Brigitta Soraperra

Regisseurin und Kulturarbeiterin

Auch symbolische Gewalt ist abstoßend

April 2023

oder: Keine Lust mehr, Hexen zu verbrennen

Erschienen im Juni 2021 – Thema Vorarlberg Ausgabe Nr. 69

Von Brigitta Soraperra unter Einbeziehung eines Textes von Manfred Tschaikner*

Es ist traurige Realität: Anfang März dieses Jahres hat ein 47-jähriger Österreicher seine ehemalige Lebensgefährtin mit Benzin übergossen und angezündet. Sie verstarb wenige Wochen später. Damit hat er eines von unzähligen sogenannten „Beziehungsdelikten“ begangen, die 2019 allein in Österreich 39 Frauen das Leben gekostet haben. (Mittlerweile haben wir in diesem Jahr bereits 14 tote Frauen in nur 5 Monaten zu beklagen und können diese brutalen Frauenmorde nicht mehr verharmlosen.) Ende Februar hat sich in einem griechischen Flüchtlingslager eine hochschwangere Afghanin selbst in Brand gesteckt, um ihr Elend in die Welt hinaus zu schreien, als sie davon ausging, dass ihr Asylantrag für Deutschland abgelehnt worden sei. Den Beginn des Arabischen Frühlings bildete die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 und löste damit eine der größten Protestbewegungen der Zivilgesellschaft der letzten Jahrzehnte aus. 
Verbrennungen von Menschen waren und sind ausnahmslos tragisch. Und ganz besonders tragisch wird es, wenn wir in die Geschichte, im Besonderen in die Geschichte der Frauen, zurückblicken. Witwenverbrennungen waren über Jahrhunderte eine übliche Tradition in hinduistischen Glaubensgemeinschaften und werden zum Teil auch heute noch durchgeführt, weil sich in armen Gesellschaften niemand leisten will, für die Witwen aufzukommen. Und die unrühmliche Geschichte des christlichen Abendlandes, bei dem in der frühen Neuzeit bis weit ins 18. Jahrhundert in Europa etliche Zehntausend Frauen und Männer als Hexen verbrannt wurden, kennt mittlerweile jedes Kind. 

Versteckte Brutalität
Umso verwunderlicher ist, dass in unseren Breitengraden an der „Tradition“ der Funkenhexe so hartnäckig festgehalten wird. Die mehr oder weniger versteckte Brutalität dieses „Brauchtums“ wurde im Corona-Jahr 2021 ganz besonders augenscheinlich. Verschiedene Funkenzünfte des Landes riefen angesichts der Tatsache, dass große Funkenanlässe heuer nicht erlaubt waren, zu einer Mini-Funken-Challenge auf. Diese führte zu einer erschütternden Bilderserie in den sozialen und Print-Medien. Auf vielen Fotos posierten Familien und Kinder stolz neben ihren Minifunken im eigenen Garten. Und nicht selten zündeten die Kinder ihre selbst gebastelten Hexen gleich auch selbst an.
Nun wissen wir, dass sich symbolische Handlungen in das individuelle und kollektive Gedächtnis einprägen. Hexenverbrennungen im Europa der Frühen Neuzeit sollten ja dazu dienen, als reale Bestrafung und als symbolische Abschreckung zu wirken, wenn Menschen sich erlaubten, ihr Leben unabhängig des christlichen und/oder medizinisch-wissenschaftlichen Weltbildes zu gestalten. Das gern angeführte Argument, es handle sich bei den Vorarlberger Funkenhexen ja „nur“ um einen „jahrtausendealten Brauch“ und keineswegs um die rituelle oder gar reale Tötung eines Sündenbocks – die diesjährigen Mini-Hexen wurden allerdings oft als „Hexe Corona“ tituliert – widerlegt der Vorarlberger Historiker Manfred Tschaikner seit Jahrzehnten mit eindeutigen Fakten und Quellenangaben. 

