
Der jugendliche Pragmatismus
Umfragen zufolge fühlt sich die Hälfte der Jugendlichen bei politischen Entscheidungen völlig ignoriert. Für die Zukunft ist das fatal. Mit demokratierelevanten Projekten an Schulen wird nun gegengesteuert.
Demokratie funktioniert nur, wenn sich auch die junge Generation ernst genommen fühlt und bei Entscheidungen berücksichtigt wird. Doch Junge sehen immer weniger, dass ihre Interessen von der Politik vertreten werden.
Wie bekommen wir junge Menschen in die Demokratie? Damit unser demokratisches System funktionieren kann, müssen wir dafür Sorge tragen, dass sich alle gesellschaftliche Gruppen gut in der Demokratie aufgehoben fühlen und dass Entscheidungen nicht gegen einzelne Gruppen getroffen werden, sondern für das große Ganze. Soweit zumindest die Theorie.
Das gilt insbesondere für junge Menschen. Denn sie sind es, die unsere Gesellschaft und die Demokratie in die Zukunft tragen und gestalten sollen. Doch Entscheidungen, die vor allem auf die Gegenwart gerichtet sind und deren Auswirkungen in der Zukunft außer Acht lassen, tragen nicht dazu bei, ihre Leidenschaft für die Demokratie zu stärken.
Junge Menschen sind von politischen Entscheidungen zweifach betroffen: Einerseits behindern Versäumnisse der vergangenen und aktuellen Politik ihre Startchancen, zum Beispiel die mangelnde Chancengleichheit des Bildungssystems, die akute Teuerung oder die Wohnungsnot, die vor allem junge Berufseinsteiger und Berufseinsteigerinnen mit niedrigen Einstiegsgehältern betrifft. Sie wollen sich ein Leben aufbauen, aber die Rahmenbedingungen dafür sind ungleich schwieriger geworden.
Andererseits verlagert die Politik mit Entscheidungen, um die aktuelle Lage zu lindern und ältere Generationen zu besänftigen, die Lösung der großen gesellschaftlichen Probleme in die Zukunft. Was interessiert es denn uns, was übermorgen kommt? Wir müssen erst das Heute bewältigen, um überhaupt eine Zukunft zu haben.
Aus dem Management von politischen Mehrheiten heraus ist das leicht zu erklären: Die Gruppe der jungen Wähler ist klein im Vergleich zur Wählergruppe der über 50-Jährigen. Junge gehen auch tendenziell seltener zur Wahl als ältere Gruppen. Und junge Menschen sind von den Parteien schwieriger zu überzeugen, weil sie weltanschaulich offener und ihre Parteipräfenzen (noch) nicht klar festgelegt sind. Dazu kommt, dass sie in politische Entscheidungen nur unzureichend eingebunden sind. Jugendliche Wähler sind also wenige, sie sind im System nicht repräsentiert und sie haben keine starke Lobby.
Es kommt also nicht überraschend, dass sich die Hälfte der Jugendlichen bei politischen Entscheidungen völlig ignoriert fühlt. Zu diesem Befund kommt unter anderem die aktuelle Shell-Jugendstudie, die im Herbst 2024 veröffentlicht wurde. Seit 1953 vermessen Soziologen, Politikwissenschaftler und Pädagogen den Gemütszustand der 12- bis 25-jährigen in Deutschland.
Ein für mich zentrales Ergebnis der aktuellen Erhebung formuliert Studienautor Mathias Albert so: „Jugendliche nehmen sehr sensibel wahr, wenn ihre Belange nicht berücksichtigt werden.“ Und genau das kann zu einem Problem werden in einer alternden Gesellschaft, deren Anteil an Jungen immer kleiner wird.
Albert warnt davor, dass grundlegende Fragen bald womöglich stärker als Generationenfragen verhandelt werden. Also, dass das Alter stärker den Standpunkt bestimmt als eine inhaltliche oder weltanschauliche Position. Wir kennen das bereits aus der Klimadebatte und als Antriebspunkt der Fridays for Future-Bewegung. Fragen der Generationengerechtigkeit werden vermutlich darüber hinaus in Zukunft noch eine größere Rolle spielen, etwa bei sozialen oder wirtschaftlichen Chancen.
Bei all dem wäre die ältere Generation aber schlecht beraten, die Jüngeren dabei zu verlieren. Denn auch das zeigt die Shell-Studie augenscheinlich: Die Jugend ist ein Stabilitätsanker der Gesellschaft. Im Unterschied zu älteren Generationen ist sie zum Beispiel durchwegs pragmatischer: Sie verfolgt ihre Lebensentwürfe unaufgeregt und hat eine hohe und anhaltende Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat sie darüber hinaus ein positives Bild von der Zukunft. Zwar machen sich viele Jugendliche durchaus große Sorgen, erklärt Albert: „In der Vergangenheit war es so, dass äußere Schocks die Jugendlichen eher zu einem düsteren Blick auf die Zukunft der Gesellschaft veranlassten, während der Blick auf die eigene Zukunft positiv blieb. Jetzt ist es genau andersherum.“
Die jungen Menschen machen sich also insbesondere Sorgen, um ihren persönlichen Lebensbereich. Die gesellschaftliche Zukunft sehen sie aber positiv. Dies liegt vermutlich auch daran, dass die Jungen ein hohes Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Gesellschaft haben.
Wäre es denn für eine Demokratie nicht geradezu pragmatisch, diese positive Zukunftshaltung der jungen Menschen zu nutzen und sie stärker an demokratischen Prozessen und Entscheidungen zu beteiligen? Und zwar so früh wie möglich und an jenen Orten, die zentral für die Sozialisation junger Menschen sind. Zum Beispiel in der Schule. Deshalb fördert der Wissenschaftsverbund Vierländerregion Bodensee zahlreiche Projekte, die das Ziel haben, die Mitbestimmung von Jugendlichen zu stärken, um gemeinsam Demokratie zu gestalten.
Denn dort, wo Partizipation möglich ist, erwerben Schüler und Schülerinnen demokratierelevante Kompetenzen. So geht es zum Beispiel in dem vom Wissenschaftsverbund geförderten Projekt „Gemeinsam Demokratie erleben“ darum, die Schule als Lebensraum zu demokratisieren und die Mitbestimmungsmöglichkeiten der jungen Menschen im Unterricht sukzessive auszubauen. Schüler und Schülerinnen aus Vorarlberg, der Ostschweiz und Baden-Württemberg sollen erleben, dass sie kollektiv, aktiv, pragmatisch und zukunftsorientiert ihren Schulalltag mitgestalten können.
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