Jürgen Thaler

hat zusammen mit Ute Pfanner die Wacker-Ausstellung im vorarlberg museum kuratiert, er hat in Wien, Berlin und Jerusalem studiert und ist Literaturwissenschaftler und Archivar im Franz-­Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek, wo auch der umfangreiche Nachlass von Rudolf Wacker aufbewahrt wird.

(Foto: ©Stefan Hauer)

Paula Ludwig und Vorarlberg

April 2024

Zur Eingemeindung einer Dichterin

Wer ist ein Vorarlberger? Eine müßige Frage, eine langweilige Frage, eine politische Frage, eine Frage, die über Einschluss und Ausschluss, über Inklusion und Exklusion entscheidet. Formal sind es Staatsbürgerschaft und Wohnsitz, die darüber Auskunft geben, ob man einer ist oder nicht. Ob ja oder nein, ob Vorarlberger oder nicht, wirkt sich aber nicht nur auf die Möglichkeit politischer Partizipation aus, sondern auch auf historische Einordnungen, wenn es darum geht, Identitäten zu konstruieren. Zum Beispiel in der Literaturgeschichtsschreibung, die in ihrer regionalen Variante immer mit der Frage konfrontiert ist und war: Wer gehört dazu? Diese Frage verschärft sich, wenn es darum geht, die Geschichte der Literatur, die Literatur überhaupt, mit dem Land, aus dem die Dichterinnen und Dichter kommen, engzuführen. Manch einer ist schon mit der Frage nach dem „Wesen der Vorarlberger Literatur“ in eine Einbahnstraße eingebogen. So notwendig es ist, das Feld der Literatur zu unterteilen, meinetwegen auch in nationale Literaturen, so unbarmherzig der Literatur gegenüber sind jene Versuche, Schriftstellerinnen und Schriftsteller nur deshalb in eine Reihe zu stellen, weil sie in den Grenzen eines kleinen Gebietes geboren wurden. Hier macht Not erfinderisch. Denn es versteht sich von selbst, dass das schlichte Ereignis der Geburt manchmal nicht ausreicht, zur Vorarlberger Literatur zu gehören. Auch das vorliegende Werk muss, wie auch immer, dem Wesen der Vorarlberger entsprechen und es muss als solches zunächst entdeckt werden. Offensichtlich ist, dass Fragen dieses Zuschnittes immer dann forciert gestellt werden, wenn die Landesidentität nach politischen Umbrüchen in Frage steht, neu justiert werden muss.
Diese Bewegungen lassen sich sehr schön anhand der „Eingemeindung“ von Paula Ludwig darstellen, deren 50. Todestag im März 2024 Anlass war, sich im Rahmen einer Tagung mit dem Leben und Werk der Dichterin zu beschäftigen. Ausgerichtet wurde die international besetzte Veranstaltung vom Franz-Michael-Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek, das auch den umfangreichen Nachlass der Dichterin verwahrt. 
Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, mit welchem Elan und Eifer in der Zwischenkriegszeit Schriftstellerinnen und Schriftsteller ins Visier genommen wurden, als es galt literarische Traditionen so fantasievoll wie eindimensional zu bilden. Vor allem das „Vorarlberger Tagblatt“ machte sich mit der Aufarbeitung und Entdeckung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern einen Namen. Das war auch dringend nötig. Es gab im bäuerlich geprägten Vorarlberg eine äußerst geringe literarische Produktion, so dass man wohl sagen muss: Vorarlberg war in diesen Jahren auf der Suche nach der Dichtung. 
Dies alles vorausgesetzt, kann man sich ausmalen, was für einen „Gänsehautmoment das Erscheinen von Paula Ludwigs Autobiographie ihrer Kindheit „Buch des Lebens“ in den Redaktionsstuben des Landes ausgelöst hatte. Wer war Paula Ludwig? Geboren am 5. Jänner 1900 im zerfallenen Schlösschen Amberg oberhalb von Feldkirch als Tochter eines schlesischen Tischlers und einer österreichischen Näherin, durch Zufall, weil der Vater hier Arbeit gefunden hatte. Nach zwei Jahren verließ die Familie das Schlösschen Amberg, zog hinunter nach Altenstadt. Als Paula Ludwig neun war, übersiedelte sie mit ihrer Mutter nach der Scheidung nach Linz, nach dem Tod der Mutter 1914 ging es zum Vater nach Breslau. Als junge Frau zog sie nach München, wurde Schriftstellerin und Malerin, veröffentlichte schon 1920 ihren ersten Gedichtband, dann folgten noch zwei Bände mit expressionistischer Lyrik. Einer davon trägt den Titel „Dem dunklen Gott“, in der sie ihre leidenschaftliche wie verhängnisvolle Liebe zum verheirateten Lyriker Iwan Goll in Gedichten literarisierte. Große, zeitgenössische Lyrik lag hier vor, von der man in Vorarlberg nichts mitbekam. Ludwig lebte – als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen – in Berlin mit ihrem Sohn Friedel in prekären Verhältnissen als Teil der künstlerischen Bohème, die es nicht mehr lange geben sollte. 