„Und dann kann Österreich die Welt inspirieren“
Bestehendes lässt sich optimieren. Was aber, wenn das Bestehende falsch ist? Der deutsche Umweltpionier Michael Braungart (65) sagt im Interview: „Wir machen die falschen Dinge perfekt, und damit nur perfekt falsch. Würden Produkte von Anfang an intelligenter gestaltet, müssten wir weder an Verschmutzung oder Abfall noch an Verzicht denken.“ Ein Gespräch mit dem Chemiker und Cradle to Cradle-Mitbegründer – über Recycling-Lügen, heimische Vorzeige-Unternehmen und die potenzielle Innovationsregion Vorarlberg.
Herr Braungart, Sie haben inzwischen mehrere Unternehmen in Vorarlberg besucht und beraten, welchen Eindruck haben Sie denn von Land und Leuten gewonnen?
Das Schöne an diesem Land ist, dass die Menschen zusammenhalten und am Gemeinwohl stark interessiert sind. Sie vertrauen sich gegenseitig, und das hat wohl auch damit zu tun, dass Vorarlberg in gewisser Weise immer auf der Suche nach der eigenen Identität war. Und nach wie vor ist. Da ist Vertrauen wichtig, wissen Sie? Denn Bestehendes lässt sich mit jedem Schulbuch optimieren. Für Neues braucht man aber Vertrauen und Verlässlichkeit. Und da hat Vorarlberg ideale Voraussetzungen, um eine Innovationsregion sein zu können.
Und welche Potenziale der Kreislaufwirtschaft haben Sie entdeckt?
Es gibt in Vorarlberg eine Vielzahl von intakten Ketten. Und es gibt eine Vielzahl an Unternehmen, die diese Ketten aktiv unterstützen, indem sie beispielsweise Lebensmittel aus der Region beziehen und sich auch in anderen Bereichen gegenseitig helfen. Nehmen Sie als Beispiel nur die Textilkette: Die ist völlig intakt, das braucht man in dieser komplexen Welt, Unternehmen wie Mary Rose, Wolford und andere sind deswegen von zentraler Bedeutung. Man könnte in diesem Bereich tatsächlich Blaupausen zur Zukunft der Welt schaffen, die dann – beispielsweise – in China oder in Indien umgesetzt werden könnten. Vorarlberg …
Ja, bitte?
Vorarlberg könnte wirklich gestalten. Und eine Blaupause liefern. Und das ist das Entscheidende. Wenn es uns nicht gelingt, die Menschen in Asien, in Afrika und in Lateinamerika dazu zu inspirieren, anders zu denken, dann ist das, was wir tun, nicht mehr als eine schöne Beschäftigungstherapie. Denn nur zu predigen, ohne etwas ändern zu können, ist ja praktisch eine Eunuchentätigkeit. Der gesamte CO2-Ausstoß Deutschlands ist beispielsweise weit geringer als der CO2-Ausstoß allein der chinesischen Zementindustrie.
Sie sagen ja, dass die meisten Menschen falsche Vorstellungen von Umweltschutz haben.
Mach weniger Müll, reduziere den Energieverbrauch, das schützt die Umwelt. So denkt man vielfach. Aber man schützt ja die Umwelt nicht, indem man sie nur etwas weniger zerstört. Ich schütze mein Kind ja auch nicht, wenn ich es nur fünfmal anstatt zehnmal schlage. Und wenn ich an all diese Unternehmen denke, die klimaneutral sein wollen! Ich komme doch auch nicht nach Hause und sage, ab sofort bin ich kinderneutral. Was soll denn das sein? Ich will doch gut zu meinen Kindern sein. Und nicht neutral.
Die Menschen sollten also klimapositiv sein. Und nicht klimaneutral?
Ja! Wenn wir das lernen, dann ändern wir wirklich etwas. Es ist wichtig, zu begreifen, dass wir für unseren Planeten nützlich sein sollen und nicht nur weniger schädlich. Man muss verstehen, dass ein Produkt, das Abfall wird, einfach nur ein schlechtes Produkt ist. Bis der Mensch versteht, dass er das einzige Lebewesen ist, das Abfall macht, und die Welt dabei zu einer Müllkippe wird, wird es noch einige Zeit dauern. Die Menschheit hat ja auch Jahrhunderte gebraucht, um zu begreifen, dass die Erde keine Scheibe ist.
