Herbert Motter

Denn Sie wissen nicht, was Sie tun. Die Gefahren der ausufernden Medikalisierung

Dezember 2014

Wir werden immer älter – und kränker. Im Alter nehmen die Gebrechen zu, und damit steigt die Zahl der konsumierten Medikamente. Je mehr Arzneimittel wir schlucken, desto größer ist die Gefahr von schädlichen Wechsel- und Nebenwirkungen. Zwei Universitätsprofessoren warnen und fordern mehr Mut, sich aufklären zu lassen.

Sie heilen, lindern Schmerzen, schützen vor Krankheiten oder ermöglichen, mit einer Krankheit zu leben. Nie war die Einnahme von Pillen derart verbreitet wie heute. Für oder gegen alles scheint es ein Mittelchen zu geben. Dabei werden viele Medikamente von der Bevölkerung gar nicht mehr als solche wahrgenommen. Die entscheidende Frage ist, wie sich die verschiedenen Mittel, die wir einnehmen, zueinander verhalten. Und damit sind wir auch schon beim Problem.

Der Professor für Arzneimittelforschung an der Universität Bremen, Gerd Glaeske, stellte in seinem Gastvortrag beim Montagsforum Mitte November im Kulturhaus Dornbirn gleich einmal vorweg klar: „Die Arzneimitteltherapie ist die am häufigsten angewendete therapeutische Intervention. Arzneimittel mit einem nachgewiesenen Nutzen sind, wenn sie richtig eingesetzt werden, besonders wichtige und wirksame Instrumente ärztlicher Hilfe bei der Behandlung von Patienten. Heilmittel sollen helfen, zu viele können jedoch schaden. Es geht also konkret um die richtige Anwendung und nicht um die generelle Verteufelung von Arzneimitteln.“

Stiefkind der Medizin

Es ist zweifellos schwierig für unsereins, medizinische Hilfe mit Verstand in Anspruch zu nehmen. Ärzte sind Fachleute auf ihrem Gebiet. Wir hingegen befolgen die ärztlichen Anweisungen mit einem mehr oder weniger großen Glauben und Vertrauen. Glaeske: „Bei einer Erkrankung agiert die Medizin anhand von Leitlinien, das heißt Empfehlungen auf Basis von Studien. Bei mehreren Krankheiten gibt es kaum Empfehlungen zur gleichzeitigen Behandlung, das ist ein Stiefkind der Medizin. Der Arzt muss sich in diesem Fall selbst behelfen.“ Darin steckt oft die Gefahr, denn aktuelle Behandlungsleitlinien basieren in den allermeisten Fällen auf Untersuchungen an jüngeren Patienten mit nur einer Erkrankung.

Glaeske ortet ein Schnittstellenproblem bei den heutzutage dominierenden chronischen und altersbedingten Erkrankungen. Rund die Hälfte der über 65-Jährigen muss mit drei oder mehr Krankheiten (Multimorbidität) umgehen lernen.

Multimorbidität verlangt Multimedikation – sprich, wer viele Krankheiten in sich vereint, bekommt auch viele Medikamente. Eine neu diagnostizierte Erkrankung wird mit einer weiteren Medikation behandelt, das Risiko von schweren Wechselwirkungen nimmt zu. Liegt das Risiko für Wechselwirkungen bei zwei Arzneimitteln bei nur zwei Prozent, sind es bei vier Arzneimitteln schon 38 Prozent, bei sieben Arzneimitteln steigt das Risiko auf 82 Prozent. Rund zehn Prozent aller Krankenhausaufnahmen von Menschen über 65 Jahren werden durch zu viele Arzneimittel nebeneinander – verordnet und auch selbst gekauft – notwendig. Schlafmittel vertragen sich nicht mit alko­holhaltigen „Stärkungsmitteln“, Mittel bei Herzschwäche nicht mit Abführmitteln. Auch Nahrungsergänzungsmittel wie Vitaminpräparate oder Nahrungs- und Genussmittel wie Milch, Fruchtsäfte oder Alkohol können unerwünschte Wechselwirkungen verursachen. Vor allem bei Blutdrucksenkern, Schmerzmitteln und Antidepressiva besteht die Gefahr von Komplikationen.

Eklatante Fehlentwicklungen

Für Glaeske ein tückischer Teufelskreis, aus dem ein Ausweg gefunden werden muss, um den eklatanten Fehlentwicklungen in der Arzneimittelverschreibung Einhalt zu gebieten. „Wir brauchen daher bessere und unabhängigere Arzneimittelstudien unter Berücksichtigung älterer Patienten, und wir brauchen geriatrisch orientierte Leitlinien als Rezept gegen unübersichtliche Polymedikation“, fordert Glaeske. „Ärzte und Apotheker sollten enger auf der Basis unabhängiger Informationen zusammenarbeiten. Und wir brauchen mutige und informierte Patienten, die wissen, dass mehr Pillen nicht immer zu mehr Gesundheit führen.“

Folgen unseres Lebensstils

Medikamente sind längst die neuen Gesellschaftsdrogen. Selbst kleine Befindlichkeitsstörungen sollen beseitigt werden – schnell, mühelos und unkompliziert. „Schalten sie den Schmerz ab“ lautet ein bekannter Werbeslogan. Oft wird anstelle einer sicher manchmal unbequemen Veränderung des Lebensstils, etwa bei Ernährung, Schlaf oder Bewegung, zu mehr oder minder wirksamen Arzneimitteln gegriffen. „Jedes Problem mit Arzneimitteln zu lösen, erscheint einfach und bequem, ist aber für die Verbraucher teuer, häufig nutzlos und mitunter sogar riskant“, erlebt der Essener Neurologe Peter Berlit tagtäglich.

„Die Medikalisierung steigert die Kosten im Gesundheitssystem und macht Menschen zu Patienten, deren Anliegen eigentlich positiv zu lösen sind. Je besser die Gesellschaft ihre Probleme löst, desto geringer ist das Risiko, dass sich die Medizin dieser Probleme annehmen muss“, appelliert Berlit, gesellschaftliche Phänomene nicht mit medizinischen Mitteln behandeln zu lassen. Es bestehe in der heutigen Gesellschaft weitgehend die Bereitschaft, der Verantwortung für unser Handeln aus dem Weg zu gehen. „Viele Krankheiten sind Folgen unserer Lebensweisen. Und doch es ist viel einfacher, sich eine Pille verschreiben zu lassen, die die Konsequenzen falscher Entscheidungen mildert, als seine Lebensweise zu ändern.“

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.