Stephanie Gräve

<p>Intendantin Vorarlberger Landestheater</p>

Theater als politische Kunst oder Is it too real for ya?

September 2019

Kunst und Politik: Wie geht das zusammen? Oder, besser: Wie könnte es nicht zusammen gehen, wenn wir jede Künstlerin, jeden Künstler als wachen, kritischen, reflektierten Geist annehmen, inmitten der Zeit lebend, ihre Strömungen seismographisch aufnehmend und in Kunst verwandelnd?! In ALL THE GOOD, einer Inszenierung der legendären belgischen Needcompany, fällt eingangs der Satz: „Political art always destroys the beauty of politics.“ Die Schönheit der Politik?! Wie jetzt – es meint wohl: der Kunst? Ach – ach so! Ein kleiner Stolperer im Geiste, und schon begreift man den klugen Humor, die feine Ironie der Aussage, um die letztlich die ganze Arbeit der Needcompany lustvoll kreist: Kunst und Politik sind nicht zu trennen. 

Theater und Politik schon gar nicht, im Gegenteil, das Theater fungierte von Anbeginn an als politische Kunstform par excellence: Die antike Stadtgesellschaft war es, die polis, die vor Jahrtausenden ihre Fragen mit den Mitteln des Theaters verhandelt sehen wollte. Sich für die und in den mehrere Tage dauernden Bühnenspielen zu engagieren, war vornehmste Bürgerpflicht, und die Autoren bedienten sich für ihre Stücke alter Erzählungen und Mythen, bedienten sich ihrer eingreifend, verfremdend, verändernd, um so die aktuellen Fragen zu untersuchen. Das war jedes Mal brandneu, tagespolitisch, streitbar und umstritten, und ästhetisch brachte jede neue Aufführung Weiterentwicklung: So ließ Aischylos den einzelnen Darsteller aus der Chorformation heraustreten, Sophokles fügte den Widerpart, die Gegenrede, hinzu, und Euripides gar die psychologische Auseinandersetzung – man mag sich das Raunen der antiken Besucher vorstellen ob des ständigen Bruchs mit der Konvention. Und diese Grunddefinition, vor Jahrtausenden entwickelt, ist Teil der DNS der Theater bis heute: Es ist ein politischer Ort – und ein Ort der Veränderung. 

Ein Ort der Veränderung muss es notwendig sein, denn auch unsere Gesellschaft befindet sich im permanenten Wandel; ein Wandel, der nichts weniger ist als fließend, als kontrollier- und beherrschbar. Vielmehr verläuft er in Brüchen und Sprüngen, disruptiv, ungleichzeitig. Und unsere Zeit, so scheint es uns, die wir ja nur diese kennen, zeichnet sich durch besonders schnellen Wandel, besonders massive Veränderungen aus. Wir stehen rat- und orientierungslos, zumal der enorme technologische Fortschritt, der unsere Lebensbedingungen permanent neu gestaltet, gepaart ist mit einer erschreckenden gesellschaftlichen Regression, einer Auflösung von Wertvorstellungen, die wir für Jahrzehnte mit den anderen zu teilen glaubten. Solidarität und Toleranz, Demokratie und soziale Gerechtigkeit, Empathie und (globale) Verantwortung, um nur einige zu nennen – sie stehen auf dem Prüfstand in diesem zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends, und wir blicken schaudernd auf den Scherbenhaufen aus all dem, woran wir glaubten.

Und das Theater? Wir brauchen es mehr denn je, als Ort des „tua res agitur – deine Sache wird verhandelt“. Als eine Kunstform, die in einer Gemeinschaft für eine Gemeinschaft entsteht und sich mit dieser Gemeinschaft verändert, ihr mal vorausgeht, mal folgt. Eine Kunstform, die die Suchbewegungen in der Krise der Orientierung mitvollzieht, die mit den Menschen die drängenden Fragen stellt und die notwendigen Antworten sucht. Die alternative Lebens- und Gesellschaftsentwürfe spielerisch untersuchen und zur Diskussion stellen kann. Eine Kunstform vor allem, die nicht mit komplizierten Theorien und platter Propaganda agieren muss, sondern der genau die Kraft zur Verfügung steht, die in unserer Welt verloren zu gehen scheint: die Kraft der Empathie. 

Was zu diesem Verlust an Empathie geführt hat, dazu gibt es unterschiedliche Thesen; ob es der entfesselte Neoliberalismus ist, der uns aus sozialen Zusammenhängen geschleudert hat; ob es der Zusammenbruch eines alternativen Wirtschaftsmodells ist, das scheinbar finale Scheitern der Idee von solidarischer Gleichheit; ob es der Vormarsch des Digitalen ist, die zunehmende Verlagerung der Erfahrungswelt ins Virtuelle, das nicht mehr den konkreten Schmerz, das konkrete Leid des Gegenübers erfahren lässt – das sind Erklärungsansätze, Möglichkeiten, Studien und Statistiken. 

Auch das Theater entwirft mögliche Welten, doch es lebt von der Kraft des lebendigen, nicht des virtuellen Miteinanders. Es ist ein dreifaches Miteinanders: So wie sich auf, hinter und neben der Bühne Menschen begegnen und zu einer temporären Gemeinschaft werden, so bildet auch das Publikum eine temporäre Gemeinschaft, und im Moment der Aufführung entsteht etwas Neues, Drittes. Etwas, das die große Möglichkeit hat, Menschen mittels der Kraft der Empathie im Innern zu berühren. 

Diese Möglichkeit ist gleichzeitig Verantwortung für das Theater, es muss sich permanent die Frage stellen: Was sind die relevanten Geschichten unserer Zeit? Und wie erzählen wir sie so, dass wir die Menschen erreichen, sie unterhalten und berühren, verstören und aufrütteln? Ja, bestenfalls: sie verändern. 
Um es mit Bertolt Brecht zu sagen: „Unser Theater muß die Lust am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren. Unsere Zuschauer müssen nicht nur hören, wie man den gefesselten Prometheus befreit, sondern sich auch in der Lust schulen, ihn zu befreien. Alle Lüste und Späße der Erfinder und Entdecker, die Triumphgefühle der Befreier müssen von unserem Theater gelehrt werden.“

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