Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Die hohe Kunst des Schuldenmachens

April 2018

Der Kardinal von Wien, Christoph Schönborn, und ein extrem neoliberaler Journalist äußerten sich unlängst, ziemlich ungewohnt, im gleichen Sinn. Es sei wirtschaftlicher Unfug, schon vorhandene hohe Staatsschulden mit noch mehr Schulden zu bekämpfen, appellierte Letzterer an den Hausverstand, und: Schuldenmachen sei unsozial, zurückzahlen müssten die Schulden letztlich „unsere Kinder“, so der Erzbischof. Nicht wenige Leser werden sowohl dem einen wie dem anderen recht geben.

Dem Schuldenmachen haftet der Geruch des Unseriösen, Unverantwortlichen an. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass in der deutschen Sprache die Begriffe „Schuld“ oder „schuldig sein“ und der Begriff „Schulden machen“ fast ununterscheidbar verwandt sind. Noch gravierender ist aber die wirtschaftliche Erfahrung privater Bürger oder Geschäftsleute, dass zu hohe Verschuldung in eine Falle führt, die Verzicht, Einschränkungen und meist auch Verluste der Gläubiger zur Folge hat.

Mit den gleichen Argumenten gelten Staatsschulden oft als politisch liederlich, meist verfehlt und die Zukunft belastend. Auch weil man der Seriosität der verantwortlichen Politiker recht wenig vertraut. Und, um das gleich festzuhalten: Sie verdient es auch oft nicht. Politiker wollen in wenigen Jahren wiedergewählt werden, also tun sie den Wählern lieber nicht weh, sondern verteilen möglichst schmackhafte „Guatele“, notfalls auf Kredit finanziert.

Die Versuchung, Budgetdefizite nicht durch Sparen beim Staatsaufwand, sondern durch Kredite zu finanzieren, also zum Beispiel Staatsanleihen in Zürich Bahnhofstraße zu begeben, ist für Politiker, zumal auch österreichische, immer wieder unwiderstehlich. Diese Erfahrung teilt der Autor mit dem Kardinal und dem Neoliberalen.

Aber: Auch auf die Gefahr hin, dass Sie den Autor als blind gegenüber klar evidenten Fakten verdächtigen, verlangt die Wissenschaft der Staatsfinanzen eine differenziertere Betrachtung. Kaum eine Frage der Nationalökonomie ist so komplex wie die nach der „richtigen“ Höhe von Staatsschulden. Eine Antwort, zu der viele neigen, lautet: „Null Staatsschulden“. Staatsschulden seien unter normalen Verhältnissen – Kriege vielleicht ausgenommen – überhaupt zu vermeiden. Und wenn frühere Regierungen schon Schulden aufgenommen hätten, dann seien sie so schnell wie möglich, auch unter Opfern, abzubauen. Manchmal gelingt das sogar.

Der Staat könnte aber mithilfe von langfristigen Krediten ebenso langfristig nützliche Investitionen finanzieren, die der Leistung der Volkswirtschaft auch noch nach Jahren zugutekommen: Beispiel Autobahnen, besonders beliebt auch Tunnels unter den zahlreichen noch nicht durchlöcherten Bergen, oder vor allem Investitionen in ein exzellentes Bildungs- und Forschungssystem, das die Qualifikation und die Innovationen der folgenden Generationen sicherstellt. Diese kommenden Generationen könnten dann der früheren Politik mit Recht vorwerfen, Chancen verpasst und nicht in die künftige Wettbewerbsfähigkeit investiert zu haben. Und warum mit Schulden finanziert? Einfach, weil der Ertrag solcher Investitionen in Zukunft auch den künftigen Bürgern zukommt und daher nicht unbedingt allein von den heutigen Steuerzahlern getragen werden muss. Das ist nur fair.

Ich nehme nun an, dass kurzfristige Verschuldung aus konjunkturellen („keynesianischen“) Gründen nicht unter das Verdikt des Kardinals fallen. Sie sollten ja nach wenigen Jahren durch entsprechende Überschüsse bei guter Konjunktur wieder abgebaut werden. (Ja, ich weiß, diese theoretische Forderung wird nur ganz selten befolgt.)

Schwieriger wird der Fall aber grundsätzlich, wenn der Staat Schulden aufnimmt, um individuelle oder verbreitete Not zu mildern: Arbeitslosigkeit, unverschuldete Armut, Krankenbehandlung und Pflege, Naturkatastrophen. Da sollten ja eigentlich das Mitgefühl und die Solidarität der nicht betroffenen Bürger ausreichen, von ihrem Einkommen oder Vermögen zugunsten der Betroffenen entsprechend privat umzuverteilen. Obwohl sehr im Sinn christlichen Lebens, funktioniert das ohne verbindliche Regeln (die der Staat überwacht) nicht ausreichend.

Aber das bedeutet noch nicht, dass der Staat Sozialaufwand kreditfinanzieren muss oder soll. Er müsste dann halt bei anderem Aufwand entsprechend einsparen. Da fällt uns gleich ein: Bürokratie, Subventionen, Prestigeprojekte. Aber würde ohne staatliche Anreize das Erhalten der Umwelt oder der Übergang auf ein nachhaltiges Energiesystem rechtzeitig gelingen? Würden Besiedelung und Bewirtschaftung der Bergregionen zu sichern sein? Soll der Staat alle Bezirksgerichte im ländlichen Raum schließen oder kleine Dorfschulen auflassen?

Sparen beim Staatsaufwand ist eine sehr hohe und sehr komplizierte politische Kunst. Da sind auch die Interessen der gegenwärtigen Generation, also der Wähler und Steuerzahler, gegen die Interessen der Kinder und Kindeskinder abzuwägen. Daher bitte keine suggestiven Postulate, die Staatsschulden in Bausch und Bogen verurteilen.

Bei fast keiner Frage ist der Ökonom so verlegen, wie bei jener nach den Grenzen der Verschuldung des Staates. Das hat zwar auch mit Weltanschauung und Menschenbildern zu tun, aber nicht nur: Vor allem hängen Antworten von einer sorgfältigen Analyse sehr vielfältiger Umstände der konkret vorliegenden nationalen Perspektiven und ihrer internationalen Umgebung ab. Selbstverständlich gibt es Grenzen: Nicht erst, wenn der Staat, wie in Griechenland, bankrott ist, sondern schon, wenn ihn die Schuldentilgung und die Zinsen an seinen eigentlichen Aufgaben hindern. Ein Staat ist ja nicht hauptsächlich zum Schuldentilgen da. Angesichts der Schwächen der meisten Politiker und Parteien ist es zwar nicht grundsätzlich falsch, immer wieder vor leichtsinnigem Schuldenmachen zu warnen. Aber das berühmte Nulldefizit ist nicht das elfte der Gebote, sondern meist eine politische Augenauswischerei.

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