Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Das Modell Vorarlberg aus japanischer Sicht

Oktober 2019

Dr. Kenji Yamamoto, Wirtschafts- und Sozialgeograf aus Japan, beschäftigt sich seit 2015 intensiv mit Vorarlberg.
Im September war Yamamoto wieder zu einem Forschungsaufenthalt im Land, im Interview sagt der Universitäts-Professor (67), dass ihn der Erfolg Vorarlbergs nach wie vor fasziniere: „Vorarlberg ist ein herausragender Wirtschaftsraum, obwohl das Land so klein und ländlich ist.“ Und das ist nicht das Einzige, was der japanische Forscher an Vorarlberg
so erstaunlich findet.

Herr Yamamoto, was können die Vorarlberger denn von den Japanern lernen?
Vorarlberger sollen irgendetwas von uns lernen? Sie drehen meine Forschungsfrage um! (lacht) Wir müssen lernen! Wir müssen vom Modell Vorarlberg lernen.

Dass ein japanischer Wissenschaftler Vorarlberg studiert, ist recht ungewöhnlich …
Europa hat mich immer schon interessiert. Ich habe mich als Student in Deutschland intensiv mit Regionalwirtschaft beschäftigt, nicht nur mit wirtschaftlichen, sondern auch mit kulturellen und sozialen Verhältnissen. In dieser Zeit, insbesondere seit Anfang der 1990er Jahren, haben Wissenschaftler behauptet, dass in der Globalisierung nur Metropolen und Metropolregionen, nicht aber der ländliche Raum erfolgreich sein könnten. Und trotzdem gab es im mitteleuropäischen Raum kleine, sehr erfolgreiche Regionen, die Schwäbische Alb in Baden-Württemberg beispielsweise, das Emsland in Niedersachsen – und eben auch Vorarlberg, wie ich im Zuge meiner Recherchen herausfand. Wie konnte das sein, entgegen aller Behauptungen? Immer mehr wollte ich verstehen, wie es sein kann, dass im mitteleuropäischen Raum einzelne, kleine ländliche Regionen abseits der Metropolen so erfolgreich sein konnten. 

Ist es für japanische Verhältnisse denn so ungewöhnlich, dass auch kleine Regionen erfolgreich sein können?
Ja. In Japan konzentriert sich alles auf Tokyo, auf den Raum Nagoya mit dem Sitz von Toyota und andere Maschinenbauunternehmen, und auf Fukuoka, eine Metropole mit vielen Zweigbetrieben der Großunternehmen, deren Hauptzentrale sich in Tokyo befinden. Alle anderen Regionen leiden unter einer schrumpfenden Wirtschaft und Bevölkerung, der ländliche Raum ist bedeutungslos. Selbst Städte mit 300.000 Einwohnern haben bei uns nur wenig Chancen, sie gelten als zu klein. In Japan gehen Manager großer Unternehmen, höhere Verwaltungsbeamte und Professoren der Wirtschaftswissenschaften fast alle davon aus, dass große Organisationen bessere Chancen hätten. ‚Je größer, desto besser‘, diese Ansicht ist Common Sense in der japanischen Wirtschaft. Dabei kann Kleinheit ein Vorteil sein. Japaner sollten das lernen, weil ländliche Räume mit weniger Bevölkerung in Japan von Megastädten abhängig, also untergeordnet, sind, genauso wie die Beziehungen zwischen den meisten Klein- und mittelständischen Unternehmen und Großunternehmen.

Und warum ist das kleine Vorarlberg so erfolgreich? Was ist Ihre Antwort auf diese Frage?
Das Buch ‚Die sieben Geheimnisse Deutschlands‘ deutet das an, es ist sehr lehrreich. Die Verfasser, Wirtschaftswissenschaftler Audretsch und Lehmann, behaupten, dass mittelständische Familien-Unternehmen als „Hidden Champion“ und Standortpolitik der Schlüssel zum Erfolg seien. Es gibt im deutschsprachigen Raum in der Tat höchst erfolgreiche Unternehmen, deren Chefs mit ihrer jeweiligen Heimat sehr verbunden sind und trotzdem weltweit agieren. Was aber letztlich den Erfolg kleiner, ländlicher Regionen in Mitteleuropa ausmacht, das ist eine nur schwer zu beantwortende Frage. Da sind viele Faktoren zu berücksichtigen. 