Falsch verstandene Tradition
Bereits im Jahr 1996 hielt der angesehene Universitätslehrer einen Vortrag in Bludenz, in dem er sich fragte, was denn eigentlich die Hexe auf dem Funken so unverzichtbar mache. Ein paar Ausschnitte daraus seien an dieser Stelle zitiert: 
„Mein Hauptvorwurf gegenüber den heutigen Hexenverbrennern lautet, dass sie mit der Erinnerung an die historischen Hexen höchst unsensibel umgehen. In der frühen Neuzeit wurden etliche Zehntausend Frauen und Männer auf den Scheiterhaufen als Sinnbild des Bösen verbrannt. Erst nach Jahrhunderten des Massenmordens sah man ein, dass alle diese Opfer eigentlich nach schlimmen Schicksalen unschuldig hingerichtet worden waren. Statt dass man sich dieses Unrechts bewusst blieb oder vielleicht überhaupt erst wurde, behandelt man noch heute den Namen und das verstellte Ebenbild der Opfer in einer Weise, als ob früher nichts geschehen wäre. Mehr noch: Die Funkenzünfte gehen mit den Hexenfiguren so um, als ob die Hexen früher völlig zu Recht hingerichtet worden wären“, so Manfred Tschaikner.
Er führt dann die seiner Kritik am meisten entgegengebrachten Argumente an und widerlegt sie mit eindrücklichen Beispielen: „Viele Leute erklären, sie hätten bei der Funkenhexe nie daran gedacht, dass es sich dabei um ein Abbild der historischen Hexen handeln könnte“, und „der harte Kern der Anhänger von Hexenverbrennungen erklärt, die Funkenhexe habe prinzipiell nichts mit den historischen Hexen zu tun. […] Meinte man mit der Funkenhexe wirklich nur übersinnliche Mächte, wenn man zum Beispiel in Schnifis beim Sammeln für den Funken sang: ,Schiller, Stumpa, Haberstroh, alte Wiber nämmer oh‘? Man kann sich wenden und drehen, wie man will: Die Funkenhexe heißt eben Hexe und sieht auch so aus; sie lässt sich deshalb nicht vom Hexenwesen abkoppeln.“
Im weiteren Verlauf von Tschaikners Ausführungen fragt sich der Historiker, ob die Funkenhexe wirklich ein Bestandteil des alten Funkenbrauchtums in Vorarlberg war, und kommt zu folgenden interessanten Ergebnissen: „In der traditionellen Fasnacht war ein Symbol verbreitet, welches die Fasnacht selbst verkörperte und am Fasnachtsdienstag verbrannt oder vergraben wurde. Dabei handelte es sich zumeist um einen Gegenstand oder eine männliche Puppe. Im Schwäbischen heißt dieser Strohmann ,Bruder Otto‘, im Engadin nennt man ihn ,L’hom strom‘. Wenn also eine Figur mit dem Funken in Verbindung stand, dann handelte es sich dabei um eine männliche.“

Weder Frau noch Mann
Dementsprechend sei in der Mitte des letzten Jahrhunderts auf dem Funken in Schnifis noch ein Mann mit Pfeife gestanden und keine Hexe, was durch Tagebuchaufzeichnungen belegt ist. Und in der Bludenzer Funken-Ordnung von 1893 werde zwar erwähnt, „dass in der Zunftherberge im Hirschen die Fasnat am Faschingsdienstag ,vergraben‘ werde. Was auch immer dabei entsorgt wurde, die Hexe war nicht gemeint, sie symbolisierte also ursprünglich nicht die Fasnat. […] Die neuere Fasnachtsforschung geht sogar allgemein davon aus, dass die Hexen erst einen späten Zusatz zum Brauchtum darstellen.“ 
Tschaikner weist mit einem Blick über die Grenze auf eine bemerkenswerte Tatsache hin: „Im Schwäbischen, wo ebenfalls die alemannische Fasnacht (Fasnat oder Fasnet) gefeiert wird, ist belegt, dass die Hexe erst 1933 Einzug ins Brauchtum hielt. Die Verbindung von Hexe und Fasnacht wurde von den Nationalsozialisten besonders gefördert.“ Dies geschah, weil „die Hexe deshalb so gut in die NS-Kulturszene passte, weil sie zu jenen Figuren gehörte, in denen man den direkten Ausdruck der Volksseele sah.“ 

