Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wir haben das immer noch nicht verstanden“

März 2018

Seit 1986 beschäftigt sich Journalist Wolfgang Hirn (64) mit China – und noch immer erstaunt ihn das Tempo, mit dem sich das Reich der Mitte gewandelt hat und weiterhin wandelt. Im Interview sagt der Buchautor, dass China dem Westen in vielen Bereichen bereits voraus sei: „Wer wissen will, wie die Onlinewelt von morgen ausschaut, kann sie schon heute in China besichtigen.“ Doch im Westen würden die Chinesen nach wie vor unterschätzt.

Sie beschäftigten sich seit über 30 Jahren mit China – und haben mitverfolgt, wie schnell sich dieses riesige Land gewandelt hat ...

In einem atemberaubenden Tempo! Was China in 40 Jahren geschaffen hat, ist unvorstellbar. In so kurzer Zeit war niemals zuvor eine solche gigantische Wirtschaftsmacht entstanden. Das ist historisch unvergleichbar.

Sie warnen in Ihrem aktuellen Buch vehement davor, China zu unterschätzen.

Viele Menschen denken immer noch, dass China nur billige Produkte herstellt. Das stimmt so nicht mehr. Zwar produziert China in den verschiedensten Branchen auch immer noch massenweise billige Waren. Aber technologisch sind die Chinesen mittlerweile viel weiter als noch vor wenigen Jahren. Aus der Fabrik der Welt ist das Labor der Welt geworden. Im Westen haben wir das immer noch nicht verstanden. Wir unterschätzen China nach wie vor.

Ist das Ausdruck westlicher Arroganz?

Es ist eine Mischung aus Arroganz und Ignoranz. Man kann es mit den 1960er-Jahren vergleichen, als die Japaner nach Europa kamen und mit den 1980er-Jahren, als die Südkoreaner auftauchten. Beide wurden zuerst belächelt. Autos aus Japan! Autos aus Korea! Heute sind Toyota und Hyundai Weltmarken. Oder denken Sie an Sony. An Samsung. Und so wird das letztlich auch mit China sein. Da werden ebenfalls Weltmarken entstehen.

Und an deren Spitzen stehen Chinas rote Bosse. Die sind jetzt schon unvorstellbar reich, mächtig, visionär. Und im Westen völlig unbekannt ...

Jack Ma, der exzentrische Chef von Alibaba, ist der einzige, der im Westen noch halbwegs bekannt ist. Ansonsten aber kennt man hier keinen einzigen dieser chinesischen Unternehmer. Wir kennen ihre Namen nicht, wir kennen ihre Gesichter nicht. Obwohl sie so mächtig und so immens reich sind. Obwohl sie weltweit Unternehmen aufkaufen und unsere schärfsten Konkurrenten sind. In China gibt es inzwischen 647 Milliardäre, mehr als in den USA. Allein in Peking leben 96 davon, mehr als in New York, mehr als in jeder anderen Stadt auf der Welt. Die allermeisten dieser heutigen Milliardäre haben übrigens ganz unten angefangen. Ihre Karrieren folgen alle einem ähnlichen Muster. Sie stammen nahezu alle aus ganz einfachen Verhältnissen, waren einst Bauern, Arbeiter oder Soldaten. Sie waren arm. Aber das scheint sie für den Rest ihres Lebens gestählt zu haben.

Lässt sich die Karriere von Jack Ma etwas näher beleuchten? Stellvertretend für andere?

Jack Ma ist ein gutes Beispiel. 1964 geboren, verdingte sich Jack Ma in jungen Jahren zunächst als Lehrer und Übersetzer. Einer dieser Jobs führte ihn 1994 in die USA. Zurück kam er mit einem Intel-486-Prozessor im Gepäck. Fünf Jahre später gründete er sein Unternehmen, heute ist Alibaba ein 300-Milliarden-Dollar-Imperium.

Können wir auch kurz den Werdegang eines Konzerns beschreiben?

