Hans Platzgumer: My Culture, my costume
Die Beschäftigung mit der endlos verknoteten, nie ganz zu entknotenden Thematik der kulturellen Aneignung gleicht einer Lebensaufgabe, zumindest für mich. Über unterschiedliche Zeiten hinweg verändert, verdichtet, verschiebt sich die Aktualität. Kürzlich wollte ich in einem Bregenzer Second-Hand-Laden eine Jacke kaufen, und als ich zwei Euro zu wenig in der Tasche hatte und den Verkäufer fragte, ob er es mir billiger geben würde, antwortete er: „Sicher, i bin doch ka Jud.“ Ich war daran erinnert worden, dass politisch korrektes Verhalten noch längst nicht überall angekommen ist. Die Diskussion darüber, was in einer liberalen Zivilgesellschaft erlaubt sein soll oder nicht, muss weitergeführt werden, so sehr es hin und wieder an den Nerven zehrt.
Einander auf die Nerven gegangen sind sich die Menschen schon in meiner Jugend, jene, die verbissen alles richtig machen und jene, die stur alles ignorieren wollten. Die Diskurse wurden ähnlich kompromisslos geführt wie heute, nur die Rahmenbedingungen waren anders. Die Welt war eine analoge. Ungefiltertes Weltwissen, ungefilterte Weltgerüchte begleiteten uns noch nicht als von künstlichen Intelligenzen gesteuerte Infinite Scrolls auf Schritt und Tritt durch unser Dasein. Als ich in Innsbruck in unsere immerzu verwirrende Welt hineinwuchs, war ich freier und naiver, als ich es heute sein kann. Bo Derek trug ihre lächerlichen Zöpfe, die ich intuitiv ablehnte, eher aber aus ästhetischen Gründen und weil sie dem Mainstream entsprachen, nicht weil sich Bo damit schamlos der traditionellen Kunst des Zopfflechtens der westafrikanischen Fulbe bedient hatte. Heute, 40 Jahre später, muss sie sich dafür rechtfertigen, entschuldigen. Ein Shitstorm in den sozialen Medien zwingt sie dazu.
Früher war rechts eindeutig rechts, links eindeutig links. Rechts war die Welt meiner Eltern, die konservative Gesellschaft, die das Sagen hatte und unterdrückte, was ihr missfiel. Kulturelle Vermischung, jede Aufweichung der regionalen Traditionen missfiel ihr. Links waren somit diejenigen, die gegen diese Bevormundung rebellierten. Linke nahmen möglichst viele, fremde Einflüsse in sich auf, um die vermeintlich eigene kulturelle Identität möglichst auszuradieren. Ich wollte afrikanisch, asiatisch, weiblich, schwul, Albino, was immer sein, nur bitte keiner dieser engstirnigen Tiroler Mannsbilder. Ich ließ meine Haare zu Dreadlocks verklumpen, Freunde wählten den Irokesen-Haarschnitt. Diese nach den Mohawk-Indianern benannte Frisur war Ausdruck des Aufbegehrens. Niemand hätte es als Aneignung der Kultur nordamerikanischer Ureinwohner verstanden. Aus heutiger Sicht tappten wir in viele Fallen kultureller Aneignung. Heute werden Rastalocken oder Mohawks von jungen Menschen bekämpft, die sich als politisch links verstehen.
Die radikal, bis hin zu Straßenschlachten, Gummizellen und Betretungsverboten geführten Kulturkämpfe ebbten mit den 90er-Jahren allmählich ab. Eine Vermischung, Durchweichung fand statt, plötzlich trugen Spitzensportler wasserstoffblonde Mohawks, biedere Sekretärinnen zerfetzte Hosen oder friedliche Omis pink gefärbte Haare. Im 21. Jahrhundert schien die Gesellschaft liberaler zu werden. Nun gab es homosexuelle Minister, Bankangestellte mit Nasenpiercings und praktisch niemanden mehr, der untätowiert war. Eine derartige Oberflächlich- und Beliebigkeit breitete sich aus, dass sich seit den 2010er-Jahren der Spieß wieder umdrehen musste. Nun hatten die im Umfeld von Fridays For Future und ähnlichen Protestbewegungen sozialisierten Millennials genug von dem Unfug, der sich eingeschlichen hatte. Erneut, kompromissloser als je zuvor forderten junge Menschen politische Korrektheit ein. Sie taten das nun hauptsächlich im digitalen Raum.
An diesem Punkt des Diskurses stehen wir jetzt: Nichts ist unschuldig, nichts unverdächtig. Alles muss damit rechnen, gecancelt zu werden. Schonungslos wird ausgegrenzt, was bislang bewiesenermaßen oder vermeintlich Ausgrenzung betrieb. Dass dies teils über das Ziel hinausschießt und Unschuldige zum Handkuss kommen, ist historisch gesehen verständlich. Es braucht extreme Ansätze, um Diskussionen in Gang zu bringen. Alles muss in Frage gestellt werden, selbst Dreadlocks oder Palästinensertücher. Doch auch müssen sich jene in den Cancel-Rausch Geratenden, die von Shakespeare bis Monty Python alles auslöschen wollen, darüber bewusst sein, dass unbesonnenes, nicht anti-hierarchisches, sondern von Oben nach Unten betriebenes Canceln Gefahr läuft, Diktat, sogar Zensur zu werden. Wenn Konzertveranstalterinnen Künstlerinnen diktieren, welche Frisuren sie tragen dürfen, benötigt dies ein stichhaltiges Argument. Nur festzustellen, sich beim Anblick von Rastalocken über weißer Haut nicht wohlzufühlen, reicht nicht. Die Radikalisierten dürfen ebensowenig übersehen, dass sich auch die Gegenseite radikalisiert. Die Spaltung der Gesellschaft, die zunehmende Unfähigkeit unterschiedlicher Gruppen aufeinanderzuzugehen, der Unwille, die eigene Blase, eigene Komfort-Zone zu verlassen, diese Tendenzen prägen heute sämtliche Bereiche des menschlichen Zusammenlebens. Die verhärtete Gangart, mit der oft in sozialen Medien oder im Kulturbetrieb für Diversität, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit gekämpft wird, ist so gesehen Sinnbild für das große Ringen und Kämpfen unserer Welt im Umbruch. Von der Berliner Volksbühne* war kürzlich zu hören, dass bei ihnen alle vertreten seien außer weißen cis Männern. Im Kleinen wie im Großen, im Guten wie im Bösen geht es um Diskriminierung und Stereotype, um Macht und Vergeltung. Immer weniger Rücksicht wird auf Kollateralschäden genommen. In naher Zukunft wird diese Spirale der Unversöhnlichkeit unterbrochen werden müssen, sonst finden wir uns angesichts von Krieg, Zerstörung und Klimakollaps womöglich bald an einem Punkt wieder, wo die Fragen der kulturellen Aneignung zur Nebensächlichkeit verkommen.
*Anmerkung: In einer früheren Version war das Wiener Volkstheater mit der „Volksbühne“ verwechselt worden, wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
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