Beispielsweise?
Nun mit ein Grund für das erfolgreiche Wachstum ist meiner Ansicht nach, dass Vorarlberg innerhalb der sehr zentralistischen Strukturen Österreichs das Optimale für sich herausgeholt hat. Vorarlberg agiert ja sehr selbstständig, soweit es die zentralistischen Verhältnisse in Österreich zulassen. Vorarlberg selbst ist ja sehr föderalistisch, im Geist und in den Strukturen – mit der Verwaltungszentrale in Bregenz, dem Schwerpunkt der Wirtschaft in Dornbirn und den Kammern in Feldkirch. Ein anderer Grund sind die offenen Grenzen in der Region. Die Schweiz und Süddeutschland waren sehr bedeutend für das Wachstum der Vorarlberger Wirtschaft und sind es auch heute noch. Wobei sich meiner Meinung nach Vorarlberg heute dynamischer entwickelt als die Ostschweiz und bestimmte Regionen in Baden-Württemberg.
 
Sie haben sich auch mit den Anfängen der Vorarlberger Wirtschaft beschäftigt …
Ja, ich habe da vieles gelesen, auch im Buch von Christian Feurstein zur Wirtschaftsgeschichte des Landes, etwa über die Anfänge von Blum und Doppelmayr. Aber darf ich etwas weiter zurückgehen? Vorarlberg war bis Ende des 19. Jahrhunderts ein armes Land. Man hatte zwar bereits früh einen hohen Industrialisierungsgrad, die Statistiken aber täuschten: Denn den hohen Industrialisierungsgrad hatte Vorarlberg nur der schnell und stark gewachsenen Textilindustrie zu verdanken, während andere Regionen innerhalb der Habsburger Monarchie auch in anderen Branchen stark waren, Böhmen beispielsweise im Maschinenbau. Erst in den 1980er Jahren mit dem beginnenden Niedergang der Textilindustrie hat sich das verändert, in eine sehr gute Richtung, es hat sich sehr rasch eine erfolgreiche Metall- und Maschinenbauindustrie entwickelt, obwohl wir Keime der Entwicklung dieser Industrie bereits in den 1950er und 1960er Jahren erkennen können. Vorarl­bergs Wirtschaftsstruktur ist heute sehr ausgewogen. Ich habe mich auch lange mit der Frage beschäftigt, wie Vorarlberg diese Industriestruktur damals hatte ersetzen können. Meine Antwort? Es lag auch an der Wirtschafts- und an der Bildungspolitik, diese beiden Bereiche wurden von der Landesregierung damals bewusst betrieben, unter den Regierungen von Keßler und Purtscher, den Landeshauptmännern. Das war Standortpolitik damals. Vielleicht wurde diese Standortpolitik als Resultat der Wechselwirkungen der verschiedenen Akteuren konzipert, so vermute ich. 

Wir wollen den Japanern ja nicht zu nahe treten. Aber Sie dürften wohl der einzige Japaner sein, der die Namen ehemaliger Vorarlberger Landeshauptleute kennt …
Ja. Da bin ich mir sicher. Im Übrigen gibt es selten ein gutes, aktuelles Buch zur Vorarlberger Wirtschaft, mit Ausnahme von Steininger und Herburger „Die Zukunft Vorarlbergs. Perspektiven 2050“. Es ist mir jedoch recht schwer, an Informationen zu kommen. Ich glaube, Ihre Zeitung, „Thema Vorarlberg“, dient mir als gute Informationsquelle, um Vorarlberg besser kennenzulernen.

Vielen Dank! Sie sind ja öfters zu Besuch in Vorarlberg und haben einmal gesagt, Ihnen seien bei Ihren Firmenbesuchen im Land ‚die flachen Hierarchien‘ aufgefallen ...
Ja! Viele Vorarlberger duzen ihre Chefs! Da duzen auch Mitarbeiter in großen Unternehmen ihre Vorstands­chefs! Das ist erstaunlich. So etwas gibt es bei uns nicht, da sind die Japaner viel förmlicher. Große Unternehmen in Japan sind viel hierarchischer. In Japan wird alles von oben vorgegeben. Das Vorstandsmitglied kann selbstverständlich eigenständige Entscheidungen treffen, aber auf den Ebenen darunter ist das nicht mehr so. Wir sollten mehr Freiheit in unserem Beruf haben. Wir sollten uns da an der Offenheit der Vorarlberger Unternehmen orientieren. Ich habe vor zwei Jahren Omicron und auch Bachmann electronic besucht, für ein, zwei Stunden. Aber selbst in dieser kurzen Zeit habe ich die gute Atmosphäre in diesen Unternehmen gefühlt, da habe ich einen sehr guten Eindruck gewonnen. Japanische Unternehmen sollten auch eine solche Atmosphäre haben, die sollten das lernen.

