Brigitta Soraperra

Regisseurin und Kulturarbeiterin

Maggie’s: der Traum vom heilsamen Raum

Juli 2024

Gehen Sie doch lieber hinüber in das rote Gebäude“, sagt die nette Stationsschwester zu der auf einem der losen Sessel im Spitalskorridor schluchzenden Frau, „dort können Sie sich aufhalten, bis Sie mit der Behandlung an der Reihe sind“. Mitfühlend hält sie ihr ein Taschentuch entgegen. Die Patientin ist erschöpft, frustriert, selbstmitleidig. Ihr Behandlungstermin hat sich unerwartet um mehr als eine Stunde verschoben. Dabei war es eh schon schwer genug für sie hierherzukommen. Klar gab es den Luxus des Krankenwagens, der sie von Haustür zu Haustür gebracht hatte. Aber je länger die Chemotherapie nun schon andauert, desto dünner ist ihr Nervenkostüm. Da reichen schon minimale Abweichungen für tiefste Erschütterungen. In der ersten Zeit, als sie die Wucht der Diagnose halbwegs verdaut hatte und die schockgesteuerte Ungläubigkeit einem trotzigen Überlebenswillen gewichen ist, da war sie noch voller Zuversicht. Da dachte sie noch nach der ersten und zweiten Verabreichung des hochdosierten Medikamentencocktails: „Ah, so schlimm, wie sie sagen, wirkt es sich bei mir offenbar nicht aus.“ Aber je länger die Behandlungen dauern, desto mehr nimmt sie deren Auswirkungen auf ihren Körper wahr: die bleierne Müdigkeit, die chronische Übelkeit, den Haarausfall, der ihre angeborene Eitelkeit in die Knie zwingt. In diesem Zustand will sie eigentlich nirgendwo hin, will sich nur zuhause verkriechen, unter die Bettdecke, aufs Sofa, in den schützenden Garten. Stattdessen muss sie durch unpersönliche Spitalsgänge laufen, stundenlang in grauen, nach Desinfektionsmitteln riechenden Behandlungsräumen auf beigen Kunst-lederfauteuils liegen, und das unerbittliche Tropfen der kristallklaren Flüssigkeit in die überbeanspruchten Venen über sich ergehen lassen. Da können die Pflegerinnen und Pfleger noch so nett, der behandelnde Oberarzt noch so verständnisvoll und unterstützend sein. Das hilft ihr in dem Moment alles gar nichts. Sie hadert mit ihrem Schicksal. 
„Sie können es nicht verfehlen“, wird die Frau von der Stationsschwester aus den trüben Gedanken gerissen. „Dort drüben“, sie tippt auf die festverglaste Fensterscheibe, „das kleine Gebäude mit den weinroten Terrakottafliesen. Es sind nur 200 Meter, gleich bei der bunten Blumenwiese“. Sie drückt ihr ein zweites Taschentuch in die Hand: „Soll ich Sie begleiten?“ „Nein, nein, geht schon, danke!“ Als die Frau aus der riesigen Krankenhaustüre tritt, atmet sie unweigerlich auf. Frische Luft, blauer Himmel. Die Sonnenstrahlen beißen auf ihrer durch die Behandlung überempfindlich gewordenen Haut. Es sind tatsächlich nur wenige Schritte. Lachsfarbene Dahlien lächeln ihr entgegen, gelb-orange Ringelblumen sind inmitten von blau blühendem Borretsch platziert. Ein kiesbelegter Spazierweg führt durch die mit Bedacht angelegte Gartenanlage, hie und da finden sich Sitzgelegenheiten, die durch Sträucher und Bäume von der Sonne abgeschirmt sind. Sie erreicht eine verspielt beschriftete Glastüre, die einladend offensteht. Von innen sind leise Stimmen zu vernehmen. Bevor sie eintritt, schweifen ihre Augen über die feine Architektur des komplexen kleinen Gebäudes. Es hat verschieden hoch gestaffelte Gebäudeteile, einladende Fensterfronten, abgerundete Formen. Ihr fällt augenblicklich ein öffentlicher Aufruf in den Medien vor ein paar Jahren ein, als ein ambitioniertes Bauprojekt auf der Suche nach Finanzierung gewesen war. Vage erinnert sie sich an einen spektakulären Schulterschluss zwischen dem Land, den Krankenhausbetreibern, potenten Firmensponsoren und der Bevölkerung. So kam das erste Maggie’s Zentrum in Vorarlberg zustande. Ihr hatte das damals gar nichts gesagt, was gingen sie schon Krebskranke an? 
Und nun betritt sie geschmackvoll eingerichtete Räume, die so gar nicht nach Kranksein anmuten. Keine Eingangskontrolle, stattdessen ein heller, offener Raum mit einer knallroten Theke an der Seite. Eine farbenfroh gekleidete Frau verteilt dahinter Flyer in einen grün lackierten Kartenständer. Am riesigen ovalen Tisch, der in der Mitte platziert ist, sitzen drei Menschen mit je einer Teetasse vor sich. Sie lächeln ihr freundlich zu und setzen dann ihre Unterhaltung fort. Vom offenen Küchenraum aus führt eine abenteuerlich geschwungene rote Treppe in den oberen Stock. In einer der vielen Nischen im hinteren Bereich nimmt sie einen jungen Vater wahr, der seinem ungefähr zweijährigen Kind aus einem Buch vorliest. Das Kleine hat einen Glatzkopf ähnlich dem ihrigen, aber es gluckst vor Freude über die Geschichte, die ihm vorgelesen wird. „Herzlich willkommen, ich bin Alison“, erklärt die Frau von der Theke, „ich leite dieses Zentrum. Soll ich Ihnen alles zeigen?“ Unerwartet viele Räume offenbaren sich in dem kleinen Gebäude, je nach Funktion haben sie unterschiedliche Farben und Größen. Sie dienen dem Aufenthalt, dem Gespräch, der Beratung, dem Rückzug, auch verschiedenen Körpertherapien bieten sie Raum. Und alle gewähren sie Ausblicke auf den das Gebäude wie ein Schutzschild umschließenden Garten. Im oberen Bereich ist eine frei zugängliche Bibliothek und ein öffentlicher Schreibtisch mit Computer situiert. Kunstwerke und Kunstobjekte hängen oder stehen an ausgewählten Orten, ohne aufdringlich zu sein. Die Besucherin ist verblüfft, die Frustration von vorhin ist wie weggeblasen. Selbst auf den Toiletten lugt über runde Dachfensterluken der Himmel herein. „Hier kann ich aufatmen“, denkt sie sich, „und hoffentlich gesunden“.

Maggie’s Zentren 

gehen zurück auf die Vision der Britin Maggie Keswick Jencks. Während ihrer Krebsbehandlung entwickelte sie gemeinsam mit ihrem Mann Charles das Konzept für Räume, die Krebskranken in gleichem Maße Rückzug und Erholung bieten wie sie stärken. Heute gibt es weltweit circa 40 „Maggie’s“, angeschlossen an Krankenhäuser, davon in Österreich – bisher – noch keines.

www.maggies.org

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