Nehmen wir Huawei. 1987 von Ren Zhengfei gegründet, begann das Unternehmen als Handelsfirma mit zwölf Beschäftigten, verkaufte zunächst Schalteinrichtungen. Heute ist Huawei mit seinen Smartphones weltweit die Nummer drei hinter Apple und Samsung. Bis 2020 will der Weltkonzern 100 Milliarden Dollar Umsatz machen. Auch hier trifft das zuvor erwähnte Karrieremuster zu: Unternehmensgründer Ren Zhengfei war einst eine kleine Nummer beim Militär. Huawei hat übrigens das System eines rotierenden CEO. 80.000 Beschäftigte wählen 60 Repräsentanten und diese Repräsentanten wiederum den siebenköpfigen Vorstand, von denen drei jedes halbe Jahr als CEO rotieren. Ein innovativer Ansatz ...

Sie schreiben ja, Chinas Manager würden generell anders führen als die im Westen. Inwiefern?

Im Westen war Anfang der 1990er dieser unglückliche Shareholder-Value-Gedanke aufgekommen. Damals etablierten sich die Quartalsberichte und mit ihnen dieses extrem kurzfristige Denken. Das hatte es zuvor nicht gegeben. Und das ist ein großer Unterschied zwischen einer chinesischen und einer westlichen Unternehmensführung: Die Chinesen denken langfristiger. Sie denken in anderen Zeiträumen. Auch die Prioritätenliste der Unternehmen ist interessant: Im Westen müssen zuerst die Aktionäre befriedigt werden, anschließend die Kunden, erst am Ende die Mitarbeiter. In China ist das anders: Da stehen die Aktionäre am Ende. Zuerst kommen die Kunden und dann die Mitarbeiter.

Gibt es weitere Unterschiede?

Chinesen sind risikobereiter. Sie gehen ungewöhnliche Wege, sie stellen alte Gewohnheiten infrage. Und noch ein Unterschied: Deutsche – und die Österreicher sind da nicht anders – wollen alles perfekt machen. Das Produkt muss, als Ausdruck unserer Ingenieurskunst, vollständig ausgereift sein. Erst dann geht man mit dem Produkt auf den Markt. Die Chinesen sind da anders. Die gehen auch mit nicht ausgereiften Produkten auf den Markt. Und wenn sie sehen, dass Verbesserungen notwendig sind, dann wird in einem unglaublichen Tempo adaptiert und geändert.

Von der Idee bis zur Umsetzung geht es in China in aller Regel schneller zur Sache als im Westen?

Ja. Das ist eine Mentalitätsfrage. Deutsche und Österreicher sind Perfektionisten. Die Chinesen wollen das gar nicht. Auf den Markt damit, schauen wie es ankommt, nötigenfalls schnell verbessern. Das ist ihre Methode. Und der Erfolg gibt ihnen recht. Chinesen wollen keine Zeit verlieren und sie verlieren keine Zeit.

Sie sagen auch, dass chinesische Manager gerne nach Westen schauen, um zu lernen ...

... während ein westlicher Manager umgekehrt nie nach China schauen würde. Auch das ist die Arroganz des Westens! Dabei gibt es mittlerweile so viele erfolgreiche chinesische Unternehmen, von denen man sehr wohl was lernen könnte: Eben das erwähnte langfristige Denken. Die andere Prioritätenliste. Die Risikobereitschaft. Die Chinesen wollen dagegen vom Westen lernen: Sie übernehmen, was bei uns gut gemacht wird und kombinieren das mit dem, was sie selbst gut machen. Da entsteht ein neues hybrides Managementmodell mit dem Besten aus beiden Welten – aus der chinesischen und aus der westlichen Welt.

Wirtschaft und Politik sind in China oft undurchsichtig eng verflochten. Sie zitieren da einen Satz des Wanda-Gründers Jianlin Wang: Sei nahe an der Regierung, aber entfernt von der Politik ...

Ein Privatunternehmen zu führen, heißt in China noch lange nicht, dass die Unternehmer machen können, was sie wollen. Wanda hat das am eigenen Leibe spüren müssen. Der Konzern hatte zuletzt sehr stark im Ausland investiert, hatte Hollywood-Studios, Fußballvereine und Sportrechte gekauft und weitere Investitionen und Übernahmen getätigt, bis die chinesische Regierung sagte: Jetzt ist es aber mal gut! Was ihr und andere Unternehmen da macht, das schadet dem Image unseres Landes. Wanda bekam eines auf die Finger. Und muss seither wieder Unternehmen verkaufen. Auch Alibaba, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wird immer wieder mal gezwungen, sich an staatlichen Unternehmen zu beteiligen; auch wenn das aus Sicht des Konzerns in vielen Fällen gar keinen Sinn macht. Da bleibt der Staat die alles entscheidende Macht.

