Céline Rüttimann
Daniel Marc Segesser

NEIN DANKE - Neue Perspektiven auf das Verhältnis der Schweiz und Vorarlbergs vor hundert Jahren

Mai 2019

In seiner letztjährigen Reise durch Österreich als „Kurier des Kaisers“ ließ ORF-Journalist Hanno Settele verlauten, dass die Vorarlberger nicht immer bei Österreich sein wollten, dass aber die Schweizer nach dem Referendum vom 11. Mai 1919 zu einem Anschluss „Nein Danke“ gesagt hätten. Eine Neubetrachtung aus Anlass des hundertsten Jahrestages zeigt nun, dass eine differenziertere Sichtweise notwendig ist und noch etliche offene Fragen bestehen.

Vor fast genau 100 Jahren, am 11. Mai 1919, stimmte die Vorarlberger Bevölkerung in einem Referendum darüber ab, ob die Landesregierung mit der Schweiz Verhandlungen über einen Anschluss aufnehmen sollte. Diese außerhalb Vorarlbergs und der Schweiz kaum bekannte Volksabstimmung ging zwar zugunsten der Schweiz aus, doch hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Schweiz einen Beitritt Vorarlbergs dankend abgelehnt und das Land daher den Namen „Kanton Übrig“ verpasst bekommen habe. Neue Untersuchungen, auch im Rahmen eines forschungsfokussierten Seminars an der Universität Bern, legen den Schluss nahe, dass hier eine differenzierte Sichtweise vonnöten ist.
Als am 3. November 1918 der Erste Weltkrieg für die Habsburgermonarchie zu Ende gegangen war, war deren Zukunft offen. Das galt besonders für die deutschsprachigen Gebiete der Monarchie, die im Rahmen der Bildung neuer Nationalstaaten übrig geblieben waren. Sollten sie eine neue Republik „Deutsch-Österreich“ bilden, wie es die Nationalversammlung in Wien am 12. November beschloss, sollten sie den Anschluss an das Deutsche Reich suchen oder existierten andere Optionen? 

Schon bald gab es in Vorarlberg erste, in Thema Vorarlberg von Peter Melichar jüngst thematisierte Bemühungen für einen Anschluss an die Schweiz, die auch dort Diskussionen auslösten. In seinem letzten Bericht an das k.u.k. Ministerium des Äußeren berichtete Legationsrat Leo Freiherr de Vaux am 30. November 1918, dass sich die Schweiz „allen Ernstes, ihren Anteil aus der allgemeinen Liquidation Mitteleuropas herausnehmen zu wollen“ anschicke. Die Vorarlberger würden dabei gar als eine „Art Urschweizer“ bezeichnet. 

Ganz so überschwänglich war die Reaktion in der Schweiz in Wirklichkeit nicht. Angesichts der allgemeinen Unruhen bei Kriegsende, die in der Schweiz im Landesstreik vom 11. November gipfelten, sorgte sich die Landesregierung vor allem darum, dass die Versorgungsprobleme in Vorarlberg von radikalen Gruppierungen als Vorwand für revolutionäre Bestrebungen genutzt werden könnten. Als wie gefährlich dabei für bürgerliche Politiker „der Bolschewik“ galt, zeigt das auf einem grenzüberschreitenden Bilderaustausch basierende Plakat der Christlich Sozialen Partei Luzern für die Nationalratswahlen vom Herbst 1919. Nicht zuletzt deshalb setzte sich der Bundesrat nach dem Abschluss des Waffenstillstandes für rasche Hilfslieferungen nach Vorarlberg ein, was der Schweiz in vielen Teilen des „Ländles“ ein gutes Image eintrug. Schon bald lagen erste Gesuche für einen Anschluss von Seiten der Deltagemeinden Höchst, Gaißau und Fußach vor. Der sogenannte Werbeausschuss um die Lehrer Ferdinand Riedmann und Paul Pirker nutzte diese Stimmung, um aktiv eine Volksabstimmung über einen Anschluss an die Schweiz anzustreben. 
In der Schweiz waren die Reaktionen gemischt. Der Bundesrat blieb in seiner Mehrheit zurückhaltend, wie das in den Diplomatischen Dokumenten der Schweiz online einsehbare Protokoll vom 2. April 1919 zeigt. Andererseits formierten sich mit der Zeit in verschiedenen Teilen des Landes, so in Bern, Genf und St. Gallen lokale und regionale Komitees mit der Bezeichnung „Pro Vorarlberg“. Diese wurden publizistisch zugunsten eines Anschlusses an die Schweiz tätig und ignorierten in ihrem von Emil Baumann entworfenen Logo geflissentlich die Existenz Liechtensteins. Auch im Oberwallis gab es namhafte Unterstützer für Vorarlberg und besonderes für deren Walser, die im Walliser Boten vom 13. Dezember 1919 sogar als «Walliser im Vorarlberg“ bezeichnet wurden. 

Besonders aktive Unterstützer Vorarlbergs waren der St. Galler Arzt, Kantonsrat und Verwaltungsrat der SBB Ulrich Vetsch, der Basler Ingenieur, Pionier der Rheinschifffahrt und Nationalrat Rudolf Gelpke sowie der Berner Literaturprofessor Gonzague de Reynold. Letzterer fungierte auch als Hauptredner einer Veranstaltung im Rathaus in Bern am 30. September 1919, wo offiziell sowohl Befürworter als auch Gegner eines Anschlusses zu Wort kommen sollten, wo sich aber primär Befürworter einfanden.

