Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Meredith Haaf © Tanja kernweiss

„Schweigen vergrößert den Abstand zur Welt“

Oktober 2018

Meredith Haaf (35) fordert in ihrem aktuellen Buch die Menschen auf, sich mehr zu streiten – konstruktiv zu streiten. Doch scheinen die für einen Streit notwendigen Fähigkeiten mittlerweile verlernt, der Zeitgeist will nur Positives, die Gesellschaft in erster Linie Reibungslosigkeit. Die Autorin und Journalistin der „Süddeutschen“ sagt im Interview mit „Thema Vorarlberg“ deswegen unter anderem: „Ein Konsens, der nur erhalten wird, weil wir uns mit polarisierenden Fragen nicht auseinandersetzen, ist nichts wert!“

Beginnen wir mit einem schönen Satz aus Ihrem Buch. Sie schreiben: „Das Zeitalter des Zorns ist in vielerlei Hinsicht ein Zeitalter der wortgewaltigen Spracharmut.“

Es ist uns in gewisser Weise die Sprache abhandengekommen, die es braucht, um sich mit politischen Differenzen auseinanderzusetzen. Sie erscheinen immer häufiger als unüberbrückbare Kluft statt als Gegenstand einer Verständigung. Es mangelt an einem Werkzeug für respektvolles Gegeneinander. Und das erzeugt Frust und Isolationsgefühle. Die Eskalation in vielen politischen Arenen dieser Welt liegt im Fehlen der gemeinsamen Sprache begründet.

Die Gesellschaft polarisiert sich zusehends …

Konflikthaftigkeit ist das Grundgefühl unserer Zeit. Die Zahl der Konflikt-Interaktionen im öffentlichen Raum steigt an, in vielen Bereichen. Die Leute fühlen sich in unserer gereizten Gesellschaft immer stärker unter Druck. Es gibt den Wunsch, den eigenen Raum abzugrenzen und sich gegen unbotmäßige Eingriffe zu verteidigen. Das liegt ganz praktisch an der Verdichtung der Ballungszentren; da beobachten wir, dass Konflikte im Alltag zunehmen. Es gibt diese Art der Gereiztheit aber auch zunehmend im politischen Denken. Da ist der Einzelne oft schon damit überfordert, dass ein anderer die Dinge ganz anders sieht. Mir geht es nicht darum, dass man immer entspannt mit jeder noch so problematischen oder konträren Meinung umgeht, sondern dass man ein Gefühl für den angemessenen Umgang damit hat. Dieser Mangel an Souveränität führt zu Überforderung, viele stehen deswegen unter einem permanenten Reiz – und das ist wiederum eine sehr schlechte Voraussetzung, um wirkliche Konflikte zu klären.

Sie schreiben, dass sich im Umgang mit Konflikten einige der größten Widersprüche unserer Zeit ergeben würden. Welche Widersprüche sind denn da gemeint?

Wir leben – in Deutschland, in Österreich, in den meisten europäischen Ländern – in demokratisch organisierten Gesellschaften. Ein demokratisches System verlangt seinen Bürgern ab, sich zu beteiligen, sich zu positionieren, sich für gewisse Ziele und Ansichten zu streiten. Und man braucht Beharrungsvermögen, um eine politische Position durchdenken und auch argumentieren zu können. Gleichzeitig verlangt die Gesellschaft ein hohes Maß an Kooperation. Unsere Alltagskultur fordert und fördert Reibungslosigkeit und Harmonie; Konflikte wollen wir lieber wegmanagen als ausfechten. Streit ist da nicht vorgesehen. In einer Demokratie sollte man streiten, im Alltag ist das dagegen nicht erwünscht. Ein zentraler Widerspruch!

Sie messen den Medien da eine entscheidende Rolle zu.

Unsere Wahrnehmung der Welt ist mehr denn je von Medien beeinflusst, von Medien, die in ihren Narrativen immer konfliktgetriebener sind und immer noch schneller Informationen vermitteln. Der Mensch konsumiert über Medien also immer mehr Konflikte, kommt mit diesen Konflikten aber nicht klar, das ist ebenfalls ein Widerspruch, der nur sehr schwer aufzulösen ist. Denn in der Sozialisation der Bürger ist über Jahrzehnte hinweg die Fähigkeit, sich streiten zu können, als nicht besonders wichtig erachtet worden. Immer mehr Menschen wissen deshalb gar nicht, warum sie sich überhaupt streiten sollten – oder was ein konstruktiver Streit überhaupt bringen kann. Es gibt, wenn es um Streit als gesellschaftliches Phänomen geht, also eine seltsame Gleichzeitigkeit von zu viel und zu wenig.

