
Wende-Zeit. Zeitenwende
Das 1989 vom Politikwissenschaftler Fukuyama ausgerufene Fortschrittsnarrativ hat nicht gehalten. Die fetten politischen Jahre mit der weltweiten Ausbreitung der Demokratien, mit freien Marktwirtschaften und steigendem Wohlstand für viele sind vorbei. Aber was bringt die Zukunft? Drei Szenarien sind denkbar.
Wir sind mit einem neuen politischen Begriff konfrontiert: dem Verlust. Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz nennt den Verlust ein Grundproblem der Moderne. Er weist damit auf grundlegende Veränderungen hin, mit denen wir konfrontiert sind und die uns vor besondere Herausforderungen stellen.
Erinnern wir uns an das Jahr 1989. Francis Fukuyama schreibt in der Zeitschrift „National Interest“ einen Artikel, in dem er das Ende der Geschichte und den Sieg des Liberalismus ausruft. Fukuyama stellt dar, dass sich die liberale Demokratie gegen alle anderen Staats- und Wirtschaftssysteme durchsetzt. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und der Fall des Eisernen Vorhangs, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Entwicklung zu demokratischen und marktwirtschaftlichen Strukturen bestätigten seine Thesen. Sein, im Jahre 1992 erschienenes Buch „Das Ende der Geschichte“ wird zu einem weltweiten Bestseller. Sein Fazit: Wirtschaftswachstum, Handel statt Krieg und Demokratien sind unsere Zukunft.
30 Jahre später schaut alles ganz anders aus. Russland führt einen Krieg in der Ukraine und will zu alter Stärke zurück. Chinas Langzeitvision gilt einer wirtschaftlichen und militärischen Augenhöhe mit den USA, Afrikas Kapital ist seine Jugend, während wir eine alternde Gesellschaft werden. Der Sturz Assads wird den Nahen Osten verändern und neue Einflusssphären schaffen.
Neue Bedrohung
Unser neuer EU-Verteidigungskommissar Kubilius warnt bereits vor einem möglichen Angriff Russlands auf die baltischen Staaten. Der Kreml produziere laufend Panzer für einen neuen möglichen Krieg in Europa. Zitat: „Um ehrlich zu sein, sind wir nicht ausreichend auf einen Angriff vorbereitet. Es wird Jahre dauern, bis wir in Europa die Fähigkeiten haben, die in den Nato-Plänen gefordert werden.“ Vom neuen Nato-Generalsekretär Mark Rutte gibt es ähnliche Aussagen. Auch er plädiert dafür, einen Angriff Russlands auf den Westen ins Auge zu fassen und sich militärisch darauf vorzubereiten.
Ein weiterer, der diese Position unterstützt, ist der deutsche Historiker Herfried Münkler. Der Rückzug der USA aus der Rolle eines Hüters der globalen Ordnung sei zu erwarten. Dabei dürfe nicht vergessen werden, dass die USA für die Verteidigungsfähigkeit der Nato mehr beigetragen haben als alle europäischen Mitgliedsstaaten zusammen. Wenn Trump die US-Garantien für Europa in Frage stellen wird, müssen wir uns sicherheitspolitisch auf die eigenen Füße stellen. Größere militärische Fähigkeiten müssen aufgebaut werden, inklusive einer nuklearen Abschreckungskomponente. Dies alles wird unsere Budgets enorm herausfordern, zu Umschichtungen führen und den Wohlfahrtsstaat verändern. Diese Entwicklung kann zu enormen politischen Auseinandersetzungen im Inneren der Staaten führen. In diesem Zusammenhang berichtet Münkler von einer möglichen großen Zeitenwende: Um die Konflikte im Inneren abzuwenden, könne man sich Russland und seinen politischen Erwartungen annähern. Sollte Trump tatsächlich Strafzölle einführen, würden jene Kräfte wieder stärker werden, die ein Ende der Sanktionen gegen Russland und die Wiederaufnahme der russischen Erdöl- und Gaslieferungen fordern. Münkler weist darauf hin, dass Polen und die baltischen Staaten sich einer solchen Entwicklung widersetzen, aber zu schwach sein werden, den Lauf der Dinge aufzuhalten.