Eine eigentliche organisierte Gegnerschaft gab es nicht. Einzig im italienischsprachigen Tessin gab es eine öffentlich sichtbare Opposition, dies vor allem, weil dort die Befürchtung im Raum stand, dass der Kanton im Tausch für Vorarlberg an Italien abgetreten werden könnte. Auch in einigen Grenzgemeinden wie St. Margarethen und Buchs gab es Widerstand, weil etliche dortige Bewohner den Verlust der Arbeitsplätze beim Zoll an den Grenzbahnhöfen befürchteten.
Die Gegner eines Anschlusses hatten allerdings einige gewichtige Vorteile auf ihrer Seite. Je länger die Republik Deutsch-Österreich existierte und damit ihre Lebensfähigkeit unter Beweis stellte, desto weniger erschienen territoriale Anpassungen notwendig. Staatskanzler Renner gelang es dabei mustergültig, die Vorarlberger Bemühungen an der Friedenskonferenz in Paris ins Leere laufen zu lassen und auch die Versuche der schweizerischen Delegation, das Thema aufs Tapet zu bringen, blieben erfolglos. Ab dem Beginn der 1920er-Jahre war ein Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz kaum mehr ein Thema. Das zwischen 1921 und 1934 erschienene Historisch-Biographische Lexikon der Schweiz verzichtete im Unterschied zum späteren Historischen Lexikon der Schweiz sogar gänzlich auf einen Eintrag zu Vorarlberg.

Historisches Lexikon der Schweiz: Emil Baumann, Plakat der bernischen Sektion von Pro Vorarlberg, 1919

Ein speziell interessantes, bisher aber kaum thematisiertes Feld ist die Rolle der Frauen im Umfeld des Referendums. Bisher hat deren Bedeutung als Individuum oder im Kollektiv hinsichtlich der Anschlussfrage in der Forschung kaum interessiert und niemand hat sich wirklich darum bemüht, nach den entsprechenden Quellen zu suchen. Das ist erstaunlich, denn die Forderung „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“ vereinte viele Frauen jahrzehntelang international. Für die Österreicherinnen sorgte der Zerfall der Habsburgermonarchie dafür, dass sie ihre Rechte wahrnehmen konnten. Sie erhielten eine neue Waffe für ihre Anliegen: die Urne. Als neue Wählerinnen waren die Frauen nun plötzlich von Bedeutung und wurden von den Parteien umworben. Auch das weibliche Wahlverhalten interessierte plötzlich. Bei den österreichischen Nationalratswahlen 1920 waren die Wahlkuverts der Männer „lichtgrau“, diejenigen der Frauen „blaugrau“, wie die Vorarlberger Wacht am 18. Oktober 1920 berichtete. In der Schweiz hingegen blieb den Frauen das Stimm- und Wahlrecht 1919 vorenthalten, obwohl oder vielleicht gerade weil es eine der Forderungen des Oltener Aktionskomitees im gescheiterten Landesstreik vom November 1918 gewesen war.

Es ist eine Herausforderung, sich der Rolle der Frauen im Umfeld des Vorarl­bergreferendums zu stellen. Schweizerische Frauen hatten andere Sorgen als die aus dem „Ländle“. So schrieb die Juristin Anna Kramer-Mackenroth im Schweizer Frauenblatt, die Männer hätten ihnen erklärt, „dass auch wir Frauen, wenn wir das Stimmrecht haben, in diese Wahlbüros hineinsitzen müssen, um manchen schönen Sonntag mit diesen Rechenexempeln zu verbringen. Aber das macht uns keine Angst. Man gebe uns nur das Stimmrecht!“

Auf diesem Hintergrund dürfte es interessant sein, die Tätigkeitsschwerpunkte von Frauenvereinen in der Schweiz und in Vorarlberg näher zu betrachten. Auch individuelle Frauen verdienen mehr Aufmerksamkeit. Dazu zählt die an verschiedenen Hilfsaktionen beteiligte Präsidentin des Schweizerischen gemeinnützigen Frauenvereins, Bertha Trüssel. Sie war nämlich Mitglied eines Hilfsausschusses des Bernischen Komitees Pro Vorarlberg. Von ihrer Arbeit in diesem Zusammenhang ist bisher aber kaum etwas bekannt. Hauptschwierigkeit ist in diesem Zusammenhang sicherlich die Quellenlage, aber durch beharrliches Suchen werden sicherlich neue Erkenntnisse zutage gefördert.
Es gibt aber noch etliche weitere offene Fragen: Warum blieb Vorarlberg das sonst so oft diskutierte Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten? Welche Rolle spielten die Textilindustrie oder die Verbindungen zwischen Walsern und dem Wallis? Welche Bedeutung hatten sprachliche Verwandtschaften? Welche Auswirkungen hatten die Diskussionen über einen Anschluss an die Schweiz für die Bemühungen zur Regulierung des Rheins oder die Entwicklung des Tourismus bzw. die wirtschaftliche Entwicklung im Montafon? 

An solchen Fragen arbeiten Studierende im Rahmen des forschungsfokussierten Seminars an der Universität Bern im Frühjahrssemester 2019, welches Anfang Juni auch eine Intensivwoche in Vor­arlberger Archiven umfassen wird.

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