Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Wir brauchen Wachstum, Wachstum, Wachstum! Welches Wachstum?

März 2021

Wir brauchen Wachstum, Wachstum, Wachstum“: Georg Knill anlässlich seiner Wahl zum Präsidenten der Industriellenvereinigung im Mai des Vorjahrs. Und nochmals, Ende 2020, als die heftige zweite Welle des Virus über das Land schwappte, Pessimismus und überstürzt den Lockdown auslöste, ein wenig kleinlaut: „Wachstum ist das Einzige, was wir brauchen.“
Natürlich wäre dem Land und der betroffenen Wirtschaft zu wünschen, 2021 mit einem kräftigen Aufschwung rechnen zu können. Nicht nur für die Industrie, sondern noch dringender für Tourismus, Gaststätten, persönliche Dienste und Kulturbetriebe. Der Ruf von Herrn Knill nach Wachstum wirft aber Gegenfragen auf: Welche Art von Wirtschaftswachstum? Wie erreicht man das? Und: An wen richtet sich eigentlich der dringende Ruf? 
Was Medien in den Überschriften brachten, rechnet vielleicht mit kopfnickender Zustimmung; aber es ist unverbindlich, konzeptlos, vielleicht sogar irreführend: Wer, wenn nicht die Wirtschaft selbst, schafft Wachstum und Arbeitsplätze? Die Industrie stellte sich bisher beim „Ankurbeln“, das Politiker versprachen, immer skeptisch. Mit Recht. Wir wollen nicht annehmen, dass es sich der neue Präsident der Industrie persönlich so einfach macht. Da waren wohl seine Public-Relations-Leute nicht auf Draht.
Auf nichtssagende wirtschaftspolitische Floskeln reagiere ich sensibel. Das Niveau der öffentlichen Diskussionen hat stark nachgelassen, besonders seit dem unerwarteten Überfall durch das Corona-Virus. Alarm ist gerechtfertigt, da dabei drängende Schicksalsfragen unserer Zukunft ein Jahr oder mehr gefährlich unbeleuchtet und unbeantwortet geblieben sind.
Tatsächlich – für die hiesige Praxis der Politik offenbar unvermeidlich – bekam die Eindämmung der Pandemie politischen Vorrang. Das stieß auch beim Großteil der Bevölkerung auf Zustimmung: zelebriert mit staatstragender Inszenierung – mehrmals pro Woche feierlicher Einzug von vier Mitgliedern der Bundesregierung plus zwei Landeshauptleuten unter Führung des Bundeskanzlers zur Verkündigung neuer Lockdown-Regeln an die Medien. Das sollte wohl den beruhigenden Eindruck vermitteln, unsere Regierung beschäftige sich mit nichts anderem, als Corona-Unheil vom Volk abzuwenden. 
Tatsächlich ist beunruhigend, dass die Politik in Österreich den veränderten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts tunlichst aus dem Weg geht. Das könnte nicht wieder gut zu machende Folgen haben. 
Dabei fanden zumindest drei sehr komplexe Problembereiche kaum Beachtung, die für das Schicksal des Landes über die nächsten Wahlen hinaus entscheidend sein werden: 
››    Konsequenzen der demografischen Brüche der Altersstruktur. Angesichts des schon lange prognostizierten Anstiegs der Bevölkerung im Ruhestandsalter geht es um die Sicherung der Finanzierung der Altersvorsorge, parallel dazu um Organisation und Finanzierung des zunehmenden Bedarfs an Pflegeleistungen und an Leistungen des Gesundheitssystems. Wer es allerdings wagt, das Ausmaß dieser Aufgaben in Frage zu stellen, muss mit dem erbitterten Widerstand der an politischem Einfluss und an Zahl überlegenen Rentner rechnen. Dabei sind Modelle für einen vernünftigen und solidarischen Ausgleich von Lasten und deren Finanzierung dringend notwendig. Anderswo nennt man das „Generationenpolitik“. So was gibt es in Österreich nicht. Übrigens: Es geht nicht nur um gegensätzliche Standpunkte der alten und der jungen Jahrgänge, sondern auch um die Lage der mittleren, die oft höhere Lasten zu tragen haben als jüngere oder ältere. 