Die Konsequenz des Ganzen wäre, dass an der Stelle eines transatlantischen Westens das geopolitische Konzept eines eurasischen Raumes treten würde, der von Lissabon bis Wladiwostok reicht und in dem Moskau den Ton angibt.
Der kurze Weg nach Osten
Dies alles ist sicher nicht im Interesse der USA. Aber Trumps „Amerika first“ könnte diese Zeitenwende gedanklich möglich machen. Herfried Münkler beendet seinen Essay im Spiegel vom 16.11.2024 folgendermaßen: „Auf dem langen Weg nach Westen, als den der Historiker Heinrich August Winkler die deutsche Geschichte interpretiert hat, könnte der kurze Weg nach Osten folgen.“
Zu diesen Positionen gibt es aber auch eine Gegenposition. Die NZZ hat im Dezember einen Artikel veröffentlicht, in dem die Auffassung vertreten wird, dass die militärische Stärke Russlands nicht ausgereicht habe, neben dem Ukraine-Konflikt auch noch in Syrien einzugreifen. So musste Russland zusehen, wie Teile seiner militärischen Anlagen in Syrien zerstört wurden. Der NZZ-Artikel schließt mit der Feststellung, dass die militärische Stärke Russlands überschätzt und es Jahre dauern werde, bis Russland nach dem Ukraine-Krieg wieder zu einer tatsächlichen Bedrohung Europas in der Lage wäre.
Täglich werden wir mit den Fakten einer wirtschaftlichen Stagnation konfrontiert. Deutschland schwächelt bereits das dritte Jahr. Für 2025 ist laut jüngstem OECD-Bericht ein Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent prognostiziert. Die Automobilwirtschaft ist in einer großen Krise. Wir in Österreich und auch in Vorarlberg sind als Zulieferer stark betroffen.
Im Wochentakt verkünden die großen Systemlieferanten, die etwa Getriebe, ganze Motoren oder Softwaremodule produzieren, derzeit Stellenstreichungen. Bei Bosch sollen in den nächsten Jahren 3900 Stellen wegfallen, bei ZF Friedrichshafen bis zu 14.000, bei Continental läuft seit 2020 ein Programm, um mit 1300 Leuten weniger auszukommen. Schaeffler will in Deutschland 2800 Stellen abbauen. Die österreichische Situation setze ich als bekannt voraus. Kika-Leiner, Signa und KTM sind die bekanntesten Namen, die Insolvenz anmelden mussten.
Die Zeit der günstigen Energielieferungen aus Russland ist vorbei. Viele energieintensive Produktionsfirmen sind dabei, ihre Erweiterungsinvestitionen in den USA durchzuführen. Die Energiekosten sind viel geringer und falls Trump Strafzölle auf Einfuhren beschließt, hat man bereits einen Standort in den USA und muss keine Zollgebühren zahlen.
Vom Hass auf den Westen
Demokratische Staatsformen gehen weltweit zurück. In vielen Schwellenländern schaut man bewundernd auf autoritäre und staatskapitalistische Modelle, wie beispielsweise in China. Anne Applebaum beschreibt in ihrem Buch „Die Achse der Autokraten“, wie illiberale Modelle und autoritäre Staatsformen, wie beispielsweise in Ungarn, zunehmen. Applebaum weist darauf hin, dass es große Unterschiede zwischen dem Kommunismus Chinas, dem Nationalismus Russlands, dem Sozialismus Venezuelas, der Dschutsche-Ideologie Nordkoreas und der radikalen Schia der islamischen Republik Iran, gibt. Auch gibt es große Unterschiede zu den arabischen Monarchien oder den „softeren“ Autokratien, wie die Türkei, Singapur, Indien, den Philippinen oder Ungarn.
