Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Ist es schon zu spät?

September 2022
Die Erde und ihre Bewohner sind seit Jahren, in jüngster Zeit rasch zunehmend, schädlichen Effekten des Klimawandels ausgesetzt. Diese sind irreversibel und werden sich über den Rest dieses Jahrhunderts und darüber hinaus fortsetzen. Der Klimawandel ist eindeutig auf menschliche Lebensverhältnisse und Technologien zurückzuführen, insbesondere auf die Abgase der Verbrennung von fossilen Energieträgern. Sie verursachen in der Erdatmos­phäre einen „Glashauseffekt“ mit der Folge der Klimaerwärmung. Die wichtigste Strategie, diese zumindest auf ein vertretbares Ausmaß einzudämmen, ist – zusätzlich zu vorausschauenden Anpassungen der Infrastruktur – der rasche Ersatz des bis heute gebräuchlichen Energiesystems durch konsequenten Einsatz der unerschöpflich verfügbaren Sonnenenergie in verschiedenen Formen. Diese Strategie setzt allerdings einen hohen und vor allem sehr dringlichen Einsatz von weiterentwickelten Technologien und von Verhaltensänderungen sowohl im persönlichen Leben, in Gesellschaft und Wirtschaft voraus.
Diese Strategie wurde von der Gemeinschaft nahezu aller Staaten offiziell gebilligt: sie verpflichteten sich angesichts der drohenden Folgen der Erwärmung zu abgestimmten Maßnahmen, die den Anstieg der Erdtemperatur bis Ende des Jahrhunderts auf +1,5 Grad Celsius (im Vergleich zum vorindustriellen Niveau) begrenzen würden. Die Umsetzung dieser Strategie nimmt da und dort konkrete Formen an, doch reichen diese noch bei Weitem nicht aus, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Manche meinen, die Bemühungen kommen bereits zu spät. 
Wirksamer Klimapolitik stehen schwer überwindliche Hindernisse entgegen: 
›› Elementare Unkenntnis oder Unsicherheit über das hochgradig komplexe Netzwerk natürlicher oder von Menschen gemachter Einflüsse auf das Klima, ganz besonders auf längere Sicht von Jahrzehnten oder Jahrhunderten. 
›› Mangelnde Einsicht oder Zweifel an der Richtigkeit der wissenschaftlich untermauerten Anschauungen und Belege; Unverständnis für Wissenschaft, ausgelöst durch Ideologien oder gesellschaftliche Umgebung.
›› Bedroht erscheinende individuelle politische oder wirtschaftliche Interessen. 
›› Grundsätzlich optimistische oder pessimistische Einstellung zur Zukunft der Erde und der menschlichen Gesellschaft; generelles Desinteresse an künftigen Entwicklungen. 
›› Immer klarer die Unfähigkeit der nationalen und der globalen Politik, mit der Bevölkerung zu kommunizieren.  
Gefahren des Klimawandels für die Natur und für die menschliche Lebensweise wurden erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts erkannt. Ihre hauptsächliche Ursache – rasche Expansion menschlicher Aktivitäten seit dem 19. Jahrhundert – war bis vor wenigen Jahren noch umstritten. Besonders wurde darauf hingewiesen, dass Klimaschwankungen schon mehrmals in der Menschheitsgeschichte aufgetreten seien und dass diese auf natürliche, von Menschen kaum beeinflussbare Einflüsse aus dem Kosmos zurückzuführen waren. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts setzten sich in Wissenschaft und schrittweise auch in der Politik Einsicht, Theorien und empirische Belege durch, dass die Entwicklung „menschengemacht“ („anthropogen“) sein müsse, und daher auch von Menschen beeinflussbar. 
 
Politischer Einfluss
Freilich erfolgten – und erfolgen noch immer – unbedingt vordringlich erscheinende politische Schritte überwiegend halbherzig und können sich nicht auf Einsicht der Mehrheit der Bevölkerung stützen. In erster Linie üben bedroht erscheinende Wirtschaftsinteressen, die für die fossile Energie in Produktion und Nachfrage eine wichtige Rolle spielen, mächtigen politischen Einfluss gegen ausreichend dimensionierte und rasche Schritte aus. Dabei schwingen Befürchtungen über einen epochalen Verlust an industrieller Orientierung der Wirtschaft mit. Dies hängt auch mit dem rasanten Vordringen digitaler Technologien zusammen, für welches nicht mehr in erster Linie materielle Rohstoffe, sondern Daten entscheidend sind. Außerdem differieren historische Erfahrungen, gegenwärtige Situation und Vorstellungen über die Zukunft fundamental, ganz besonders, wenn der bisher wachsende materielle Wohlstand bedroht erscheint.
 