Das heißt?

Die Regierung lässt Privatunternehmen bis zu einer gewissen Grenze freie Hand. Aber wehe dem, der diese Grenze überschreitet.

Und die Staatsunternehmen?

Deren Chefs sind wiederum Wanderer zwischen den Welten: Wer als Chef in einem dieser riesigen Konzerne eine gute Performance hinlegt, wechselt in die Politik. Dem wird schon mal eine Provinz anvertraut. Wobei eine chinesische Provinz die Größenordnung eines großen europäischen Landes haben kann: Die Provinz Sichuan hat beispielsweise 80 Millionen, die Provinz Guangdong gar mehr als 100 Millionen Einwohner.

Man muss ja sowieso die gigantischen chinesischen Dimensionen mit ins Kalkül ziehen.

Da müssen Sie sich nur die großen chinesischen Staatsunternehmen anschauen! Allein die großen Banken haben um die 500.000 Beschäftigte und Zehntausende Filialen. In der westlichen Welt gibt es nichts Vergleichbares. Ein weiteres Beispiel? Die chinesische Bahn hat 2,1 Millionen Mitarbeiter.

Diese Dimensionen zeigen sich auch auf den Weltmärkten ...

Laut Statistik der Europäischen Handelskammer hat China 90 Prozent der Handys, jeweils 80 Prozent der Computer und der Klimaanlagen, 60 Prozent der Fernsehgeräte und 50 Prozent der Kühlschränke, die im Jahr 2015 weltweit verkauft wurden, produziert. Darunter sind viele Topprodukte: Apple etwa lässt das iPhone in China produzieren. Nur wollen die Chinesen nicht länger nur im Auftrag ausländischer Unternehmen produzieren. Sie wollen verstärkt auch eigene Marken schaffen. Natürlich braucht das Zeit. Aber wir haben auch in diesem Punkt eine ausschließlich westliche Sicht. Während wir abwarten, sind die Chinesen mit ihren Marken, sei es in der Auto- oder in der Elektronikindustrie, in Entwicklungsländern schon stark vertreten und teilweise bereits Marktführer; über diesen Umweg gelangen sie nun langsam in die Industrieländer. Wir werden in den kommenden Jahren auf dem Weltmarkt immer mehr chinesische Marken erleben. Da bin ich mir ganz sicher. Vor allem bei neuen Technologien: Aus der Fabrik der Welt wird das Labor der Welt.

Sie schreiben den hochinteressanten Satz: Wer wissen will, wie die Onlinewelt von morgen ausschaut, kann sie heute in China schon besichtigen.

Es ist faszinierend. Wenn wir hier im Westen von Internetunternehmen reden, werden stets nur Google, Facebook, Amazon und Konsorten erwähnt, aber niemals die chinesischen Pendants. Dabei sind die in vielen Bereichen bereits viel weiter! Alipay ist schneller als Paypal, Alibaba innovativer als Amazon, WeChat ist besser als WhatsApp. WeChat, um die Sache zu illustrieren, ist alles auf einmal: Es ist WhatsApp, Skype, Instagram und Facebook. Es ist eine App, die alle anderen Apps überflüssig machen will. Man kann damit auch bezahlen. Das Land ist auf seinem Weg in die bargeldlose Gesellschaft übrigens schon sehr, sehr weit fortgeschritten: Selbst in den kleinsten Läden und den einfachsten Restaurants zahlt dort kein Mensch mehr mit Bargeld. Ich weiß gar nicht, um wieviel China dem Westen in all diesen Bereichen bereits voraus ist.

Wird China dem Westen in absehbarer Zeit technologisch überlegen sein?

In Zukunft? Bei allem, was mit Online, Internet, bargeldlosem Bezahlen und E-Commerce zu tun hat, sind die Chinesen heute schon vor dem Westen! Heute schon! Und in anderen zukunftsträchtigen Bereichen setzen sie alles daran, uns zu überholen.