Sagen sie deshalb: „Wir müssen streiten. Aber wir können das nicht.“?

Die meisten Menschen werden sich relativ einig sein, dass alle Gesellschaften vor großen politischen Herausforderungen stehen, auch durch diese Polarisierung. Teile entfernen sich immer weiter von der Mitte der Gesellschaft, das sieht man in Deutschland, das sieht man in Österreich. Die politischen Auseinandersetzungen werden härter, verbale Gewalt nimmt zu. Doch wenn wir nicht wollen, dass sich unsere Gesellschaften in eine autoritäre Richtung entwickeln, wenn wir nicht wollen, dass die Sehnsucht immer stärker wird nach einem starken Managerstaat, der alle Differenzen unterdrückt zugunsten einer bestimmten Ideologie, dann ist eines klar: Jeder Einzelne muss seine demokratischen Grundfähigkeiten schulen!

Soll heißen?

Die zentrale demokratische Grundfähigkeit ist eben die, eine eigene Position zu entwickeln und für die dann einzutreten. Und zwar nicht nur gegenüber Gleichgesinnten, sondern auch gegenüber Menschen, die andere Positionen einnehmen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, das muss man schon ein bisschen üben, und die Voraussetzungen müssen stimmen. Die werden dadurch erschwert, dass sich immer weniger Menschen in den klassischen Institutionen politischer Bürgerschaft engagieren: Es gibt Mitgliederschwund bei den meisten Parteien, bei den Gewerkschaften und damit auch immer weniger Foren, innerhalb derer wir diese Fähigkeiten üben könnten. Anstelle klassischer Diskussions- und Streitforen sind soziale Netzwerke getreten. Doch Social Media bedient nur zwei Grundreflexe: Den Wunsch nach Anerkennung oder die Absicht, mit Provokation aufzufallen. Soziale Netzwerke schaffen Filterblasen, Menschen verfangen sich in Selbstbestätigungszyklen; all das ist nicht hilfreich, um sich mit offenem Visier einer öffentlichen Auseinandersetzung oder einem Konflikt im Beruf stellen zu können.

Sie stellen fest: „Für die eigene Position einstehen, die andere auszuhalten, das können nur noch wenige.“

Andersdenkende sind eine Bedrohung, weil sie einem Haltung abverlangen. Widerspruch auszuhalten, Widerspruch nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung zu sehen, das fällt vielen schwer. Das hat mit Angst und mit Unsicherheit zu tun. Man muss aber auch sagen, dass – beispielsweise – in sehr vielen Unternehmen eine Feedback-Kultur gar nicht erwünscht ist. Im dominierenden Zeitgeist gilt es als erstrebenswert, immer möglichst positiv und konstruktiv zu sein, man hat sich nur bejahend zu artikulieren. Und wenn man dann einmal in die Situation gerät, etwas zu kritisieren, dann kann sich die eigene Position plötzlich ganz schwierig anfühlen und ganz prekär; Kritik wird umgehend sozial sanktioniert. Und eine der Folgen ist, dass sich die einen in ihrer Ohnmacht, die anderen in ihrem Lärm abkapseln.

Wobei der Lärm von den wenigen ausgeht.

Ja. Ein kleiner Teil der Gesellschaft schreit, der große Teil zieht sich zurück, so kann man das beobachten. Was wir jetzt erlebt haben, mit den rechtsradikalen Ausschreitungen in Sachsen, das ist da bester Beweis: Wenige Menschen sind extrem sichtbar und extrem laut. Chemnitz war aber nur die Eskalation von Prozessen, die schon lange stattfinden: Kleine, relativ radikale, aber lautstarke Gruppierungen schaffen es immer wieder, Aufmerksamkeit zu generieren; während sich eine große Gruppe von Menschen – übrigens oft die, die es sozial viel nötiger hätte, repräsentiert zu werden – zurückzieht. Mit den Sozialen Medien ist das ähnlich: Bestimmte Leute, rechts wie links, nutzen ihre Werkzeuge, um einen konstanten Lärmpegel zu verursachen; einen Lärmpegel, der nichts vorantreibt, der keine Gedanken formuliert, der meist nur der Selbstbestätigung der eigenen Meinung dient.

Auch klassische Medien befeuern den Lärm der Ränder. Über Gebühr!

Auf jeden Fall! Aber die Medien repräsentieren auch, sie sind ja nicht abgekoppelt von der Gesellschaft. Jede Gesellschaft hat die Medien, die sie verdient.

 

Sie schreiben auch, dass es in der Gesellschaft zwar viel Meinung, aber nur wenig Kritik gebe, wie ist denn das gemeint?

