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Den Weltmeister überholen
Die Dynamik der Vorarlberger Wirtschaft ist ungebrochen.
Fast alle Länder Europas wurden in den letzten Jahren von einer hartnäckigen Stagnation erfasst. Auch Österreichs Wirtschaftslage lahmt seit zwei Jahren bedenklich. Nicht so in Vorarlberg: Hier wuchs das Bruttoregionalprodukt 2014 (preisbereinigt) um 1,4 Prozent, das österreichische BIP hingegen nur um mickrige 0,2 Prozent. Damit konnte Vorarlberg mit der anhaltend guten deutschen Konjunktur mithalten, der einzigen Wachstumslokomotive in Westeuropa.
Die Vorarlberger Erfolge werden überwiegend im Ausland erwirtschaftet. Der Wert der Warenausfuhren aus Vorarlberg stieg im vergangenen Jahr abermals um 5,5 Prozent, drei Mal so rasch wie die aus Österreich insgesamt (+ 1,7). Vorarlberg, das Bundesland mit der ohnehin schon höchsten Exportintensität, legte bei generell schwacher europäischer Konjunktur auf den Auslandsmärkten am stärksten zu.
Damit übertrifft Vorarlberg nicht nur die Exportleistung Österreichs, sondern auch die Deutschlands und der Schweiz. Im Jahr 2014 stiegen die Ausfuhren Deutschlands, das sich ja gerne als Exportweltmeister rühmt, zwar um beachtliche 3,7 Prozent – damit aber weniger als die Vorarlbergs. Man kann einwenden, dass auch Deutschland im Norden und Osten strukturschwache Regionen aufweist. Aber selbst im dynamischsten Bundesland, Baden-Württemberg, erreichte der Zuwachs (4,6 Prozent) jenen Vorarlbergs nicht. Unser anderes Nachbar-Bundesland, Bayern, konnte seinen Exporterlös nur annähernd gleich stark wie Österreich insgesamt steigern. Blick in die westliche Nachbarschaft: Der Wert der Schweizer Ausfuhren nahm im Vorjahr noch um 3,5 Prozent zu. Im laufenden Jahr rechnet die Schweizer Wirtschaft wegen der Franken-Aufwertung mit einem deutlichen Rückschlag. Fazit: Die Vorarlberger Exportleistung übertraf auch jene der benachbarten, sehr starken Volkswirtschaften. Die sind gleichzeitig stimulierende, aber auch fordernde Konkurrenten.
Als kleines Land verzeichnet Vorarlberg erwartungsgemäß eine hohe Exportintensität, weil ja der Heimatmarkt klein ist: Der Exportwert je Einwohner lag 2014 bei 23.700 Euro, der Spitzenwert in Österreich (15.100 Euro). Aber auch von der Schweiz (21.200 Euro je Einwohner) und von Deutschland (14.000 Euro) wird die Vorarlberger Exportintensität nicht erreicht, nicht einmal vom südwestlichen Musterländle Baden-Württemberg (17.000 Euro). Eine Analyse des WIFO vermutet hinter der außerordentlichen Exportleistung im Vorjahr Auslieferungen von Seilbahnen für die Winterspiele in Sotschi. Das kann kaum sein: Die Vorarlberger Ausfuhren nach Russland gingen schon im Vorjahr zurück. Außerdem wären diese Seilbahnen für die Winterspiele im Februar 2014 wohl zu spät gekommen …
Erfreulich und beruhigend ist, dass sich der Erfolg nicht auf dieses eine, gewiss attraktive, Produkt allein stützt, sondern dass die Leistung ziemlich breit über mehrere Branchen streut: Eisen- und Metallwaren, Elektro, Chemie, Feinmechanik, Beleuchtung, Möbel und Bettwaren und gerade auch Textilien, die vor etlichen Jahrzehnten noch fast allein den Vorarlberger Export getragen hatten, erzielten überdurchschnittliche Zuwächse. Andererseits hat die internationale Investitionsschwäche den Export von Maschinen und Apparaten etwas gedämpft.
Alles paletti?
