Daniela Vonbun

Redakteurin
Thema Vorarlberg

Mythos Nenzinger Himmel

April 2024

Wie eine Alpe den Massentourismus ohne Schaden überlebte oder vielleicht noch gar nicht entdeckt wurde.

Der „Nenzinger Himmel“ ist ein Naturjuwel, das seinesgleichen sucht. Ist es doch ein malerisches Idyll, eingebettet in das Kalksteinmassiv des Rätikons. Von den Einheimischen wird er als Ort der Erholung von Frühling bis Herbst genutzt und für einige wenige auch im Winter. Touristisch ist das Gebiet, im Vergleich zu den umgebenden Tälern, jedoch wenig erschlossen. Für Thomas Gamon, Gemeindearchivar der Marktgemeinde Nenzing, ist es ein wichtiges Zeichen, dass das Trinkwasser nach wie vor am Brunnen geholt werden muss, den sich mehrere Hütten gemeinsam teilen. Hier kommen Nenzinger zusammen, die im Dorf meist nichts miteinander zu tun haben. Kinder spielen mit dem Wasser und finden Spielkameraden. So sieht Gamon den Brunnen als Treffpunkt der Gesellschaft mit einem hohen ideellen Wert, den es hochzuhalten gilt. Auch an anderem Komfort mangelt es in den circa 180 Ferienhütten. Beispielsweise wird noch mit Hilfe von Holz gekocht. Befahren werden darf die Alpe lediglich mittels Zubringerbussen oder mit dem Kauf eines Mautscheines, wenn man in Nenzing wohnt. Was aber steckt hinter diesem strikten Verteidigen der Ruhe im Nenzinger Himmel? Woher kommt der Gedanke, dass ein vorsichtiger Umgang mit der Natur in Gamperdond angebracht ist? Denn diesen gibt es im „Himmel“ schon seit über 100 Jahren.
Das Gemeindegebiet von Nenzing umfasst 110 Quadratkilometer, 80 Prozent davon gehören in Form von Alpen und Wäldern den beiden Agrargemeinschaften Nenzing und Beschling-Latz. Bei ersterer stehen heute rund 700 Mitglieder auf der Liste. Aber, und das ist das Spannende, niemandem gehört im Speziellen etwas, sondern allen gehört alles. Dies ist eine primitive Form von Kommunismus, in Form einer Dorfgemeinschaft. Im Jahr 1513 wurden alle Alpen von Nenzing auf die verschiedenen Ortsteile endgültig aufgeteilt. Das ist bis heute so geblieben. Eine Besonderheit ist, dass alle Mitglieder dieselben Nutzungsrechte an Alpen und Wäldern haben und so kein Einzelner Privilegien genießen kann. Dass man nur ein Nutzungsrecht für eine Ferienhütte hat und der Boden selbst der Agrargemeinschaft gehört, bezeichnet Gemeindearchivar Gamon wiederum als Stärke der Alpe. Er berichtet auch, dass der Jesuit und Professor Anton Ender bereits 1890 geschrieben hatte, dass „der Nenzinger Himmel eine große Zukunft vor sich habe. Die Nenzinger müssten nur ihre Einstellung zum Nenzinger Himmel aufgeben, nämlich, dass der Nenzinger Himmel nur für die Nenzinger und sonst für niemandem sei.“ Die Namensgebung Nenzinger Himmel ist eigentlich ein Spottname der Nachbargemeinden. Die Nenzinger waren immer stolz auf „ihr“ Gamperdond und schwärmten davon. So kamen die Nachbargemeinden zu dem Schluss, dass Gamperdond der Himmel für die Nenzinger sei. Eine als Spottname gedachte Bezeichnung mit Langzeitwirkung war entstanden. In der Literatur sind, zusätzlich zur Namensgebung Nenzinger Himmel, zwei weitere Schreibarten zu finden: Gamperdond und Gamperdona, welche beide stimmen.
Früher erfolgte die Bewirtschaftung der Alpe im Juni und wurde daher statt als Maisäß als Junisäß bezeichnet. Die Alpe liegt zu hoch, um früher bewirtschaftet werden zu können. Im Juli/August wurden die Tiere auf die vier Hochalpen Setsch, Panüel, Güfel und Stafeldon verteilt. Mit externen Hirten und Sennen gab es einen Vertrag für die Bewirtschaftung, welcher bis September lief. Erst 1899 wurde die Alpe Gamperdona zur Sennalpe und die vier Hochalpen rundum wurden dadurch zu Rinder- und Galtviehalpen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In den Jahren davor war Gamperdond in den Monaten Juli und August meist menschenleer. Ab der Zeit, als der Alpinismus begann, änderte sich das langsam. 
Da es im 19. Jahrhundert bereits einen gewissen Reichtum durch die Industrie gab und die Bevölkerung erstmals Freizeit hatte, kam das Wandern in Mode. Durch den Alpenverein, den ersten Kümmerer um den Tourismus, wurde in Nenzing der Antrag eingebracht, die Lindauer Hütte in Gamperdond bauen zu dürfen. Dieses Gebiet sollte neu erschlossen werden. Der Grund: Es wurde eine Verbindung, der Straußsteig, der 1890 erbaut wurde, und weiter zur Schesaplana und hinab zum Lünersee und zur Douglashütte, erstellt. Die Schesaplana war damals schon ein begehrter und sehr viel besuchter Berg und konnte nunmehr überschritten werden. Das Versprechen des Alpenvereins war, dass der Nenzinger Himmel profitieren würde. Die Gemeindevertretung lehnte diesen Antrag jedoch einstimmig ab. Man wollte Fremden keinen Besitz im Himmel geben. In Nenzing kam die Überlegung auf, diesbezüglich selbst aktiv zu werden. So wurde selbst ein Gasthaus errichtet und dies gleich dreistöckig. Im Gegensatz zu den Hütten, die nur einstöckig waren. Im Dorf wurde wegen der Größe gemunkelt, dass die Gemeinde kein Gasthaus baue, sondern ein Hotel. Dadurch blieb der Name „Hotel“ für das Alpengasthaus Gamperdona bestehen und der zweite Spottname hatte sich etabliert. Bis in die 1950er-Jahre war die Alpe Gamperdond mit den typischen Arbeiten einer Alpe verbunden. Durch den wirtschaftlichen, landwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel änderte sich die Funktion der ehemaligen Privatsennhütten. Alte Hütten wurden umgebaut und die ersten reinen Ferienhütten entstanden. In weiterer Folge änderten sich die Eigentumsrechte: Von der Gemeinde gingen sie in die 1965 gegründete Agrargemeinschaft Nenzing über. In deren Statuten ist verankert, dass keine „Auswärtigen“ Hütten kaufen dürfen. Das damit einhergehende Bürgerrecht kann nur vererbt werden. Laut Thomas Gamon soll die Alpe nicht dem Tourismus anheimfallen – was mit der heutigen Einstellung im Vorarlberger Tourismus auch gar nicht mehr möglich wäre. 
Der „Nenzinger Himmel“ ist nach wie vor einzigartig, schützens- und sehenswert. Zu allen Jahreszeiten hat das Gamperdonatal seinen unbestreitbaren Charme. Tourismus ist im kleinen Maße erwünscht oder geduldet. Ansonsten gehört die Alpe den Nenzingerinnen und Nenzingern, die das Erbe der Schönheit bewahren, aber auch voller Stolz ihren „Himmel“ gerne Gästen zeigen.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.