Markus Rhomberg

Geschäftsführer der Internationalen Bodensee-Hochschule, einem Verbund von 27 Universitäten und Hochschulen in der Vierländerregion. Zuvor hat er sich als Professor für Politische Kommunikation in Hamburg und Friedrichshafen vor allem mit dem Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Politik beschäftigt und Strategien für erfolgreiche Klimakommunikation untersucht.

Mehr als die Summe der einzelnen Teile

Mai 2022

Als am 17. Februar 2010 eine der ersten Publikationen am CERN, dem weltweit größten Teilchenbeschleuniger entstand, staunte die Öffentlichkeit vor allem über eine Liste: Als Autoren und Autorinnen waren 2200 Forschende in alphabetischer Reihenfolge angeführt. In einer Disziplin, in der der „Kampf“ um die ersten Plätze auf einer Publikation teilweise erbittert geführt wird, weil er hohe Anerkennung für die eigene Leistung bedeutet, war diese gleichberechtigte Teamarbeit überraschend.
Es spiegelt aber die Arbeitsweise am CERN wider, erklärt die Wissenssoziologin Karin Knorr Cetina. Das auf eine Vielzahl an Forschenden verteilte Wissen und die damit einhergehende gemeinsame Verantwortung für das Gelingen dulde eben kaum Hierarchien. Die Kollaboration organisiere sich selbst. Ähnlich aufgebaut ist auch das ATLAS Projekt am CERN, das 2012 das Higgs Boson entdeckt hatte. Dafür erhielten François Englert und Peter Higgs 2013 den Nobelpreis. Mittlerweile arbeiten 3000 Forschende aus 181 Institutionen aus 42 Länder in diesem Projekt. Auch ATLAS ist kollaborativ organisiert.
Die Vorstellung, „dass es eine einzelne Person ist, die eine Entdeckung, eine Erfindung oder auch eine wissenschaftliche Leistung zu verantworten hat, war immer ein Stück weit Illusion“, beschreibt Kärin Nickelsen von der LMU in München. Dies zeigt sich auch an den Institutionen des Wissenschaftsbetriebs: So kann ein Nobelpreis an maximal drei Personen gleichzeitig vergeben werden. Und daraus formt sich auch das Bild des „einsamen Gelehrten“. In einer Eurobarometer-Studie aus dem vergangenen Jahr folgte immer noch mehr als ein Drittel der österreichischen Bevölkerung dieser Vorstellung. 
Gleichzeitig zeigt dies aber auch ein Paradox, betont Nickelsen: „Alle in der Wissenschaft möchten eigentlich gerne alles selbst herausfinden, aber wir haben Projekte, die so komplex sind, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, das alleine zu bewältigen.“ Es geht in der Wissenschaft also um Teamarbeit. Das Wissenschaftssystem wird zunehmend „sozialer“, beschreibt Heiko Rauhut von der Universität Zürich.
Teamarbeit kann rein in der Wissenschaft funktionieren, aber auch in Gruppen, die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern stammen. Gerade die großen systemischen Herausforderungen können nicht von der Wissenschaft allein gelöst werden, sondern brauchen Fähigkeiten aus der Praxis. Damit steigt die Komplexität der Zusammenarbeit. Welche Form der Zusammenarbeit gewählt wird, sollte deshalb gut überlegt sein, denn es gibt ganz unterschiedliche Grade: von Netzwerken, Koordination bis hin zu Kooperation und Kollaboration. 

 

„Die Vorstellung, dass es eine einzelne Person ist, die eine wissen- schaftliche Leistung zu verantworten hat, war immer ein Stück weit Illusion.“

Vom Netzwerk zur Kollaboration

Während Netzwerke sich vor allem auf Kommunikation und Austausch beziehen, um Informationen zu gewinnen, um eigene Ziele zu erreichen, geht die Form der Koordination einen Schritt weiter: zwar haben auch hier die Partner unterschiedliche Ziele. Durch die Koordination ihrer Aktivitäten können die Partner diese aber besser erreichen als allein. So können zum Beispiel Erfahrungen und Wissen ausgetauscht werden, die helfen, das eigene Ziel besser zu erreichen. Die Partner arbeiten aber schlussendlich selbstständig. 
Eine noch stärker integrierte Form der Zusammenarbeit ist die Kooperation: Unterschiedliche Organisationen verfolgen dabei die gleichen oder ähnliche Ziele. Sie sind davon überzeugt, dass Kooperation dabei hilft, ihre Ziele besser zu erreichen als alleine. Dafür müssen sie Aktivitäten koordinieren: So übernehmen Teams aus unterschiedlichen Fachgebieten Teilaufgaben, um ans Ziel zu kommen. In Kooperationsprojekten arbeiten zum Beispiel Forscher an Fragen von Mobilitätsinfrastrukturen, während andere Teams Verkehrsströme analysieren – sich damit beschäftigen, welche Anreize dafür geschaffen werden können, dass Bevölkerungsgruppen vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen. Gleichzeitig testen Verkehrsbetriebe neue Fahrpläne oder Tarifangebote und bringen diese Ergebnisse mit ein. 
Je komplexer die Herausforderungen aber sind, desto höher werden die Anforderungen. Eine arbeitsteilige Form, in der die Ergebnisse wie die Teile eines Puzzles zusammengestellt werden, reicht dann nicht mehr aus. Die Form der Kooperation, in der ein gemeinsames Ziel zwar zu Beginn des Prozesses in unterschiedliche fachliche Bereiche filetiert werden kann, stößt an ihre Grenzen und die Kollaboration kommt ins Spiel.
In dieser begeben sich die Partner gemeinsam und auf Augenhöhe auf die Suche nach Lösungen. Jeder Partner hat deshalb nicht – wie bei der Kooperation – lediglich die Verantwortung für seinen eigenen Teilbereich, sondern für das gesamte Projekt. In Kollaborationen geht es darum, „mehr als die Summe der einzelnen Teile“ zu schaffen, wie es die deutsche Band Kante in einem Liedtext so wunderschön formuliert. Spezialisten arbeiten in kollaborativen Prozessen nicht nur mit ihrem eigenen Fachwissen, sondern sie synchronisieren dieses mit Fachleuten aus anderen Bereichen und entwickeln es weiter: Sie setzen sich mit anderen Perspektiven und Ideen auseinander und verändern dadurch ihre eigenen Zugänge. So entsteht ein gemeinschaftlicher dynamischer Arbeitsprozess, der zu neuen Lösungen für komplexe Herausforderungen führen kann. 
Kollaboration benötigt Zeit, Erfahrung, Kompetenz und den Willen für die Zusammenarbeit. Kollaboration ist auch nicht für jedes Problem die beste Art der Zusammenarbeit. Manche Herausforderungen lassen sich vermutlich effektiver in kooperativen Formaten bearbeiten und lösen. Gleichwohl sind wir mit immer mehr gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die sich selbst während des Prozesses der Bearbeitung verändern und ursprüngliche Überzeugungen und Wege in Frage stellen. Die Herausforderungen, vor die uns etwa der Klimawandel stellt, sind so komplex und dynamisch, dass wir sie nicht als Puzzle verstehen können, zu deren Lösung wir einfach unterschiedliche Wissensbestände zusammensetzen.

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