››    Unser in Ehren (?) ergrautes Bildungssystem hat durch die Lockdowns, die das persönliche Zusammenkommen von Lehrern und Schülern unterbanden, einen unerwartet abrupten Anstoß erhalten, die digitalen Möglichkeiten des Fernunterrichts zu installieren. Die üblichen Akteure der Bildungspolitik – Lehrergewerkschaften, Elternverbände, Unterrichtsbürokratie – hätten das in normalen Zeiten noch lange nicht geschafft. Doch ob das Wissen über die Taten Hannibals oder Alexander des Großen über Notebook und Lern-Software zu Hause abrufbar ist oder vom Professor persönlich vorgetragen werden, hebt die enorme Kluft zwischen erhalten gebliebenen Erbstücken obrigkeitlicher Schultraditionen und der modernen Lebenswelt nicht auf. Es geht nicht mehr um die Vermittlung eines bürgerlichen Bildungskanons, sondern um Geist, Unabhängigkeit des Denkens und um sich rasch verändernde Lebensperspektiven. Matthias Strolz‘ „Flügel ausbreiten und fliegen“ kommt dem am nächsten. 
››    Annähernd mit dem Beginn dieses Jahrhunderts wurde die moderne Gesellschaft mit einer fundamentalen Wende ihrer Weltsicht konfrontiert. Sie kommt an Tragweite der kopernikanischen Wende vor einem halben Jahrtausend zumindest gleich. 
Bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts waren Fragen nach Grenzen und Gefahren der ständigen Expansion nur ausnahmsweise gestellt worden. Auf einem Planeten mit begrenzter Größe und Kapazität wäre das eigentlich als fundamental zu erwarten. Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts setzte sich, gegen langanhaltende Gegenargumente der Ökonomen, die epochale Erkenntnis durch, dass Grenzen der Nutzung von scheinbar unbegrenzten Ressourcen der Umwelt erreicht oder überschritten sein dürften. Dies erklärt immer auffälligere Schäden an der Umwelt, besonders und nachweislich den außerordentlichen Anstieg der Temperaturen. Diese Form des Klimawandels beschleunigte sich ab den siebziger Jahren im Gefolge der ständig zunehmenden wirtschaftlichen Aktivitäten. 
Die Verbrennung von fossilen Brennstoffen emittiert Gase in die Erdatmosphäre, die auf der Erdoberfläche ähnlich wirken wie das Glasdach auf Gewächshäusern: Die Temperatur im Inneren steigt. Messungen und Analysemodelle ergaben mittlerweile zweifelsfrei, dass dieser Effekt den Klimawandel erklärt. Zukunftsprojektionen dieses Vorgangs führen schon heute und noch mehr in sehr absehbarer Zeit zu katastrophalen Veränderungen der Lebensbedingungen auf der Erde. Darüber, dass der Klimawandel von menschlichen Aktivitäten selbst verursacht wird, besteht heute kein ernstzunehmender Zweifel mehr. 
Gleichzeitig fand die Klimawissenschaft, dass die Temperaturen auf der Erde auf vorhergehende Steigerungen der Emissionen im Zuge von Wirtschaftswachstum positiv aber verzögert reagieren. Das nährte die Vorstellungen der Klimaschützer nach einem Ende des Wirtschaftswachstums zu rufen: no growth oder zumindest green growth. Ein bewusster Verzicht auf Wirtschaftswachstum riskiert jedoch die Stabilität des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems und das Ende des Kampfes gegen Armut und Unterentwicklung. Es ist ein tief wurzelnder Antrieb der Menschen, ständig nach einer Verbesserung der eigenen Lebensumstände zu streben. Die Frage, „wieviel ist genug?“, kann von den üblichen Maßstäben der materiellen Wohlfahrt nicht beantwortet werden, ohne die politische Stabilität einer Gesellschaft zu riskieren. 
Der Ruf nach Wirtschaftswachstum ist deshalb sehr verständlich. Einzuwenden ist nur, dass das gebräuchlichste Maß für dessen Messung, das BIP, den Abbau der Umweltqualität nicht kennt.

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