Kritik ohne Verbindlichkeit ist Wüten im leeren Raum, das ist einfach nur Meinung. Das wird oft verwechselt. Heute gilt schon als Kritik, wenn einer nur sagt, er sei dagegen, Argumente oder Referenzen aber schuldig bleibt. Der fühlt sich dann als Gesellschaftskritiker. Die Fähigkeiten, Kritik zu üben, aber auch sie entgegenzunehmen und etwas aus ihr zu machen, sind vollkommen unterentwickelt. Das zeigt sich auch immer wieder bei Politikern. Leider taucht der US-Präsident in meinem Buch öfters auf, aber eben nur, weil Trump paradigmatisch für den Politiker – und den Menschen – steht, der absolut ungewillt und absolut unfähig ist, mit jeglicher Kritik zuzugehen. Trump hat nur zwei Strategien: Abbügeln oder Bekämpfen bis aufs Blut. Der Kritiker ist immer sofort der Feind. Trump ist nur ein extrem prominentes Beispiel für eine Tendenz, die man auch im kleineren und im mittleren Maßstab beobachten kann.

Noch so ein Zitat von Ihnen, das zum Nachdenken anregt: „Zu oft herrscht Schweigen, wo weitergeredet werden sollte und aufgeregtes Geschrei, wo es zuzuhören gilt.“

Die Nichtbereitschaft, zu diskutieren und die abnehmende Kritikbereitschaft führt zu diesem Schweigen. Aber Schweigen ist eine Form des Kontaktverlusts. Es vergrößert den Abstand zur Welt. Und was die Sache mit dem Zuhören betrifft: Die Kunst zu streiten ist auch die Kunst, den anderen zu Wort kommen zu lassen. Wenn der erste Schritt zur Klärung eines Problems ist, dass man sagt, was man sagen muss; dann ist der zweite Schritt, dass man hört, was man hören muss. Wenn man selber gehört werden möchte, muss man umgekehrt auch hören. Auch wenn das schwerfallen mag, im Streit sich anzuhören, was man sich eigentlich nicht anhören will – es hilft. Es ist die Chance, den anderen besser zu verstehen. Hört man zu, ermöglicht man sich selbst auch eine Pause, das ist wichtig, um auch das eigene Sprechen zu reflektieren.

Was ist denn der große Nutzen eines konstruktiven Streits?

Man lernt etwas über seinen Gegner. Man lernt aber auch immer etwas über sich selbst. Streit kann viel seltener etwas entscheiden, als wir uns das wünschen würden, aber Streit ist für mich immer Klärung. Konflikte gehören zum gemeinsamen menschlichen Leben dazu, auch wenn das wie eine Binsenweisheit klingen mag. Aber der einzige Weg, Konflikte zu lösen, wenn wir nicht in vordemokratische Zeiten verfallen wollen, wo nur noch mit Gewalt geantwortet wurde, ist eben der, sich zu streiten. Ich streite auch gerne, weil es eine Herausforderung ist, es macht doch total Spaß, es ist eine intellektuelle Herausforderung, sich und seine Argumente im Streit zu testen. Das ist eine Facette unserer Menschlichkeit, die oft vernachlässigt wird. Für mich ist Streitfreude auch eine Chance, ein interessanteres Leben zu führen.

Sie rufen an einer Stelle ja lauthals aus: Welch’ ungeheure Freiheit doch im Streiten-Können und im Streiten-Dürfen liegt!

Es gibt keine Freiheit ohne Dissens. Demokratie ist ohne Auseinandersetzung nicht zu haben. Wenn man sich überlegt, wie viele Menschen in Ländern leben müssen, in denen man nicht einfach seine Meinung frei äußern kann, oder wenn man daran zurückdenkt, wie das in der NS-Zeit gewesen sein muss – nicht sagen zu können, was man sagen will, nicht streiten zu können, weil es zu riskant war. Warum also schaffen wir uns immer diesen Zwang? Es gibt doch gar einen Grund dafür, wir haben all die Instrumente, die benötigt werden, um konstruktiv streiten zu können – die Sprache, die Zivilisationsregeln, die Meinungsfreiheit. Dann sollten wir das doch nutzen! Ein Konsens, der nur erhalten wird, weil wir uns mit polarisierenden Fragen nicht auseinandersetzen, ist nichts wert! Bisweilen beneide ich übrigens die Älteren um ihre Fähigkeit zur Kritik. In meiner Generation ist die Konfliktfreude jedenfalls unterentwickelt.

Trifft das auch auf Sie zu?

Ich würde mich tendenziell als streitbereit und streitfähig bezeichnen. Auch wenn es nicht immer angenehm ist, widerspreche ich, wenn es notwendig ist und erkläre mich, wo es gefordert ist. Ich kann gar nicht anders.

Vielen Dank für das Gespräch!

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