In welchem Bereich beispielsweise?

In der Elektromobilität. Man kann heute noch nicht abschätzen, ob es den Chinesen gelingt, sich in diesem Bereich an die Spitze zu setzen. Aber wenn es ihnen gelingt, dann haben wir in Europa, in Deutschland ein riesiges Problem! Während unsere Autoindustrie die Sache weiter verschläft, investieren die Chinesen in die Bereiche autonomes Fahren und Elektromobilität immens viel Geld. Der Staat, der riesige Summen beisteuert, hat den Ehrgeiz, den Westen auch in diesem Bereich zu überholen. Und damit einen großen Sprung nach vorne machen.

Ihre Prophezeiung: In drei bis fünf Jahren wird es zwischen den chinesischen und den westlichen Unternehmen zu massiven Duellen auf den Weltmärkten kommen. Ist das unausweichlich?

Eigentlich habe ich eher untertrieben. Diese Duelle beginnen bereits. Sie finden nur nicht hier statt, deswegen bekommen wir es noch nicht mit, sie finden in Südostasien statt, in Indien. Aber wissen sie, was mir ziemlich wehtut?

Nein. Was denn?

Dass ich bei all diesen Duellen zwischen Chinesen und US-Amerikanern kein einziges europäisches Unternehmen sehe, dass da auch nur entfernt mitspielen und mithalten könnte. Europa hat bei all diesen Zukunftsmärkten: nichts.

Deutschland und Österreich sind stark exportorientiert. Was raten Sie Unternehmern? Was raten Sie beispielsweise einem exportierenden Vorarlberger Unternehmen?

Ich kann nur jedem Unternehmer raten, sich das Programm „Made in China 2025“ ganz genau anzuschauen. In diesem Programm definieren die Chinesen zehn Schlüsselindustrien, in denen sie zum Teil schon stark sind und weiter stark werden wollen. In diese Bereiche investiert der chinesische Staat massiv. Dort wird es auch verstärkt zu Übernahmen kommen. Und niemand sollte sich da der Realität verschließen: Europas Unternehmen in den starken Industrieländern waren bislang zum größten Teil in technologischer Sicht einfach besser als die Chinesen. Diese Lücke schließt sich zusehends. Sie wird immer kleiner. Und wenn wir in Europa dann irgendwann einmal nicht mehr besser oder technologisch weiter sind, was ist dann? Was bleibt uns dann noch? Ich kann diese Frage nicht beantworten. Hoffentlich klingt das nicht zu pessimistisch ...

Sie rufen in diesem Zusammenhang ja vehement nach einer gesamteuropäischen Industriepolitik.

Das ist ein heikler Punkt, ich weiß das. Ich kenne zwar die Diskussion in Österreich nicht, aber in Deutschland ist es so, dass das Wort Industriepolitik bereits per se als böse gilt. Es passt nicht zu unserem markwirtschaftlichen System, dass der Staat bestimmen dürfte, welche Industrien nun gefördert und unterstützt werden und welche nicht. Nur: Sollen wir lieber tatenlos zuschauen, wie die Chinesen immer besser werden? Ich weiß nicht, ob wir uns das leisten können.

Ein Plädoyer für mehr Europa?

Frankreichs Premier Macron sagt vollkommen zu Recht: „Statt zu bedauern, dass die großen Champions des Digitalen heute Amerikaner sind und morgen Chinesen, sollten wir uns in die Lage versetzen, europäische Champions hervorzubringen.“ Wir müssen uns intensiver mit China auseinandersetzen. Europa muss einen Weg finden, wenn die Chinesen weiterhin so agieren wie sie agieren. Wobei man da differenzieren muss: In der Wirtschaft, in Österreich und in Deutschland, wissen viele ganz genau, was da in China passiert, wie stark die Chinesen schon sind und was sie noch alles vorhaben. Das Problem ist eher die Politik, die das nicht so richtig kapiert. Und auch die Öffentlichkeit, die das nicht verstehen will und auf China immer noch herabblickt. Aber vielleicht sind da ja auch die Medien schuld. Wie auch immer: Wir müssen uns dringend mit dem immer stärker werdenden China auseinandersetzen. Wir dürfen China nicht länger unterschätzen!

Vielen Dank für das Gespräch!

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