Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Corona und Klima

Mai 2021

Über zehntausend Todesfälle im Zusammenhang mit der Pandemie sind nun in Österreich zu beklagen. Vor einem Jahr hätte das ungläubigen Schrecken ausgelöst. 
Knapp 300 davon entfallen derzeit auf Vorarlberg: der kleinste Anteil unter allen Bundesländern, gut ein Drittel weniger als im österreichischen Durchschnitt, bezogen auf die Bevölkerungszahl. Das hat wohl mit einer ganzen Reihe von Besonderheiten im Ländle zu tun, die insgesamt eine überdurchschnittliche Lebensumgebung ermöglichen: mit der demografischen Struktur, mit einem besseren Gesundheits- und Ernährungszustand, ausgeprägter Bereitschaft zur Gesundheitsvorsorge und zu körperlicher Betätigung; natürlich auch mit der Leistungsfähigkeit und Qualität der Krankenanstalten und des dort tätigen Personals. Obwohl Industrieland, spielt die mäßige Belastung der Umwelt eine positive Rolle; auch überlegte Gesundheitspolitik, die den Status als „Modellregion“ erlaubte. All das muss noch eingehend untersucht werden. 
Wen es nach Wien verschlagen hat, wie den Autor, muss Zuversicht aus anderen Rahmenbedingungen gewinnen: als Risikopatient daraus, die zweite Impfung ohne Nebenwirkungen erhalten zu haben. Wohl auch daraus, dass nun auch in Wien Sonnenschein die grauen Wintertage abgelöst hat und die Natur aufblüht. Allerdings gewann man zur gleichen Jahreszeit auch im Vorjahr Zuversicht und sah auf einen entspannten Sommer. Wir wurden alle eines Schlechteren belehrt, und das mahnt zu Vorsicht und Zurückhaltung. Immerhin verfügen wir aber im Frühjahr 2021 über allmählich ausreichende Impfstoffe und eine mittlerweile eingespielte Impforganisation. Von deren Leistungsfähigkeit überzeugt, ertappt sich der Autor beim sündigen Gedanken an Kässpätzle in Schönenbach und an das Gebimmel des Alpviehs im Sommer. Hoffentlich! 
Ein weiterer Umstand nährt Zuversicht: die Ablöse des unsäglichen Präsidenten Trump durch den neuen Präsidenten Biden. „America first“ hat der ganzen Welt geschadet, auch seinem eigenen Land, und hat akute Probleme der Menschheit im 21. Jahrhundert verschärft. Die wichtigsten davon lassen sich nur durch friedliche Zusammenarbeit lösen. 
Das 21. Jahrhundert stellt die Menschheit vor enorm schwierige und äußerst schwer verständliche Aufgaben. Wir sind in eine Epoche grundlegenden Wandels unseres Weltbildes eingetreten – von ähnlicher historischer Bedeutung wie die Wende, die Nikolaus Kopernikus ausgelöst hat, als er erkannte, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Kosmos bildet. Diese unbequeme Wahrheit setzte sich gegen massive Widerstände und Überzeugungen durch. Sie wurde nie mehr rückgängig gemacht, sondern nur weiterentwickelt. 
Nur auf relativ kurze Sicht geht es heute um die Überwindung der schweren Wirtschaftskrise, die die Weltwirtschaft gelähmt hat. Schon allein, weil sich gleichzeitig mit der Pandemie die technologische Revolution der Digitalisierung auf breiter Front Bahn brach, werden die Wirtschaftsstrukturen nicht mehr auf den Stand vor Corona zurückkehren. Die täglichen Lebensumstände und die Ansprüche an die berufliche Qualifikation ändern sich enorm schnell. Die lange historische Phase dynamischer Wirtschaftsentwicklung hat – ungleich verteilten – materiellen Wohlstand beschert, aber gleichzeitig auch globale Zusammenhänge mächtig verstärkt. „Globalisierung“ ist nicht eine Falle oder Sackgasse, ihre Wirkungen verweisen aber auf die Einsicht in eine die ganze Menschheit umfassende Schicksalsgemeinschaft.

Wir wurden alle eines Schlechteren belehrt, und das mahnt zu Vorsicht und Zurückhaltung.