1935 erschienen ihre Traumaufzeichnungen unter dem Titel „Traumlandschaft“. Sie flieht aus Deutschland in die Tiroler Künstlerkolonie nach Ehrwald, weil sie sich kein Leben im Nationalsozialistischen Deutschland vorstellen konnte. In Österreich schrieb sie das „Buch des Lebens“, der Leipziger Staackmann-Verlag, spezialisiert auf oftmals konservative Landlebenliteratur, hatte sie dazu aufgefordert. In diesem Buch schildert sie ihre Kindheit, die in Vorarlberg begann. Ein Buch wie entworfen für die Bedürfnisse des damaligen öffentlichen Kulturbewusstseins Vorarlbergs. Das „Tagblatt“ widmete zwei Nummern seiner Beilage „Feierabend“ Paula Ludwig. Hans Nägele, der deutschnationale Redakteur der Zeitung, 1938 trat er in die NSDAP ein, eröffnete seinen biografischen Artikel mit dem Satz: „Die einzige Vorarlberger Dichterin unserer Zeit, die man in Innerösterreich seit Jahren kennt und schätzt, während meines Wissens noch nie in der Presse ihres Heimatlandes von ihr die Rede war, ist Paula Ludwig.“ Und endete mit der Feststellung: dass die in Tirol lebende Vorarlbergerin es verdiene, zu den besten deutschen Dichterinnen unserer Zeit zu gehören. Eine Vorarlberger Dichterin wurde so inauguriert. Warum Ludwig in Ehrwald lebte, warum man die vorhergehenden Bände nicht registrierte, darüber freilich kein Wort. In der nachfolgenden Ausgabe des „Feierabends“ findet sich ein Stück moderner Journalismus: Hans Nägele entsandte seinen Mitarbeiter Alfred Längle, der in Seefeld lebte und in Tirol zuvor als Redakteur des von 1922 bis 1927 erscheinenden Blattes „Der Nationalsozialist“ wirkte, zur neuentdeckten Vorarlberger Dichterin. Er kam mit der Reportage „Bei der Dichterin Paula Ludwig in Ehrwald“ zurück von seinem Besuch. Es hat schon etwas Bizarres an sich, dass die aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchtete Paula Ludwig gerade von einem ehemaligen Redakteur einer Nationalsozialistischen Postille besucht, interviewt und porträtiert wird. Dass im charmant geschriebenen Artikel heftig gegen Emil Ludwig, ein jüdischer Schriftsteller, angeschrieben wurde, störte Paula Ludwig, so weit man weiß, ebenso wenig, wie der Umstand, dass Nägele und Längle Paula Ludwig zu einer von ihnen machten, zu einer deutsch-österreichischen Dichterin.
Nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich flüchtete Paula Ludwig auf vielen Wegen und Nebenwegen nach Brasilien, wo sie bis zur ihrer Rückkehr nach Europa 1953 viel zu lang blieb, als dass ihr der Neuanfang gut gelang. In Vorarlberg war sie seit 1936 aber als Vorarlberger Dichterin bekannt und blieb es auch. Längle starb 1946 in russischer Kriegsgefangenschaft, Nägele schrieb nach 1945 weiter, auch über Paula Ludwig. Später übernahm Walter Lingenhöle die Aufgabe, zu Paula Ludwig Kontakt aufzubauen und sie nachhaltig in das wieder auf der Suche nach einer neuen Identität sich befindende Vorarlberg aufzunehmen. In Anthologien Vorarlberger Dichter, in Lesungen, in Artikeln und Rundfunkbeiträgen. Über ihre schwierige Situation, über den Grund ihrer Flucht nach Brasilien, über ihr mehr als prekäres Leben in Wetzlar und später Darmstadt liest man nichts. Man schmuggelte sich über diese historischen und sozialen Tabus hinweg. Die Vereinnahmung erzeugte auch überraschende Blüten. Als Paula Ludwig 1974 starb, schaltete der Felder-Verein eine Todesanzeige in den „Vorarlberger Nachrichten“. So wurde die Staffel von einer Person zur nächsten, von einer Generation zur anderen weitergegeben. Als 1982 das Franz-Michael-Felder-Archiv als Abteilung der Vorarlberger Landesbibliothek gegründet wurde, war es der erste Direktor der Bibliothek, Eberhard Tiefenthaler, der bei Paula Ludwigs Sohn Friedel anfragte, ob er Interesse hätte, den Nachlass seiner Mutter nach Bregenz in das neu eingerichtete Archiv zu geben, was 1988 dann auch tatsächlich geschah.

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