Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Wirtschaftliche Möglichkeiten unserer Enkelkinder

Mai 2016

Bis auf zwei Worte ist das ein wörtliches Zitat aus einem Essay des berühmten britischen Ökonomen John Maynard Keynes aus dem Jahr 1930. Von ihm stammt auch unser Titel. Nicht von Keynes, sondern von mir sind im obigen Text die beiden Worte „zwanzigste“ und „Österreich“. Bei ihm hieß es „nineteenth“ und „Great Britain“.

Davon abgesehen, könnte er von heute stammen. 1930 hatte man den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise am „Schwarzen Freitag“, dem 25. Oktober 1929, schon erlebt. Ähnlich wie damals wartet man seit dem 15. September 2008 („Lehman Brothers“) sorgenvoll auf einen neuen Aufschwung.

Keynes hatte nicht ganz Unrecht: Tatsächlich brachte das Jahrzehnt bis 1940 kaum wirtschaftliche Erholung. Was tatsächlich gegen Ende der Dreißigerjahre bevorstand, hat er nicht vorhergesehen. Der Aufsatz von Keynes wollte von den düsteren Aussichten ablenken: Er verweist auf den wirtschaftlichen Fortschritt in Schritten, die sich über die Jahre summieren. Er begründet, warum man darauf vertrauen könne, dass über die nächsten 100 Jahre – bis 2030 – Technologien, Ausbildung, Kapital und Arbeitsteilung die Produktivität (Produktionsleistung je Arbeitskraft) und damit die Realeinkommen im Durchschnitt auf das Vier- bis Achtfache heben würden. Rechnet man das heute – ein Jahrzehnt vor dem prognostizierten Jahr – nach, so wäre das aus heutiger Sicht durchaus zu erreichen.

Wie viel ist genug?

Steht unsere Gesellschaft davor, ihre „wirtschaftliche Aufgabe zu lösen“ (Keynes)? Er nimmt an, dass das prognostizierte Leistungsniveau genügen würde, die Bedürfnisse der Bevölkerung im Wesentlichen zu lösen. Das wäre tatsächlich ein beachtliches Niveau an wirtschaftlichem Wohlstand. Aber Keynes übersieht, dass diese Aussicht nicht für die ganze Menschheit gelten würde, sondern nur für hochentwickelte Länder. Die große Mehrheit der Erdbevölkerung erhielte noch immer viel weniger und käme aus Hunger, Durst und Elend nicht heraus. Also: Aufgabe nicht gelöst! Und es wäre auch nicht so sicher, ob damit für das Alter und andere Risiken der Existenz vorgesorgt werden könnte.

Und schließlich beschäftigt Keynes eine Überlegung, die auch heute noch aktuell scheint: Was, wenn die Produktivität immer weiter steigt und immer weniger menschliche Arbeitskraft notwendig wäre? Die Erwerbsbevölkerung hätte ihre „ökonomische Aufgabe“ gelöst. Sie würde zum Zeitvertreib einige wenige Stunden am Tag „in der Arbeit“ sein. Unbeschäftigt sein ist weder seelisch noch sozialhygienisch wünschenswert.

Auch bei diesem Gedanken macht es sich der Meisterökonom etwas einfach: Es gibt immer menschliche Qualifikationen, die so gefragt sind, dass nicht genügend davon angeboten werden, und andere, von denen viel mehr angeboten als nachgefragt werden. Einfache Qualifikationen werden kaum mehr gefragt sein, nicht nur, weil sie von Computern ersetzt werden, sondern auch weil solche Arbeitsplätze in Länder mit niedrigen Produktionskosten abwandern. Wer mit Durchschnittsfähigkeiten und Durchschnittsambitionen argumentiert, geht an der Realität vorbei.

Außerdem zeigt sich, dass es gar nicht um hervorragende Zeugnisse geht, sondern um persönliche Ambition, Kreativität, Genauigkeit, um „soziale Intelligenz“ und Findigkeit.

Geht uns die Arbeit aus?

Nun wird in letzter Zeit häufig eine durchaus seriöse amerikanische Studie zitiert: Um das Jahr 2030 werden demnach fast die Hälfte der heutigen Arbeitsplätze in der amerikanischen Wirtschaft verschwunden sein. Routinemäßige, regelmäßig wiederkehrende Arbeitsschritte würden durch Computersysteme ersetzt. Die gesamte Geschichte der Industrialisierung begleitete die Befürchtung, dadurch würde die Arbeit ausgehen. Das ist ein einseitiges Argument. Man kann zwar annähernd abschätzen, wie viel menschliche Arbeit ersetzt würde, aber – bezogen auf die ganze Wirtschaft – davon, welche neuen Tätigkeiten und Möglichkeiten gerade dadurch entstehen werden, davon kann man sich kaum eine Vorstellung machen.
Automatisierung und Globalisierung kosten zweifellos Arbeitsplätze. Aber nicht in erster Linie, weil die ökonomischen Aufgaben der Menschheit gelöst sind – die größte Gefahr für den wirtschaftlichen und für den menschlichen Wohlstand würde es bedeuten, wenn die Wirtschaft bewusste oder latente Bedürfnisse nicht erkennen würde und, möglichst mit Vorsprung vor Konkurrenten und mit besonderen Qualitäten, keine Lösungen fände.

Die gegenwärtig schwierige Wirtschaftslage weltweit hat aber damit zu tun, dass Probleme entstanden sind, deren Lösung nicht auf der Hand liegt: Klima, Umwelt, Sicherheit, Reform des Bildungssystems, Altersvorsorge, gesünder leben, erschwingliche Wohnungen und vieles andere. Dabei geht es oft gar nicht in erster Linie um Hochtechnologie, sondern eher um Planung, Organisation, Abstimmung von Interessen, mit einem Wort um soziale Innovationen. Oder auch um Neues, Höherwertiges, Bodenständiges, Künstlerisches; oft nicht um einzelne Produkte oder Dienstleistungen, sondern um Problemlösungen, um Koordination und systemische Zusammenarbeit.
Vorarlberg ist im letzten Jahrhundert zu einem ausgesprochenen Industrieland geworden. Seine Wirtschaft hat sich auch in der krisenhaften Umgebung der letzten Jahre gut gehalten.

Das gründete sich nicht auf kostengünstige Massenproduktion, sondern auf Spezialitäten, auf Nischen und auf interessante Problemfelder. Dabei spielten auch handwerkliche Qualität und bodenständige Tradition eine wichtige Rolle.

Die Aufgaben, vor denen unsere Enkelkinder stehen, sind gewiss nicht kleiner als in den Jahren des ungebrochenen Wohlstands. Sie sind enorm schwer durchschaubar, über weite Strecken weltweit interessant und umkämpft. Nennen wir das „komplexer“. In der Ausbildung ist nicht mehr so wichtig, möglichst viel Wissen zu vermitteln und zu speichern. Entscheidend wird sein, den Nachwuchs zu befähigen und zu ermutigen: Neugier, Fragen stellen, Probleme erkennen und Lösungen erarbeiten sind die entscheidenden Stärken. Vorarlberg war auch schon vor hundert Jahren ein Land, das auf das Besondere setzte und das nicht wartet, bis dieses anderen einfällt.

Fragen sie mich nicht im Detail – das tut ohnehin mein Enkel. Übrigens: Der schon zitierte Lord Keynes hätte auf die ganz schwierigen Fragen geantwortet: „In the long run we’re all dead.“ Sicher.

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