Applebaum beschreibt den Zusammenhalt dieser Staaten nicht mit einer gemeinsamen Ideologie, sondern mit der skrupellosen Entschlossenheit, mit der sie sich bereichern und an der Macht halten. Sie spricht deshalb von der „Achse der Autokraten“. Zu den bereits benannten Staaten fügt sie drei Dutzend weitere hinzu – von Nicaragua bis Aserbeidschan. Für alle diese Staaten gibt es einen Feind: Den Westen, die Nato, die EU, die Opposition im eigenen Land. Und gemeinsam ist auch deren Hass auf die Demokratie.
Kein Ende der Geschichte
Das Fortschrittsnarrativ Fukuyamas hat nicht gehalten. 2008 hatten wir die Finanzkrise, Migrationskrisen in den USA und Europa. Ihre Nicht-Bewältigung konfrontiert uns mit den politischen Auswirkungen in Form des Aufstiegs rechter und linker populistischer Strömungen.
Das Brexit-Referendum, die Wahl Trumps 2016 und 2024, der Sturm auf das Kapitol, die Covid-Pandemie, die russische Invasion in der Ukraine, die neue Lage in Syrien, die geopolitischen Spannungen zwischen China und dem Westen sind dabei, unseren Glauben an einen endgültigen und ewigen Fortschritt zu zerstören.
Der Ausbau liberal-demokratischer Polit-Systeme, die in den 1990er Jahren stattfanden, stehen vor einer Rückabwicklung. Ein Vertrauensverlust in die Demokratie schleicht sich ein, China wird als mögliche Systemalternative genannt, Freund und Feind kommen als politische Kategorie zurück. Die fetten politischen Jahre mit der weltweiten Ausbreitung der Demokratien, mit freien Marktwirtschaften und steigendem Wohlstand für viele sind vorbei.
Und wie kann die Zukunft aussehen? Reckwitz beschreibt drei mögliche Szenarien.
Drei Szenarien
Szenario eins: Wir machen weiter wie bisher. Es wird weitere Modernisierungsverlierer geben, aber die Moderne wird weitergeführt. Der Schwerpunkt wird jedoch nicht mehr in Europa oder Nordamerika liegen, sondern in anderen Weltregionen, beispielsweise in Ostasien.
Szenario zwei beschreibt einen Zusammenbruch der Moderne durch einen Atomkrieg oder eine Pandemie. Wenn diese Fälle nicht eintreten, gibt es einen nachmodernen Gesellschaftsprozess, der vom Klimawandel, einer demokratischen Rezession, Finanzkrisen, Versorgungskrisen oder einer galoppierenden Inflation bestimmt wird. Wenn bestimmte Kipppunkte überschritten werden, kommt es zu Zusammenbrüchen. Konkret gibt es dann einen Kampf ums Überleben – oder es kommt eine nachmoderne Zeit, die aus kleinen ländlichen Selbstversorgungsgemeinschaften mit hoher Widerstandsfähigkeit besteht.
Das dritte Szenario repariert die Moderne. Unsere Gesellschaft, wie wir sie kennen, existiert weiter, aber wir werden uns um ökologische Gleichgewichte und friedliche Verhältnisse bemühen müssen. Oft wird es ein Erfolg sein, das Erreichte zu erhalten. Fortschritt wird neu definiert. Die Politik wird herausgefordert sein, einen fairen Ausgleich zwischen Gewinnern und Verlierern der Entwicklung herzustellen. Andreas Reckwitz schließt sein Buch mit folgenden Sätzen: „Die Moderne war von Anfang an von einem mitreißenden Ideal der Jugendlichkeit geprägt, die sich von Neubeginn und Zukunft speiste. Nach 250 Jahren wird es Zeit, dass sie erwachsen wird und lernt, klug mit Verlusten umzugehen.“
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