Zur geänderten Wahrnehmung des Schreibers Hans Nägele
Am 19. Mai 2023 jährt sich der Todestag von Hans Nägele zum 50. Mal. Der Vorarlberger Publizist und Heimatkundler genoss zu Lebzeiten große Popularität. 2021 rückte Nägele wieder in den Fokus, als der Historiker Severin Holzknecht eine kritische Biografie veröffentlichte.
Hans Nägele wurde 1884 als Sohn einer Stickerfamilie in Götzis geboren. Er studierte Chemie und schloss mit dem Doktorat ab. 1919 wurde Nägele Schriftleiter des großdeutschen und später nationalsozialistischen Vorarlberger Tagblatts. Während der NS-Herrschaft war der überzeugte Nationalsozialist auch Parteimitglied und verbrachte nach Kriegsende 18 Monate in Lagerhaft. Danach schrieb er als freier Journalist und verfasste heimatkundliche Bücher und Artikel, viele davon zur Textilindustrie. Geprägt waren Nägeles Texte von seiner völkischen Gesinnung, die er Zeit seines Lebens nie ablegte. Dabei bezog er sich auf das damals verbreitete Bild eines seit Jahrhunderten als Einheit bestehenden Vorarlberger Kulturraums. Dessen Bevölkerung alemannischer Abstammung habe mit ihrer demokratischen Gesinnung eine Vorreiterrolle eingenommen. Nägele machte vermeintliche Eigenheiten der Vorarlberger wie Fleiß, Sparsamkeit oder nüchternes Denken aus, die seit der Besiedelung vererbt worden wären. Auch den Erfolg heimischer Industrieller im 19. und 20. Jahrhundert stellte er damit in Zusammenhang. Spätestens in den 1980er Jahren wurde dieses Geschichtsbild öffentlich debattiert und widerlegt. Zu Nägeles Lebzeiten war es aber Teil einer halboffiziellen Landesgeschichtsschreibung und ein gern genutzter identitätsstiftender Faktor.
Mit dem Geschichtsbild gewandelt hat sich mittlerweile auch die Bewertung der Person Nägele hinsichtlich Ideologie, NS-Vergangenheit und Charakterzüge. Eindrücklich zeigen dies Artikel in der Regionalpresse, die gegensätzlicher nicht sein könnten, und doch nur wenige Jahrzehnte auseinanderliegen. So schrieb Franz Ortner, Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten, 1973 einen uneingeschränkt positiven Nachruf auf Nägele:
„Aber 1944 musste der eigenwillige Tagblatt-Chef abtreten […]. Er war in den Augen Gauleiter Hofers ‚untragbar‘ geworden, weil er sein Vorarlberg und das ‚System-Österreich‘ damals ‚in ungebührlicher Weise verherrlicht‘ hatte. […] [Nägele, Anm.] schrieb noch drei Jahrzehnte in seltener Spannkraft weiter, unzählige Zeitungsartikel und Radiobeiträge, und entfaltete als Buchautor über die Wirtschaft und die Industriepioniere Vorarlbergs eine rege Tätigkeit. […] Das Land Vorarlberg hat diesen bedeutenden Mitbürger durch die Ehrengabe und das Landesehrenzeichen 1968 gewürdigt. Die Lebensleistung Hans Nägeles, ihr Beispiel und der Ertrag wirken fort. […] Nägele verstand es, in einem unerschöpflichen Arbeitsgeist zum Selbstverständnis unseres Landes beizutragen und seinen Kulturraum sichtbar zu machen. Sein Verdienst als vielseitig forschender und den Landsleuten ins Gemüt dringender Publizist und Journalist bleibt voll im Raume stehen.“
Und zum 100. Geburtstag Nägeles legte Ortner 1984 in den Vorarlberger Nachrichten nach: „Liebenswürdigkeit und oft starrer Eigensinn mischten sich in einem Manne von hoher journalistischer Berufsauffassung. Indessen hinter der Unbeugsamkeit verbarg sich eine einmalige Liebe zum Ländle, seinen Menschen, der Kultur und zum breiten Spektrum von Politik, Wirtschaft. Heute noch faszinierend ist Hans Nägeles vielseitige Bildung und sein bewundernswerter Horizont, der Heimat unentwegt zu dienen. Fruchtbarer war hierzulande nie ein Schriftleiter, aus damals bescheidensten Mitteln ein abgerundetes Lebenswerk zu machen.“