Viele Umweltschützer predigen, dass uns nur der Verzicht in eine gute Zukunft führe.
Verzichten? Da macht man den Kunden zum Feind. Und mit vermeiden, sparen, reduzieren optimiert man nur Bestehendes. Aber wenn das Bestehende falsch ist? Wenn ich eine Plastikflasche zehn Prozent leichter mache, dann ist sie immer noch eine Plastikflasche. Autoreifen halten heute zwar doppelt so lange wie noch vor 30 Jahren, aber zu ihrer Herstellung werden nun 470 Chemikalien verwendet. Laut unseren Messungen stammt 54 Prozent des Mikroplastiks in der Donau von Reifenabrieb.
Soll heißen?
Wir machen die falschen Dinge perfekt, und damit nur perfekt falsch. Wir haben nie begriffen, in echten Kreisläufen zu denken. Würden Produkte dagegen von Anfang an intelligenter gestaltet, müssten wir weder an Verschmutzung oder Abfall noch an Verzicht denken. Wir müssen lernen, Sachen so zu gestalten, dass sie nützlich sind und in biologische oder in technische Kreisläufe zurückkehren. Ich will eine Partnerschaft zwischen Unternehmen und Kunden und neue Geschäftsmodelle.
Sie haben auch da einen ganz eigenen Ansatz.
Man verkauft dem Kunden keine Waschmaschine, sondern 3000 Waschgänge; keine Küche, sondern 15 Jahre Küchennutzung; keinen Schweißroboter, sondern zehn Millionen Schweißpunkte. Man verkauft dem Kunden keinen Teppichboden mehr, sondern nur noch die Nutzung. Nach zehn Jahren geht der alte Teppichboden an den Hersteller zurück, der Kunde bekommt einen neuen. Und indem der Hersteller nicht mehr das Produkt selbst, sondern noch nur die Dienstleistung verkauft und das Material zur Wiederverwendung zurückbekommt, kann er zur Produktion die besten Materialien nehmen und nicht die billigsten. Ich will Überfluss und Großzügigkeit, aber keine Großzügigkeit der Effizienz, sondern eine der Effektivität. In Österreich versteht man diesen Unterschied ganz gut.
Tut man das?
Ja. Mozart war nicht effizient. Aber effektiv. Helmut Qualtinger, der sich immer hinter dem Bild des Grantlers versteckt hatte, aber einer der allergrößten Denker war, hat den Unterschied zwischen Effizienz und Effektivität mit seinem Sketch von dem Wilden mit seiner Maschine wunderbar erklärt. Denn der Wilde weiß zwar nicht, wohin er mit seinem Motorrad will, ist dafür aber doppelt so schnell dort. Ich möchte allerdings auch sagen, dass Österreich eine besondere Rolle spielt. Es gibt kein Land in Europa, in dem die Umweltdiskussion über die vergangenen 40 Jahre so konstant wichtig geblieben ist wie in Österreich. Und wenn wir jetzt 40 Jahre Umweltdiskussion in Innovation umsetzen, kann das die Menschen überall in der Welt inspirieren. Wir müssen daran interessiert sein, Blaupausen für die Welt zu schaffen und dann im positiven Sinne kopiert zu werden. Und dann kann Österreich die Welt inspirieren, wieder einmal.
Sie kooperieren mit Unternehmen wie der Lufthansa, mit Nike und Smart, arbeiten auch mit der NASA zusammen. Gäbe es denn ein Beispiel für ein in Ihren Augen ideales Produkt, das in einer solchen Kooperation entstanden ist?
Essbare Möbelbezugsstoffe. Das hört sich merkwürdig an, aber der Hintergrund ist folgender: Zuschnitte, die bei der Herstellung von Sofas entstehen, sind so giftig, dass sie als Sondermüll verbrannt werden müssen. Da sitzt man auf dem Sofa, rutscht hin und her und nimmt dieses ganze Gift in sich auf. Also haben wir vor mittlerweile 30 Jahren in einer Kooperation mit der Lufthansa Sitzbezüge entwickelt, die nach ihrem Verschleiß als Torfersatz in Gärtnereien verwendet werden können. Die kann man wirklich essen. Im japanischen Fernsehen habe ich die seither 93mal verspeist. Und dieses Prinzip haben wir inzwischen auf viele Produkte im Textilbereich übertragen. Beispielsweise stellt die Firma Mary Rose in Dornbirn die gesündeste Bettwäsche der Welt her. Zehn Prozent aller Bürger in Europa haben Hautprobleme, Allergien, alle möglichen Hauterkrankungen. Darum ist der Hautkontakt ganz besonders wichtig, Mary Rose ist also von besonderer Bedeutung.