Dabei haben japanische Management­strategien doch einen unverändert guten Ruf, oder?
Das ist Vergangenheit. Früher war das japanische System in erster Linie seinen Mitarbeitern und seiner Region verpflichtet. Heute heißt es, man müsse sich an den USA orientieren, ein großes Unternehmen habe an die Aktieninhaber und Investoren zu denken. 

Wenn Sie in Japan das Land Vorarlberg beschreiben, was sagen Sie dann?
Dass Vorarlberg sehr erfolgreich ist, dass die Vorarlberger etwas schaffen konnten, obwohl das Land so klein und ländlich ist. Ich spreche da immer vom Modell Vorarlberg. Obwohl es in Vorarlberg keine Metropole oder Großstadt gibt, hat sich dieses Land seit den 1990er-Jahren unter der wirtschaftlichen Globalisierung dynamisch entwickelt. Vorarlberg ist ein herausragender Wirtschaftsraum. Was mir auch auffällt am Modell Vorarlberg ist die Kooperation von Vorarlberger Unternehmen aus verschiedenen Industriebranchen. Auch in Japan kooperieren Unternehmen, aber nur oberflächlich, in Vorarlberg sind diese Kooperationen anders, breiter, besser.

Etwa in der Lehrlingsausbildung?
Früher waren japanische Unternehmen sehr verantwortlich für die Ausbildung, sogenannte OJT (on the job training), dabei spielten die Schulen und die Universitäten fast keine Rolle. Aber mit der Einführung des amerikanischen Managementsystems haben viele japanische Unternehmen die eigene Ausbildung im eigenen Haus aufgegeben, sie investieren immer weniger in die Ausbildung ihrer Mitarbeiter, sie möchten stattdessen nur noch bereits ausgebildete Mitarbeiter einstellen. Das ist der falsche Weg. Die Vorarlberger Unternehmen sind sehr stolz darauf, die Jugend auszubilden und diese Ausbildung ist auch sehr effektiv, auch wenn sie nach dem Schluss der Ausbildung manchmal nicht bei ihrer betreffenden Firma bleiben.

In Sachen Digitalisierung dürfte Japan allerdings schon viel weiter sein, oder?
Wir benutzen in Japan das Wort Digitalisierung nur sehr selten, wir sprechen von Big Data und AI (Artificial Intelligence). Ich bin kein Ingenieur, aber meiner Meinung nach sind japanische Unternehmen im Vergleich mit europäischen Ländern in der Digitalisierung weiter. Allerdings wird der Kontakt unter den Menschen immer schlechter. Mentale, psychische Krankheiten haben in Japan sehr stark zugenommen, bereits bei Studenten. Der Druck ist sehr hoch. Es muss einem also bewusst sein, dass der technologische Fortschritt bei aller Wichtigkeit auch dem menschlichen Zusammenhalt Schaden gebracht hat. Und da würde ich sagen: Der Zusammenhalt unter den Menschen ist mindestens so wichtig wie der technologische Fortschritt. Wir Japaner sollten von der katholischen Soziallehre, das heißt Personalitäts-, Gemeinwohl-, Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip, lernen. Diese Ethik hat Universalität, sie wird wahrscheinlich eine wichtige Rolle für die Prosperität Vorarlbergs auch in der weiteren Globalisierung spielen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Kenji Yamamoto wurde 1952 in Japan geboren und war unter anderem an der TU München als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung tätig. Durch seine Freundschaft mit dem Vorarlberger Professor Dr. Peter Meusburger, den er in den 1980er-Jahren an der Universität Heidelberg kennengelernt hatte, bereiste und erforschte er Vorarlberg zum mittlerweile vierten Mal. Yamamoto ist Professor an der Teikyo-Universität im Tokyoter Großraum seit 2017 sowie Professor Emeritus an der Kyushu Universität in Fukuoka. Zu Vorarlberg hat Yamamoto bereits publiziert, seine Studien liegen bislang allerdings nicht in deutscher Übersetzung vor.

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