Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Mir san mir

Juni 2022

So nahe können Kriege gar nicht an Österreich heranrücken, dass sich eine Mehrheit der Österreicher nicht durch die Neutralität geschützt fühlen würde“ („Der Standard“). Die keinen Widerspruch duldende Absage des Bundeskanzlers an eine Diskussion über die Konsequenzen der menschen-, völkerrechts- und kriegsrechtswidrigen Aggression Putins kam, als schon ganze Städte in der Ukraine in Trümmern lagen, tausende Opfer zu beklagen waren und Millionen sich gezwungen sahen, ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen, nicht wenige davon ins westliche Ausland.
Die Nachkriegsordnung Europas hat sich am 24. Februar 2022 fundamental geändert. Einige Regierungen im Westen haben wichtige Elemente dieser Ordnung nach kurzer Bedenkzeit von Regierung und Bevölkerung so rasch wie möglich geändert. Finnland und Schweden schienen die neuen Perspektiven, die das verbrecherische Vorgehen Russlands denkbar, vielleicht wahrscheinlich macht, doch so vordringlich, dass sie ihre langjährige Politik der Bündnisfreiheit rasch opferten. 
Teile des angegriffenen, unabhängigen Staates Ukraine zählten einst zu Österreich, wurden von Wien regiert und bewahren noch Erbschaften aus dieser Zeit. Sie sind Österreich nicht ganz fremd und können daher noch immer als unsere Nachbarn und als gemeinsamer Kulturraum angesehen werden. Von Lemberg (Lwiw) nach Wien ist es nicht signifikant weiter als nach Stockholm.
Angeblich fühlt sich eine satte Mehrheit der heutigen Bevölkerung Österreichs durch die „immerwährende Neutralität nach dem Muster der Schweiz“ vor einem Schicksal, wie es der Ukraine widerfuhr, hinreichend geschützt. Dazu kommt seit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union noch eine wechselseitige Beistandspflicht gegenüber deren Mitgliedern, deren Umfang derzeit freilich nicht exakt zu definieren ist. Das Argument, die Neutralität habe Österreich wirtschaftliche Vorteile gebracht, weil es sich leisten konnte, sich mit einer notorisch schmalbrüstigen Armee und einer nicht funktionierenden Miliz zufrieden zu geben und dabei mit dem rechtzeitigen Dazwischentreten stärkerer Partner zu rechnen, wird übrigens in der Schweiz als „unfair“ oder „unanständig“ diskutiert. 
Der Horror vor einer Diskussion über die Konsequenzen des Ukraine-Krieges für die österreichische Neutralität hatte Anfang März Bundeskanzler Nehammer, immerhin Regierungschef eines Staates, der der freien Welt angehört, veranlasst, sich energisch gegen eine ernsthafte Diskussion der Aspekte der Neutralität auszusprechen. 
Im Einklang damit hatte wenig später auch der Sicherheitssprecher der größeren Regierungspartei im Parlament erklärt, dafür bestehe auch kein Anlass, weil sich das Konzept der immerwährenden Neutralität schon von Anfang an und bei allen Wechselfällen der europäischen Geschichte als vorteilhaft und weitblickend herausgestellt habe. Die Ablehnung einer umfassenden Diskussion der durch Putins Krieg ausgelösten Situation bringt den für Sicherheitspolitik zuständigen Abgeordneten in ein merkwürdiges Licht. Die Verweigerung einer ernsthaften und umfassenden Diskussion einer bisher einmaligen und erschreckenden Situation verhindert auch ein Eingehen auf Überlegungen, die für die dringliche Änderung der langjährigen Bündnisfreiheit Finnlands und Schwedens eine Rolle gespielt haben mögen. 
In Österreich hat sich die jahrelange, in Öffentlichkeit und Schulen immer wieder aufgewärmte Sage von der Leistungsfähigkeit der Neutralitätspolitik für das Wohl des Landes verfestigt und behinderte eine Anpassung an Veränderungen der Situation, die in der Weisheit der Situation des Jahres 1955 noch nicht erkennbar gewesen sein konnten. 
Dies wirkt sich bis in regierungsfromme Medien aus: so brachte die allgemein als „bürgerlich“ und „seriös“ angesehene Wiener Tageszeitung vor dem Hintergrund ihrer schon bis 1848 zurückreichenden Geschichte an dem Tag, an welchem Finnland und Schweden ihre Beitrittsanträge beschlossen, über diesen Vorgang kein Wort, keinen Kommentar des Chefredakteurs und keine Meldung über den offenen Brief einer Anzahl gewichtiger unabhängiger Intellektueller in Österreich. 
Eine umfassende, fachlich fundierte Diskussion, was die Festlegungen zur Neutralität bei einem solchen Anlass, wie dem, welcher am 24. Februar überraschend über uns hereingebrochen ist, für einen kleinen westeuropäischen Staat bedeuten könnten, wäre auch dann mehr als angebracht, wenn es nicht direkt um Neutralität und Demokratie geht: um die Konsequenzen der mehr als bedenklichen Kräfteverschiebungen der weltpolitischen Stärkeverhältnisse etwa, oder über die Perspektiven der Politik eines Ji Ching Ping, über Cyber-Warfare und über die Spannungen mit den armen Ländern, vor allem in Afrika. Österreich pflegte über Jahrhunderte die Rolle als europäisches „Reich der Mitte“. Das wirkt offenbar noch immer nach, wenn es um gemeinsame europäische Anliegen geht. Keine Worte drücken diese Haltung besser aus als das Wienerische „mir san mir“.

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