Sabine Barbisch

„Putin hat die Oligarchen nur gezähmt“

Juni 2022

Elisabeth Schimpfössl forscht und lehrt an der Aston Universität in Birmingham. Eines ihrer Spezialgebiete sind Eliten. Mit ihrem Buch „Reiche Russen“ beleuchtet sie das Leben russischer Oligarchen.

Schon seit über zehn Jahren erforscht die Soziologin Elisabeth Schimpfössl das Leben reicher Russen. Im Jahr 2018 wurde ihr Buch „Reiche Russen“ veröffentlicht, dafür hat sie zwischen 2008 und 2017 rund 80 Interviews mit Oligarchenfamilien geführt, ein Drittel davon Milliardäre. Aktuell ist diese sehr kleine, aber besonders reiche Elite vor allem vor dem Hintergrund der verhängten Sanktionen im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine medial sehr präsent. „Der Aufstieg der russischen Oligarchen beginnt in den 1990er-Jahren, als es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu großen politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen kam und eine kleine Gruppe von Männern sehr von den Privatisierungen staatlicher Unternehmen profitiert hat“, erklärt die Russland-Expertin, die in Rankweil aufgewachsen ist. Unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin hätten sich die Oligarchen die Staatsgeschäfte regelrecht unter den Nagel gerissen. Im Jahr 1996 steckten sie dann viele Millionen in eine riesige Propagandakampagne, um dessen Wiederwahl und damit auch ihre neuen Reichtümer zu sichern, denn sie fürchteten sich davor, dass diese ihnen bei einem Wahlgewinn des hochpopulären Konkurrenten der kommunistischen Partei wieder enteignet werden könnten. Dann kam im März 2000 Wladimir Putin an die Macht. Zuerst entmachtete er die Oligarchen mit den größten Medienunternehmen und beförderte sie ins Ausland. Dann, im Jahr 2003, bezwang Putin Michail Chodorkowski, der damals im Besitz der größten privaten Ölfirma Russlands war und seine eigene politische Agenda zu eigensinnig verfolgte; Chodorkowski verbrachte darauf zehn Jahre in einem sibirischen Gefängnislager. 

Wladmir Putin und die Oligarchen

Seither hat sich die Vorstellung verbreitet, dass es mit der Macht der Oligarchen vorbei sei, führt Schimpfössl, die Soziologie an der Aston Universität in Birmingham lehrt, aus: „Das stimmt so nicht, Putin hat die Oligarchen nur gezähmt. Er hat den Oligarchen lediglich klargemacht, dass sie ihre eigenen politischen Ambitionen bleiben lassen sollten. In allen anderen Belangen hat Putin durchwegs im Interesse der Oligarchen gehandelt. Das begann mit einer Einheitssteuer von 13 Prozent.“ In den 2000er-Jahren folgten dann weitere Privatisierungen, die den Oligarchen zugutekamen, und viele dieser seien zwar weniger skandalös als jene in den 1990er-Jahren, aber in ihren Dimensionen unvergleichbar größer gewesen. Der Ölboom verbesserte dann zwar den Lebensstandard der russischen Bevölkerung insgesamt. Die Oligarchen bereicherten sich aber um ein Vielfaches mehr – nicht zuletzt dank der Wirtschaftspolitik des Kremls. „Dies führte dazu, dass Russland seit den frühen 2010er Jahren in Sachen Vermögensungleichheit weltweit in den obersten Rängen vertreten ist“, weiß Schimpfössl. 

Zwischen Krieg und Sanktionen

Die Russland-Expertin ist überzeugt, dass Putin die Oligarchen mit der Entscheidung für den Einmarsch in der Ukraine übergangen hat. Für jeden der Oligarchen sei der Krieg ein Schock gewesen: „Überhaupt ist es das erste Mal, dass Putin gänzlich gegen ihre Interessen gehandelt hat, denn der russische Präsident ist so lange an der Macht, weil er es immer geschafft hat, die Interessen der verschiedenen Machtgruppen auszubalancieren. Wenn er die Oligarchen als gesamte Gruppe verliert, gerät diese Balance ins Wanken. Dieses Risiko hat er mit diesem Krieg in Kauf genommen.“ Die Zögerlichkeit des Westens, gleich von Kriegsbeginn an Oligarchen zu sanktionieren, habe Putin allerdings in die Hände gespielt: „Die einzelnen Oligarchen, die nach und nach von Sanktionen betroffen waren, versuchten alle für sich eine Lösung zu finden und ihre Haut zu retten. Viele unter ihnen sahen ihren Ausweg darin, sich besonders eifrig um die Gunst Putins zu bemühen – anstatt sich, wie gehofft, gegen den Krieg auszusprechen.“ Manche halten sich alle Karten offen, ohne aber den Kreml zu vergrämen. Einer dieser Oligarchen ist der milliardenschwere Oligarch Oleg Deripaska: „Zu Kriegsbeginn schrieb er, der Krieg müsse enden, wenig Tage später warnte er vor dem riesigen Atomwaffenarsenal der Ukraine. Einerseits will er den Kreml nicht verärgern, andererseits sich selbst schützen.“ Dass sich die einzelnen Oligarchen gegenseitig ausspielen, komme Putin sehr zugute. Laut Elisabeth Schimpfössl wird Oligarchengeld in Krisensituationen gerne als Geldspritze verwendet. Außerdem seien die Oligarchen große Arbeitgeber, die man nicht verlieren wolle: Fast alle unter ihnen erwirtschaften das große Geld auf russischem Boden; manche beschäftigen bis zu 100.000 Arbeitnehmer:innen, ihre Produktionsstätten sind oft auf monowirtschaftlichen Städte konzentriert. 

Propaganda wirkt nach wie vor

Anders als es hierzulande oft wahrgenommen wird, würden den Kreml Demonstrationen in Großstädten für Oppositionelle wie Nawalny oder aktuell gegen den Krieg in der Ukraine wenig kümmern, weiß Schimpfössl: „Was den russischen Staat tatsächlich nervös macht, sind soziale Unruhen unter der normalen Bevölkerung. Für den Kreml wäre es eine Katastrophe, wenn diese Menschen auf der Straße stünden!“ So weit ist es aber noch lange nicht, schon allein wegen der wirksamen Propaganda, der die russische Bevölkerung Tag für Tag aus ausgesetzt ist. Hierzulande hingegen wird die öffentliche Debatte stark von den Sanktionen gegen russische Oligarchen geprägt, wenn etwa Alisher Usmanov seine Yacht verliert oder Oleg Deripaska das Hotel „Aurelio“ in Lech verkaufen muss. Vorgänge, welche die Soziologin durchaus kritisch sieht: „Wenn das so stimmt, dass Deripaska sein Hotel verkaufen konnte, dann ist das doch seltsam. Und Usmanow hat seine Yacht auch nicht verloren. Er darf sie nur vorübergehend nicht benutzen.Eigentümer ist er nach wie vor.“

Zur Person Elisabeth Schimpfössl

Soziologin, ist in Rankweil aufgewachsen. Seit 2007 lebt sie in Großbritannien. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt ist die Eliten-Forschung.

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