Symbolische Fortsetzung der Hinrichtungen
Allerdings habe man schon lange vor den Nationalsozialisten die Fasnacht in unseren Breitengraden auch dadurch „bereichert, dass man Hexenprozesse nachspielte. Der erste bekannte Fall ist für 1823 im Kanton Luzern überliefert: Wenige Jahrzehnte davor (1782) wurde noch die letzte europäische Hexe im nahen Kanton Glarus real hingerichtet.“
Die zeitliche Einordnung des Aufkommens von Funkenhexen in der Fasnacht erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also „in unmittelbarer Nähe zum endgültigen Aus für die gerichtlichen Hexenverfolgungen durch die Streichung der entsprechenden Tatbestände aus den Gesetzbüchern“ führt Tschaikner zur hoch wahrscheinlichen Annahme, „dass die Hexenverbrennungen auf den Funken die symbolische Fortsetzung der real nun unmöglich gewordenen Hinrichtungen darstellten.“ 
Es stellt sich deshalb die unangenehme Frage, warum das Symbol für den scheidenden Winter oder das Wesen der zu Ende gegangenen Fasnacht gerade die Bezeichnung „Hexe“ bekommen müsse. „Warum wurde die ,Gegnerschaft zu Gott‘ ab jetzt gerade in Gestalt einer Hexe auf genau dieselbe Weise im Rahmen eines Volksfestes verbrannt wie davor abertausende Frauen nach Hexenprozessen?“, fragt Manfred Tschaikner.
Der Historiker benennt, dass die historischen Hexenverfolgungen einen Wendepunkt im Umgang mit dem Bösen darstellten. „Die Vorstellung der Hexe gilt als eine entwicklungsgeschichtlich notwendige Übergangsstufe in der Erkenntnis, dass das Böse keine Kraft außerhalb des Menschen bildet, sondern in ihm selbst zu suchen ist. Für den vormodernen Menschen war das Teuflische stets eine äußerliche Bedrohung. Mit fortschreitender Entwicklung eignete sich der Mensch nicht nur die Verfügung über die Natur an, sondern musste gleichzeitig jedoch auch erkennen, dass das Böse eine Möglichkeit des Menschen selbst geworden war. Das stellte eine schwer zu akzeptierende Erkenntnis dar.“ 
Und diese Erkenntnis wollte der Mensch lange nicht wahrhaben, was zu Beginn der Neuzeit zehntausende Menschen das Leben kostete, die schrecklich gefoltert und getötet wurden. „Der alte Teufelswahn musste sozusagen bis zur Neige durchlebt werden, bis man in den führenden Kreisen nur noch Spott und Mitleid für die Vertreter der alten Auffassungen hatte“, schreibt Tschaikner. 

Die Bewältigung des Bösen
Der Umgang mit der Hexe als (äußere) Verkörperung des Bösen spiegelte also einen Umbruch in der kulturellen Entwicklung, in deren Verlauf sich die Wahrnehmung des Bösen in der Welt verinnerlichte. „Die Hexenprozesse hörten dann auf, als der Mensch mit dieser neuen Wirklichkeit so vertraut war, dass er die Kraft hatte, in sich selbst das Problem des Bösen zu bewältigen“, so Tschaikner.
Bemerkenswerterweise bekommen seine Ausführungen durch die in diesem Jahr en vogue gekommenen „Corona-Hexen“ noch einmal eine neue Dimension. Denn auch bei dieser Namensgebung ist eine verblendete Ignoranz im Spiel. Die heilige Corona war keine Hexe, sondern eine frühchristliche Märtyrerin. Sie gilt als Schutzpatronin des Geldes, der Metzger und Schatzgräber und wird auch bei Seuchengefahr (!) angebetet. Und der die Welt seit über einem Jahr in Atem haltende Corona-Virus ist keinesfalls grammatikalisch weiblich. Der oder das Virus wird in der deutschen Sprache als männlich bzw. als Neutrum definiert. Die Bezeichnung „Hexe Corona“ ist also schlicht ein Unfug, der nichtsdestotrotz das dem Funkenhexenbrauch zugrunde liegende, diffamierende Frauenbild als ”Verkörperung des Bösen“ reaktiviert. 

Das Gebot der Stunde
Aus all diesen Gründen ist eine einzige Konsequenz mehr denn je das Gebot der Stunde, die Manfred Tschaikner bereits im Jahr 1996 formuliert hatte: „Nach all dem, was gerade in unserem Jahrhundert geschehen ist und immer noch geschieht, kann es kein Vergnügen mehr sein, auch nur irgend etwas Menschenähnliches unter dem Applaus einer entzückten Menge verbrennen zulassen. Ob bewusst oder unbewusst zelebriert: Auch symbolische Brutalität ist abstoßend.“

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