Herbert Motter

Ärzte gesucht!

Juni 2015

Vorarlberg im Kampf um gute Mediziner

Es tut sich was. Turnusarzt Tobias Stadelmann erlebt die Debatte um die neue Arbeitszeitregelung für Spitalsärzte als etwas grundsätzlich Positives. „In den eineinhalb Jahren als Turnusarzt habe ich meine Kollegenschaft als recht ,trägen Haufen‘ kennengelernt. Nun ist endlich ein wenig Wind aufgekommen, wir setzen uns zusammen und reden über die aktuellen Verhältnisse.“ Mit „wir“ meint Stadelmann eine neue Generation von Ärzten, die heute Werte wie Work-Life-Balance oder Teilzeitarbeit für sich in Anspruch nehmen. Ärzteschwemme war einmal, dazu kommen nicht besetzbare Kassenarztstellen für Allgemeinmedizin. Heute sind die jungen Ärzte gefragter denn je und zählen auch aufgrund der – mit zwölf Jahren Verspätung erfolgten – Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Arbeitszeitregelung zu den vermeintlichen Gewinnern eines immer inhomogener werdenden Ärztesystems.

Lange Zeit waren Arbeitszeiten von 60 bis 100 Stunden in der Woche nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wie gehen die Jungen damit um? „Unterschiedlich. Von Abteilung zu Abteilung verschieden. Verglichen mit früher hat es bereits deutliche Verbesserungen gegeben. Jungärzte waren teilweise von Samstag bis Montag im Krankenhaus, am Stück. Dennoch gibt es weiterhin 25-Stunden-Dienste, während denen ich kein einziges Mail das Dienstzimmer sehe, sprich 25 Stunden durchgehend beschäftigt bin. Wenn ich dann aber noch weitere 16 Stunden Dienst habe, ist das für mich persönlich schlimm“, berichtet Tobias Stadelmann.

Generationenkonflikt

„Wir hatten bis vor nicht allzu langer Zeit krasse Arbeitszeitüberschreitungen, weil das Arbeitsinspektorat zahnlos unterwegs war“, spricht Hermann Blassnig, Chirurg am Stadtspital Dornbirn und Kurienobmann der angestellten Ärzte, auch gesundheitsschädliche Belastungen an. Auch wenn manche resistenter und andere weniger resistent sind und viel vom jeweiligen Bereich abhängt, spielt die junge Generation da nicht mehr mit. Vor dieser Herausforderung stehen wir nun. Die Chefärztin des Bludenzer Krankenhauses, Ruth Krumpholz, sieht darin sogar einen Generationenkonflikt: „Wir wurden noch ausgebildet, ohne auf die Uhr schauen zu dürfen, und haben eine ganz andere Sozialisation hinter uns. Unsere Generation hat in einem hierarchischen System den Begriff des Adrenalin-Junkies geprägt. Das Schwierige in der Chefetage ist jetzt, umzuschalten, da wir es plötzlich mit jungen Leuten zu tun haben, die ganz normale Arbeitszeiten haben wollen, die es nicht einsehen, länger zu arbeiten, die Familie haben und sehen möchten, wie ihre Kinder aufwachsen.“ Das sei natürlich eine positive Entwicklung, aber eben auch nicht ganz einfach für das System.

Durch das neue Arbeitszeitgesetz dürfen Ärzte seit 2015 ohne Unterzeichnung einer Opt-out-Regelung statt bisher durchschnittlich 60 nur noch durchschnittlich 48 Stunden pro Woche arbeiten. Ohne diese individuelle Zustimmung jedes einzelnen Arztes ist ein Überschreiten der 48-Stunden-Grenze nicht zulässig. Diese Übergangsregelung gilt abgestuft bis Juli 2021, danach gelten die 48 Stunden für alle.