Ein völlig anderes Bild zeichnet die wohlwollende Buchkritik der Journalistin Brigitte Kompatscher, erschienen 2021 in der Neuen Vorarlberger Tageszeitung, anlässlich der Veröffentlichung von Holzknechts Nägele-Biografie:
„Vier Charakterzüge machten den Götzner [Nägele, Anm.] aus, schreibt Holzknecht. Der streitbare Alemanne, der glühende Großdeutsche, der Antisemit und Förderer völkischer Literatur. […] Probleme hatte der Götzner, der von Holzknecht als stur, stets unzufrieden und streitbar beschrieben wird, auch immer wieder mit seinem Geschäftsführer und Mitarbeitern. [...] Nach dem Anschluss wurde Vorarlberg Teil des Reichsgaus Tirol-Vorarlberg. Nägele geriet dabei in ständigen Konflikt mit der Gauleitung […]. Eine Auseinandersetzung, die er nach 1945 nutzte, um sich ‚als überzeugten Vorarlberger Föderalisten zu präsentieren‘. Schwierigkeiten hatte er aber nicht mit dem Nationalsozialismus, sondern nur mit der Unterordnung Vorarlbergs unter Tirol. […] Eine enge Beziehung hielt Nägele zu den Vorarlberger Industriellen, vor allem aus der Textilindustrie, zu deren ‚Haus- und Hofschreiber‘ er wurde. Diese Texte hatten aber nichts mit wissenschaftlichen Arbeiten zu tun, sondern waren vielmehr Werbung für das jeweilige Unternehmen. […] [Holzknechts Buch, Anm.] ist ein informativer Beitrag zur Vorarlberger Zeitgeschichte, der anschaulich einen Mann porträtiert, der nicht nur Mitläufer, sondern Überzeugungstäter war – und das ein Leben lang blieb.“
Die konträren Beurteilungen Nägeles spiegeln nicht nur den fortgeschrittenen historischen Wissensstand, sondern auch den Wertewandel seit den 1970er Jahren wider. Nämlich dann, wenn die Bewertung über eine inhaltliche Kritik hinausgeht – bis hin zu festgestellten Charaktermerkmalen. Aber auch die inhaltliche Auseinandersetzung wirft Fragen auf. Das von Nägele vertretene Geschichtsbild beschrieb der Politikwissenschafter Markus Barnay schon 1983 richtigerweise als aufbauend „auf einer Kombination von historischen Fakten und wertenden Mythen“. Heute wird Nägele mitunter undifferenziert der Rubrik „Fake-News-Produzent“ zugeordnet. Holzknecht gelingt hingegen eine sachlichere Betrachtung, indem er Nägeles Werk in Verbindung mit seiner Entstehungszeit stellt.
Nach wie vor wird auf die zahlreichen Branchen- und Firmengeschichten Nägeles zurückgegriffen, entstanden oft im Auftrag heimischer Industrieller. Diese Schriften mit den darin enthaltenen Fakten haben teilweise bis heute eine Alleinstellung und damit eine berechtigte Relevanz – freilich mit ihrem Entstehungshintergrund vor Augen. Nägele verherrlichte ein patriarchalisches Unternehmertum, während man ernsthafte Erläuterungen zur sozialen Lage der Arbeiterschaft oder zur NS-Zeit vergebens sucht. In einem späten Manuskript Nägeles findet sich ein eingelegter Brief des Textilindustriellen und ÖVP-Nationalratsabgeordneten Rudolf Hämmerle aus dem Jahr 1974. Daraus geht hervor, dass Nägeles Art der Darstellung schon damals bisweilen selbst im eigenen Umfeld als antiquiert galt. Hämmerle riet von einer Veröffentlichung ab und resümierte: „Die ganze Betrachtung hätte wie schon gesagt 70 Jahre früher gepasst, als der Kampf Liberal-Konservativ hohe Mode war.“
Ausläufer der von Hans Nägele propagierten Ideologie alter alemannischer Tugenden begegnen uns übrigens auch noch im Jahr 2023. Etwa, wenn im Rahmen politischer Neujahrsansprachen betont wird: „Außerdem kommen uns besondere Vorarlberger Eigenschaften zugute. Wir denken voraus, wir jammern nicht, wir handeln.“
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