Als sichtbaren Ausweis der Zugehörigkeit zu dieser Weltgemeinschaft tragen die Menschen, unabhängig ob in Indien, in Brasilien oder in Deutschland und Österreich, einheitliche Masken vor Mund und Nase. 
Für die Naturwissenschaft sind die Prozesse, die den Klimawandel verursachen, weitgehend geklärt: die Erdatmosphäre ist aus dem Gleichgewicht geraten. Die Freisetzung von klimaschädlichen Abgasen aus der Nutzung von fossilen Energieträgern muss so schnell wie möglich gestoppt, bisher ausreichende Infrastrukturen müssen vorausschauend verbessert werden. Welche Folgen der Klimawandel schon in naher Zukunft haben könnte, ist weniger klar. Er könnte sich unvorhersehbar beschleunigen, so dass die Menschheit wenig Chancen hätte, einem unerträglichen Temperaturanstieg vorzubeugen. 
Energiesysteme, die die täglich von der Sonne ausgestrahlte Wärme effizienter als bisher nutzen, sind bereits in der Praxis erprobt, können aber noch stark verbessert werden. Sie müssen die zentrale Rolle, die fossile Energiequellen in der heutigen Zeit für die Wirtschaftsstruktur, für das tägliche Leben und für die Zielvorstellungen von materiellem Wohlstand spielen, ablösen. Eine Umwälzung, die tief in Gewohnheiten und Präferenzen heutiger Menschen eingreift. Verständlich, dass sich dagegen nicht nur der Widerstand etablierter politischer und wirtschaftlicher Interessen regt, sondern auch Bedenken und Sorgen um Fairness und Gerechtigkeit der sich ergebenden post-fossilen Verhältnisse. Dabei sollte sich das Augenmerk nicht einseitig auf Kosten und Risiken des Umbaus, sondern auch auf die Vorzüge sauberer und unbegrenzt verfügbarer Energien konzentrieren. 
Nun scheinen die Ankündigungen der amerikanischen Regierung, die Pläne der EU, langfristige Zielvorstellungen Chinas und Russlands, sehr erstaunliche Signale des Währungsfonds sowie die öffentliche Zustimmung mehrerer hundert weltweit tätiger Wirtschaftsunternehmen einen Prozess der Abwendung von fossiler Energie zu signalisieren, der rasch an Fahrt gewinnen könnte. Immerhin stehen die Bilanzen der Großkonzerne unter dem Druck, nicht zuzuwarten, bis ihr „fossiles“ Kapital in einem Erdrutsch abgewertet werden könnte. 
Die akute Umweltproblematik erscheint nicht mehr als zwanghafte Vorstellung von grüngesinnten Romantikern oder als verständliche Sorge der schulstreikenden, aber nicht ausreichend ausgebildeten Jugend. Sie macht es jedenfalls unausweichlich, die Lebensverhältnisse unserer Kinder und Enkel und überhaupt kommender Generationen und weit entfernt lebender Völker auf dem gesamten Erdball zu bedenken. Die Aufgabe ist enorm groß, aber nicht unmöglich. Und sie ist verständlicherweise Widerständen ausgesetzt, die die heute erkennbaren Perspektiven nicht wahrnehmen wollen.
Der Klimawandel beleuchtet grell die ungleiche Verteilung des Wohlstands auf der Erde: Er trifft Weltgegenden und Völker schon heute und in Zukunft noch härter, die für seine Ursachen nahezu keine Verantwortung tragen. Diese sind aber nicht zuletzt deshalb arm geblieben. Und sie vermögen ihren Nachkommen keine ausreichende Lebensgrundlage zu bieten. 
Klimawandel wirft also unmittelbar ethische Fragen auf, für die die technokratischen Strukturen aktueller politischer Entscheidungsprozesse und globaler Gipfelkonferenzen nicht zu passen scheinen. „Klimawandel ist nicht ein ‚Problem‘, das auf eine ‚Lösung‘ wartet. Er ist ein Phänomen der Umwelt, der Kultur und der Politik, das die Art, wie wir über uns selbst, unsere Gesellschaft und den Platz von Humanität auf der Erde denken, neu formt.“ (Mike Hulme).

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