Was sich wie eine dringend notwendige Arbeitnehmerschutzregelung liest, stellt das Spitalswesen vor enorme Probleme, die man bereits im Griff wähnte, denn weniger Stunden bedeutet mehr Personal, und das wiederum macht einen zusätzlichen Griff in die Steuergeldkasse notwendig. Für den Direktor der Vorarlberger Krankenhaus-Betriebsgesellschaft, Gerald Fleisch, verantwortlich für rund 700 Ärztinnen und Ärzte, agiert das neue Gesetz gegen die Interessen vieler Ärzte und schwächt massiv das Gesundheitssystem.

Arzt ist eben nicht gleich Arzt, zu inhomogen ist die Berufsgruppe inzwischen. Da gibt es die, die nicht weniger im Spital arbeiten wollen, weil sie dadurch Know-how festigen und mehr verdienen können. Andere wiederum wollen mehr Freizeit statt Geld oder vermehrt Teilzeit arbeiten. „Das ist mit ein Grund, dass trotz gestiegener Ärztezahlen die Besetzung offener Arztstellen schwerer möglich ist als früher“, erklärt Gesundheitslandesrat Christian Bernhard. Spürbar ist eine Verweiblichung der Medizin: Rund zwei Drittel der Turnusärzte sind Frauen. Kinderbetreuung und entsprechende Teilzeitangebote stehen ganz oben auf der Prioritätenliste, gemäß dem Motto, jede/jeder wird gebraucht.

Gehaltsreform 2013

„Wir haben in den letzten Jahren viel unternommen, Vorarlberg zu einem attraktiven Arbeitsplatz für junge Ärzte zu gestalten. Das ist auch ein Verdienst, und das sage ich offen, der Ärztekammer hier im Land“, berichtet Fleisch von einer derzeit noch guten Stimmung. Kurienobmann Blassnig pflichtet bei: „Gehaltsreform 2013, ein Turnusärzte-Tätigkeitsprofil und andere Maßnahmen haben uns junge Kollegen und Kolleginnen aus ganz Österreich beschert. Es herrscht noch Vollbeschäftigung im Ausbildungsbereich.“ Entscheidender Nebeneffekt der Gehaltsreform mit einer steil ansteigenden Kurve und hohen Anfangsgehältern für Jungakademiker, aber einem frühen Abflachen nach hinten hinaus: Vorarlberg wurde von angehenden Ärzten gestürmt, was dazu führte, dass nur noch jeder fünfte Turnusarzt, der in Vorarlberg begonnen hat, auch aus Vorarlberg stammte. Jahrelang hat Vorarlberg auch von vielen deutschen Kollegen profitiert, bis Deutschland die Arbeitsbedingungen verbessert und die Abwanderung ins Ausland damit gestoppt hat. „Unsere Politik hat sich in dieser Zeit leicht getan, die Ärzte schlecht zu behandeln und mit lächerlichen Grundgehältern abzuspeisen“, sagt Blassnig. Vor der Gehaltsreform 2013 wurden die Gehälter eben durch die vielen Dienste und Überstunden aufgefettet. Für Primarärzte waren die Honorare von Sonderklassepatienten lukrativ.

In einem Punkt der Gehaltsreform gehen die Meinungen auseinander. Während KHBG-Direktor Fleisch von einem aktuell schlüssigen, leistungsbezogenen Gehaltssystem spricht, an dem nicht zu rütteln ist, fehlt Blassnig von Anfang an ein Eingehen auf Faktoren wie Erfahrung und Verantwortung. In Zahlen ausgedrückt: 20 Prozent mehr brachte die Gehaltsreform für Jungärzte, aber nur fünf bis sechs Prozent für erfahrene Fachärzte. Das hat Auswirkungen auf die Struktur, denn Vorarlberg ist für diese Gruppe der Mediziner zu wenig attraktiv. Andere Bundesländer haben längst nachgezogen und nun die Nase vorn. Vorarlberg läuft Gefahr, dass mittel- bis langfristig der Mittelbau – sprich erfahrene Fachärzte in den Spitälern – fehlt. Laut LR Bernhard gibt es aber bereits Überlegungen zur Attraktivitätssteigerung für die Ärzteschaft ab 55 plus. Mittlerweile ist der Kampf um die gut ausgebildeten Fachärzte an den Spitälern voll entbrannt. Zudem werden bis zum Jahr 2025 rund 300 Ärzte in Vorarlberg das 65. Lebensjahr erreichen. Somit verabschiedet sich bald die Babyboomer-Generation vom aktiven Dienst. Die Schweiz, die mit hohen Gehältern lockt, und hohe Lebenshaltungskosten in Vorarlberg verschärfen die Situation. Harte Arbeit, Hingabe, Leidenschaft und Detailtreue sind die Grundvoraussetzungen für eine gute medizinische Versorgung von Patienten. So jedenfalls argumentieren erfahrene Ärzte, die auch die Qualität des Ausbildungssystems in den Krankenhäusern durch die neue Arbeitszeitreglung in Gefahr sehen. In diesem Bereich scheiden sich die Geister.

