Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

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„Einige Jahrzehnte besonders dummer Entscheidungen“

Oktober 2018

Der österreichische Historiker Ralf Grabuschnig (29) führt in seinem aktuellen Buch „Endstation Brexit“ recht humorvoll durch die britische Geschichte.
Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ erklärt der England-Kenner, ob man mit historischem Blick die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, besser verstehen kann.

Lässt sich eine historische Begebenheit schildern, die den Charakter der Briten auch heute noch beschreibt, quasi eine zeitlose Anekdote?

Mit dem Ausdruck „Nationalcharakter“ wäre ich vorsichtig; aber es gibt schon Phasen, die gewisse Ähnlichkeiten haben. Die wohl berühmteste Gestalt der englischen Geschichte, Heinrich VIII, hatte sich in den 1530ern von Rom losgelöst, nur um sich scheiden lassen zu können. Dafür gab’s dann im Gegenzug 400 Jahre lang Probleme mit den Katholiken im eigenen Land, samt Bürgerkriegen und dem Nordirland-Problem. Und so kommt’s mir auch heute manchmal noch vor. Da wird mit dem Brexit ein Land aus der Europäischen Union herausgezogen, um jeden Preis, komme, was wolle. Wenn’s sein muss, auch ohne Deal, nur damit man die Grenzen für Migranten schließen kann. Kurzfristige Entscheidungen können jahrzehntelange, jahrhundertelange Folgen nach sich ziehen; den Briten scheint’s oft egal zu sein ...

Haben Sie eine Figur der britischen Historie besonders ins Herz geschlossen?

Ja. Johann Ohneland. Eine irre Gestalt, ein ausgewiesener Nichtskönner, der es als viertgeborener Sohn entgegen aller Wahrscheinlichkeiten doch noch zum König brachte, es aber schaffte, innerhalb von nur 17 Jahren fast die gesamten Besitztümer Englands in Frankreich zu verlieren. Johann war damit für den ersten Brexit der Geschichte verantwortlich! Seine Reputation war dermaßen schlecht, dass er als „John the Bad“ in die Geschichte einging und er in einem BBC-Ranking zum schlechtesten Briten des 13. Jahrhunderts gewählt wurde. Und das bei reichlich Auswahl! Allerdings hatte diese tragische Figur unfreiwillig ein positives Erbe hinterlassen: Englische Adelige hatten ihn 1215 gezwungen, die Magna Charta zu unterzeichnen; also jenes Dokument, das heute als Grundlage des englischen Rechtsstaates und der englischen Demokratie gilt.

Sie nennen in Ihrem Buch Johann Ohneland auch den David Cameron des 13. Jahr­hunderts ...

Und umgekehrt könnte man Cameron den „John the Bad“ des 21. Jahrhunderts nennen. Als Cameron 2005 Parteivorsitzender der Konservativen wurde, forderte er mit seinem Schlachtruf „Stop banging on about Europe!“ Kritiker in den eigenen Reihen auf, endlich aufzuhören, ständig über die Europafrage zu jammern. Cameron wollte das Thema, das in Wahrheit seine Partei zerfraß, einfach zur Seite wischen. Erst als er 2010 zum britischen Premier gewählt wurde, dämmerte ihm allmählich, dass große Teile seiner eigenen Partei in Europafragen nicht auf seiner Linie lagen. Da kam er auf die glorreiche Idee, ein Referendum könne das Problem lösen: Die Bevölkerung würde ja wohl für den Status quo stimmen und damit die Hinterbänkler in seiner Partei, diese EU-Gegner, zum Verstummen bringen. Cameron wollte ein innerparteiliches Problem mit einem öffentlichen Referendum lösen. Ein guter Plan! „John the Bad“ wäre neidisch gewesen ...

Versteht man mit historischem Blick den Entscheid der Briten, die EU zu verlassen, eigentlich besser?

Dem Brexit sind zwar einige Jahrzehnte besonders eigennütziger und dummer Entscheidungen verschiedener Politiker vorausgegangen; aber wenn man die britisch-europäischen Beziehungen über mehrere Jahrhunderte hinweg betrachtet, dann sieht man schon gewisse Regelmäßigkeiten. Die beiden Blöcke haben sich immer wieder aufeinander zubewegt, um beinahe sofort wieder auseinanderzudriften. Was ist die historische Dimension des Brexit? Offiziell heißt es heute, man wolle die Kontrolle über die Grenzen, die Kontrolle über die Migration und damit die nationale Souveränität zurückerlangen. Doch schwingt bei den Brexit-Befürwortern auch etwas anderes mit: Die Auffassung, Großbritannien sei nach wie vor so mächtig und groß, dass man die Europäische Union auch gar nicht brauche. Teilweise absurde Vorstellungen werden da laut. Aber dahinter steckt wohl die Sehnsucht nach der einstigen Größe, nach dem Glanz vergangener Zeiten. Irgendwer müsste Johnson, Farage und Konsorten dringend einmal erklären, dass ein Austritt aus der EU das Empire auch nicht zurückbringt.

Dessen Abstieg aber nur wenige Jahrzehnte dauerte.

Das Empire schmolz regelrecht dahin. Noch im 19. Jahrhundert umfasste es ein Viertel der Welt. Die Australier und Kanadier verabschiedeten sich in den 1930ern, Indien erlangte 1947 seine Unabhängigkeit, ein Jahr später beendeten die Briten ihr Mandat über Palästina; Burma und Ceylon verließen im selben Jahr das britische Einflussgebiet. Ein paar Jahre später hatte Großbritannien so gut wie keine Kolonie mehr. Die USA und die Sowjetunion waren die neuen Supermächte, Großbritannien war in den 1960ern ein orientierungsloses Land am Rande Europas. Die Briten wussten nicht, wohin; die einstige Weltmachstellung war verloren, ob man es sich nun eingestand oder nicht, die Gegenwart höchst unsicher und die Zukunft vollkommen unklar. Großbritannien steckte in einer tiefen Wirtschaftskrise. In den 1960ern entstanden die ersten Bewegungen in Richtung Europa, in Richtung EWG, die schließlich im Beitritt 1973 mündeten. Aber es sagt viel, dass die Briten noch ein Jahr zuvor die EFTA gegründet hatten, die Europäische Freihandelszone, quasi als Konkurrenzveranstaltung. Es war eine Zeit der Orientierungslosigkeit – und es ist heute auch wieder eine Zeit der Orientierungslosigkeit. Es ist ja absolut nicht klar, wo Großbritannien nach dem Brexit letztlich stehen wird. Wobei meine Grundthese lautet, dass auf die Wegbewegung wieder eine Phase der Annäherung folgen wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

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