Natürlich nicht. Diese Ergebnisse sind gewiss Anlass, sich ein wenig auf die Schultern zu klopfen: der Wirtschaft, den Unternehmerinnen und Unternehmern, der tüchtigen Bevölkerung und auch der heimischen Politik. Grund zum Innehalten und zur Befriedigung durchaus, Grund zum Ausruhen keineswegs. Sich an der Spitze zu halten, ist in einer dynamischen Wirtschaft schwieriger als an die Spitze vorzustoßen.
Nach wie vor schwächelt die europäische Konjunktur, nach wie vor sind die längerfristigen Perspektiven zweifelhaft: Die Währungskrise kann schon in Kürze wieder aufbrechen, wenn sich herausstellt, dass die Griechenland-Krise keineswegs gelöst ist. Kreditzinsen sind sogar für längerfristige Finanzierungen real nahe null: ein bedenkliches Anzeichen von Risikoscheu und Zukunftsskepsis. Die europäische Wirtschaft investiert kaum den Ersatzbedarf, und wenn doch, dann in anderen Weltteilen. Das ist auch deprimierend für Sparer, die für ihr Alter vorsorgen möchten. Auf jeden Fall sind das anhaltend schwierige Bedingungen.
Sich dem Sog der krisenhaften Lage in Europa entzogen zu haben, ist eine große Leistung. Sie setzt hohe Innovationsfähigkeit, überzeugende Qualität und gezielte Nutzung von internationalen Marktnischen voraus. Sicher wurde der Vorarlberger Export von der Dynamik des deutschen und auch der Stabilität des Schweizer Markts unterstützt und vom Rückschlag in Russland weniger berührt als Standorte im Osten Österreichs. Aber Deutschland und die Schweiz zählen zu den anspruchsvollsten Märkten der Welt; dort zu reüssieren ist kein Kinderspiel.
Österreich hat viel an Schwung verloren
Neben einer langen unerledigten Reformagenda, die den Standort belastet, sind für die Probleme Gesamt-Österreichs auch Rückschläge auf Exportmärkten verantwortlich. Die österreichische Industrie hat offenbar zu lange an Marktsegmenten festgehalten und nicht rasch genug auf tiefgreifende globale Veränderungen reagiert. Ein Beispiel ist die bedeutende Autozuliefer-Industrie, die mit der globalen Verlagerung der Autoproduktion mitkommen muss.
Bildung von Know-how-Clustern
Vorarlbergs Stärke ist seit der Textilkrise, dass seine Wirtschaftsleistung nicht mehr von einzelnen Branchen abhängt, sondern sich auf eine beachtliche Zahl von unternehmerischen Leitbetrieben in etlichen Wirtschaftsbereichen stützt. Dennoch können Vorteile industrieller Cluster genutzt werden. Die Wirtschaftspolitik hat allerdings nicht so sehr die Ansiedlung von Clustern forciert. Eher war sie bestrebt, die Infrastruktur für Cluster als öffentliches Gut bereitzustellen: präzise Orientierungen über regionale Entwicklungsziele, etwa im Energiesektor oder im Tourismus, oder die Verbesserung der Informationsdichte und der Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft über Fachgebiete und Branchen hinweg mit der Zielvorstellung regional spezialisierter Wissenspools. Ansätze dazu bestehen bereits: Vorarlberg als textiles Innovationsland für revolutionäre textile Aufgaben in enger Kooperation mit Chemie, Metallverarbeitung und Elektronik. Bravo! Eine Schlüsselfunktion kommt natürlich dem Nachwuchs an qualifiziertem Fachpersonal zu – vielleicht die wichtigste Voraussetzung für dynamische Standortqualität.
Diese Schritte sollen erlauben, was Gunther Tichy im WIFO unlängst „die Fähigkeit zur Rekombination bestehender Kompetenzen“ nannte. In einem gewissen Sinn kann das den Vorrang von Diversifizierung vor Spezialisierung bedeuten, um die geforderte Flexibilität sicherzustellen. Die Vorarlberger Wirtschaft ist voraus. Aber Erfolge sind kein komfortables Ruhekissen.
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