr kleinem Maße durch klassische Orchester. Da wäre es beispielsweise interessanter, wenn wir uns Jazzbands anschauen, die durch ihre Improvisation ständig Neues erzeugen. Jazzbands kommen fast immer ohne einen Dirigenten aus. Was man an Jazzbands wunderbar erkennen kann, ist, dass trotzdem ständig Führung stattfindet. Aber eben nicht Führung gekoppelt an eine Stelle, an den Chef, an den Dirigenten. Vielmehr wird Führung in Jazzbands als etwas Fluides verstanden, das in einem Team ständig hin und her schwankt. Führung ist eine Aufgabe, eine Rolle, und eben keine Stelle. Das ist das überholte Denken, das ich anprangere. Es gibt viel mehr und weit bessere Lösungen, als einem Orchester einen Dirigenten vorzusetzen – insbesondere dann, wenn man Innovation möchte.

Was empfehlen Sie den Vorarlberger Unternehmern?

Überwindet die in der Wirtschaft allgemein sehr verbreitete Denkfaulheit! Es ist Denkschlamperei, wenn man mit neuen Märkten zu tun hat, aber an alten Strukturen festhält. Orientiert euch nicht an Best-Practice-Beispielen, im Glauben, alles werde besser, wenn man sich nur an diesen Vorbildern ausrichtet. Nein! Probiert selbst eine individuelle Organisation aus, denkt genau nach, zeigt ein neues Verständnis von Organisationsführung! Das beinhaltet auch den Verzicht auf klassische alte Managementpraktiken, das beinhaltet die tatsächliche Anwendung von Organisationshygiene. So wie der Mensch täglich duscht, um sich von Schmutz am Körper zu befreien, täte es auch Organisationen gut, sich ständig von altem strukturellem Schmutz zu befreien. Praktiken beizubehalten, nur weil sie vor 20 Jahren einmal gut funktioniert haben, ist gefährlich. Unternehmen sollten sich in ihrer Organisationsstruktur hinterfragen – damit aus Business-Theatern wieder echte Unternehmen werden können, um damit wieder zurück zu wirklicher Arbeit kehren zu können. Also, in dem Sinne: Zurück an die Arbeit!
 
Machen wir. Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person lars Vollmer
Jahrgang 1971, promovierter Ingenieur und Honorarprofessor, ist Unternehmer, Vortragsredner und Wirtschaftsbuchautor. Vollmer ist Begründer von intrinsify.me, dem größten offenen Thinktank für die neue Arbeitswelt und moderne Unternehmensführung im deutschsprachigen Raum. Er lehrt an mehreren Universitäten und Instituten und ist gefragter Redner auf internationalen Kongressen und Unternehmensveranstaltungen. Er spielt Jazzpiano, trinkt gerne Weltklasse-Kaffee und lebt in Barcelona. Vollmers aktuelles Buch „Zurück an die Arbeit! Wie aus Business-Theatern wieder echte Unternehmen werden“ ist im Linde Verlag, Wien, erschienen.

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