Sie sagten in einem Interview, dass das, was wir gemeinhin unter Recycling verstehen, nicht mehr sei als eine „im Prinzip verzögerte Mülldeponie“.
Donald Trump lügt die Leute irgendwie ehrlicher an. Wenn der irgendwas sagt, dann weiß man wenigstens, dass er lügt. Wir dagegen tun nur so als ob, und das ist das viel Gefährlichere. Die allermeisten Produkte sind nie für Recycling entwickelt worden. Wir reden da im Prinzip wirklich nur von einer verzögerten Mülldeponie. Aus 41 Elementen, die wir im Mobiltelefon nachweisen können, werden nur neun zurückgewonnen. Und die, die zurückgewonnen werden, sind nicht wirklich selten. Und wir reden von Recycling, wenn beispielsweise aus hochwertigem Autostahl primitiver Betonstahl gemacht wird. Damit sind dann alle Buntmetalle verloren, Nickel, Chrom, Cobalt, Mangan, Wolfram, Antimon, Bismut, Kupfer, Molybdän, alles weg. Und das nennen wir Recycling? Das ist kein Recycling! Das ist meistens einfach nur ein primitives Downcycling, eine primitive Wiedernutzung. Und dafür steht dann wieder eine Deponie in der Landschaft. Ich erzähle Ihnen das aus einem Grund so ausführlich.
Und der wäre?
Ich war nach dem Erdbeben 1999 in der Türkei und habe dort im Stahl bis zu 2,2 Prozent Kupfer gefunden. Jetzt muss man folgendes wissen: Wegen der Erdbebengefahr ist es in Kalifornien nicht erlaubt, alte Autos zu Betonstahl zu machen. Also haben alte Autos aus den USA ihren Weg zur Verschrottung in die Türkei gefunden. Und die haben daraus eins zu eins Betonstahl gemacht. Aber: Bei einem zu hohen Kupfergehalt wird Stahl spröde, bei einem Stoß bricht er dann wie ein Knochen bei Osteoporose. Ich werde jetzt ein Team in die Türkei entsenden, wir werden Proben aus dem jetzigen Betonstahl nehmen, aber ich bin mir sehr sicher, dass wir darin wiederum einen so hohen Kupfergehalt finden. Wir reden zu Recht über Klimaveränderung, den Treibhauseffekt und die Energiefrage, aber die Materialseite ist noch viel, viel dramatischer. Wenn wir so mit unseren Rohmaterialien umgehen, dann lügen wir die Menschen viel mehr an als das Trump je gemacht hat.
Sind Sie mit Ihrem geschulten Blick nicht oft fassungslos, was in der Welt geschieht?
In einem Punkt bin ich bei Ihnen: Wir wissen zwar, was zu tun ist, sind aber zu langsam, das auch umzusetzen. Aber: Es kommt jetzt eine junge Generation nach, der wir gesagt haben, sie seien die Tollsten, die Besten, die Schönsten. Und die glauben das. Den Jungen ist die Anerkennung in den sozialen Netzwerken letztlich wichtiger als Geld. Wer Müll macht, ist in deren Augen nur noch ein Idiot, er ist einfach nicht cool, sozusagen. Das heißt: Ein leicht übertriebenes Selbstwertgefühl ersetzt die Moral, das ist viel stabiler. In vielen Unternehmen steht jetzt ein Generationenwechsel an, die Gründer treten ab und übergeben an die Jungen. Und diese Generation will auf sich stolz sein, die wollen nicht einfach nur Wachstum – sondern qualifiziertes Wachstum. Und deswegen bin ich total optimistisch, dass sich das viel schneller umsetzt, als ich einst gedacht hatte.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Michael Braungart, * 1958 in Schwäbisch Gmünd, ist ein deutscher Verfahrenstechniker und Chemiker. Er entwickelte zusammen mit William McDonough das „Cradle to Cradle“-Konzept. Braungart ist Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam und Autor mehrerer Publikationen. www.braungart.com
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