Gerald Fleisch: „Wenn Auszubildende und Ausbilder weniger im Haus sind, ist die Ausbildungsqualität nicht zu halten. Darunter leidet die so wichtige Behandlungskontinuität, zudem wird Teambildung immer schwieriger.“

„Viele meiner Kollegen sind der Ansicht, dass man nur mit 80 Stunden oder mehr etwas lernen kann“, meint Primarärztin Krumpholz. Werde mit 2021 die 48-Stunden-Woche für alle Realität, brauche es mehr Ärzte an den Krankenhäusern. Von rund 40 ist derzeit die Rede, vornehmlich mit bereits fachärztlichen Qualifikationen – was laut KHBG-Direktor Fleisch aber zu schaffen sein sollte. Gelingt das nicht, „müssen wir unsere Stationen noch besser organisieren und uns Teachingstrukturen zulegen. Die Ausbildung routinemäßig mitlaufen zu lassen, wird sonst schwer“, glaubt Krumpholz. Besonders für Rotationspläne zwischen den Krankenhäusern kann sie sich erwärmen. Auch Blassnig sieht eine Lösung in einem klaren Ausbildungsfahrplan. Und Turnusarzt Stadelmann ergänzt: „Wenn wir in 48 Stunden pro Woche nicht genug sehen, dann sollten wir uns unbedingt auch das Ausbildungskonzept und dessen Umsetzung mal genauer anschauen.“

Der niedergelassene Bereich

Keine Nachtdienste, bessere Verdienstmöglichkeiten, weniger Verantwortung. „Und sobald es kompliziert und schwierig wird, landen die Patienten sowieso im Krankenhaus“, findet Direktor Fleisch klare Worte. Spitalsärzte schauen neidisch auf die niedergelassenen Fachkollegen. Chefärztin Krumpholz weiß, wie schwer es ist, junge Ärzte im Krankenhaus zu halten. Tobias Stadelmann spielt selbst mit dem Gedanken: „Selbstständig zu sein bedeutet ein größtmögliches Maß an Flexibilität.“ Insbesondere was Familienfreundlichkeit der Arbeitszeiten, aber auch das Verhältnis von Arbeitszeit bzw. -belastung zu Entlohnung betrifft, ziehe es viele in den niedergelassenen Bereich, sofern man einen Kassenvertrag bekommt. Und die sind streng limitiert.

Derzeit entsprechen die niedergelassenen Arztstellen dem österreichischen Durchschnitt. Aber auch hier macht sich ein verändertes Anspruchsdenken der Patienten in den letzten Jahren bemerkbar. „Dafür ist das System nicht ausgelegt“, meint Burkhard Walla, Sprecher der niedergelassenen Ärzte. Was die Allgemeinmediziner betrifft, ortet Walla eine gewisse öffentliche Abwertung. „Zumindest hört man in den Gesprächen häufig Kränkungen und das Gefühl, dass die Leistung, die in vielen Fällen überaus belastend und weit über einer gesunden Grenze erbracht wird, nicht entsprechend geschätzt wird.“ Hoffnung setzt  man in Vorarlberg auf ein im Oktober 2014 gestartetes Pilotprojekt für Lehrpraxen, das angehenden Ärzten für Allgemeinmedizin den Übertritt in die Tätigkeit als Vertragsarzt erleichtern soll.