Wissenschaftlichkeit
Immerhin arbeitet unter gigantischem personellen Aufwand der 1988 von den Vereinten Nationen gegründete Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). Hunderte anerkannte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten in dessen Rahmen an der Schließung von Wissenslücken, an der Verbesserung der naturwissenschaftlichen Grundlagen sowie neuerdings verstärkt auch an der Begründung möglicher Strategien gegen den Klimawandel und dessen sozio-ökonomischen Konsequenzen. Das IPCC kann mit Recht Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit seiner Erkenntnisse in Anspruch nehmen. Leugner des Klimawandels und seiner menschlichen Verursachung spielen in ernst zu nehmenden Diskussionen so gut wie keine Rolle mehr.
Diese Feststellung sei vorausgeschickt, wenn Einschränkungen an Tragweite und Beurteilung der Aussagen des IPCC zu machen sind. In der Medienwelt – damit weitgehend auch in der Öffentlichkeit – werden Aussagen des IPCC über die Klimaentwicklung und ihre Folgen als unbedingte „Prognosen“ missverstanden. Wegen der grundsätzlichen Einschränkungen, die der menschlichen Erkenntnis künftiger Entwicklungen von vornherein gesetzt sind, ist dieser Begriff zu anspruchsvoll. 
In Wirklichkeit handelt es sich um Projektionen auf der Basis gesicherter Theorien und empirischer Beobachtungen, im besten Fall um systemische Netzwerke zahlloser, in der Regel nicht-linearer Zusammenhänge, unter der Annahme, dass sich diese nicht unvorhergesehen – an „Kipppunkten“ – ändern. 
Mit den Phänomenen des Klimawandels beschäftigten sich zunächst verständlicherweise Klimaforscher, Meteorologen, Ökologen und andere Naturwissenschaftler. Auch Ökonomen traten relativ bald mit Fragen nach seinen wirtschaftlichen Kosten und den Vorteilen der Bekämpfung auf, wurden aber durch unvermeidlich willkürliche Annahmen über die anzunehmenden Zukunftswerte (Diskontierung) und durch den ungenügenden Entwicklungsstand der Wachstumstheorie behindert, auch wenn „The Economics of Climate Change“ des Ökonomen Nicholas Stern (2006) weltweite Verbreitung fand. Auffällig unterbelichtet, aber erwiesener Weise ergiebig erschienen lange Zeit hindurch Erkenntnisse der Psychologie und Sozialpsychologie.
 
Nahezu alle Bereiche
Die naturwissenschaftlich geprägte Analyse der Phänomene des Klimawandels und seiner Folgen für die Zukunft spiegelt sich nach wie vor in der Zusammensetzung der ungeheuren Zahl an Beiträgen zu den „Assessments“ des IPCC. Zwar stellt der Klimawandel ein physikalisches Phänomen dar, aber seine Wirkungen erstrecken sich auf nahezu alle Bereiche der menschlichen Zivilisation. 
Insbesondere hängen mögliche oder dringliche Konsequenzen von gesellschaftlichen Strukturen und von humanitären Erwägungen ab. Unglücklicherweise spiegelt auch die Zusammensetzung der wissenschaftlichen Begleitung der Klimapolitik in Österreich ein ähnliches Übergewicht naturwissenschaftlich dominierter Erfahrungen und Vorstellungen wider.
So bleiben entscheidende Reaktionen der gesellschaftlichen Umgebung und des politischen Systems, in ihrer Bedeutung den physikalischen Zusammenhängen gleich, essenziell stark unterbelichtet. In günstigen Fällen handelt es sich nicht um mehr oder minder simple Extrapolationen, sondern doch schon um vernetzte komplexe Modelle nicht-linearer Zusammenhänge. 
Die Führungsebene des IPCC hat in dem heuer vorgelegten „Assessment“ auf diesen Einwand reagiert, dennoch erscheinen nach wie vor die Potenziale der Humanwissenschaften in den sogenannten Klimaprognosen unzureichend berücksichtigt. Klimawandel ist aber ein welthistorischer Vorgang, der weltweit alle Aspekte menschlichen Lebens einschließlich der Verbindungen zur natürlichen Umwelt umfasst.

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