LR Bernhard hat mit seiner Aussage „wenn ich als Bürgermeister einen Arzt suche, dann finde ich einen“ unlängst für Aufregung gesorgt. „Für niedergelassene praktische Ärzte müssen – besonders im ländlichen Raum – spezielle Rahmenbedingungen angedacht werden wie zum Beispiel die Zurverfügungstellung von Ordinationsräumlichkeiten, Netzwerkbildungen durch Sprechtage in verschiedenen Gemeinden etc.“, stellt der Landesrat klar.

Auffallend ist die starke Zunahme an Wahlärzten (+13,3 Prozent seit 2009). Immer weniger wollen sich das System der Kassenverträge mit Pauschalvergütung antun. Im Vergleich dazu sind die Kassenstellen in den letzten sechs Jahren um nur 2,8 Prozent gestiegen.

Für Gerald Fleisch gibt es keinen Ärztemangel. „Österreich weist die höchste Ärztedichte Europas aus. Was wir erleben, ist eine reine Fehlallokation und ein Verteilungsproblem“, ortet er gewisse Fehlentwicklungen. Viel hänge von Parallelstrukturen im Krankenhaus- und dem niedergelassenen Bereich ab, die kaum miteinander vernetzt seien. Man müsse sich schon ernsthaft fragen, warum andere Länder mit weniger Ärzten auskommen, ohne an Versorgungsqualität einzubüßen.

Systemänderung

Der Druck, der auf den Krankenhäusern vor allem im ambulanten Bereich laste, sei, so Direktor Fleisch, enorm. Viel hänge eben mit dem Anspruchsverhalten der Menschen zusammen. „Wir spüren, dass wir die einzige Einrichtung sind, die rund um die Uhr verfügbar ist, und werden regelmäßig überrannt.“ Ein Pilotprojekt in Bregenz habe gezeigt, dass nur etwa ein Drittel der ambulanten Patienten auch wirklich in ein Krankenhaus gehören. Sogenannte Primary Health Centers als Erstversorgungsstationen könnten die gewünschte Entlastung sowohl für die Krankenhäuser als auch für den niedergelassenen Bereich bringen, wobei beide Bereiche enger miteinander verbunden werden müssten.

Für Chefärztin Krumpholz ist der praktische Arzt, der irgendwo allein in der Ordination sitzt, ein Auslaufmodell. „Die Zukunft werden wohl Gruppenpraxen und Ambulanzzentren mit flexiblen Öffnungszeiten sein.“ Krumpholz wünscht sich auch mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit – heißt, mehr Kompetenz für die Pflege, damit sich die Ärzte auf ihre Kernarbeit konzentrieren können.

Nun liegt ein neues Vorarlberger Arbeitszeitmodell für Spitalsärzte als notwendige Reaktion auf die EU-Richtlinie auf dem Tisch. Alle Systempartner haben daran mitgewirkt. Fünf bis sechs Mil­lionen soll es jährlich kosten. Vom Land kommt ein Ja. Dennoch wird es noch einige Zeit brauchen, um die Auswirkungen des Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetzes zu verarbeiten.

Kommentare

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"Arbeitszeiten von 60 bis 100 Stunden in der Woche", davon würde mir mein Arzt doch eher abraten oder? Oder braucht er dafür die Psychosomatik Schulung?
Nachdem es in der EU die Niederlassungsfreiheit gibt vermute ich mal stark dass so einige gut ausgebildete Ärzte in attraktivere Länder abwandern, bei besserer Bezahlung zu besseren Bedingungen. Ein jammer, da investiert die Gesellschaft Jahrzehnte in die Ausbildung/Studium, und dann verlieren wir die Spezialisten wieder. Betrifft auch andere Branchen. Die Politik reagiert wieder mal zu spät und falsch - obwohl wir dieses gigantisches politsche System haben, oder vielleicht gerade deswegen.