Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Der KZ–Häftling mit der letzten Nummer

September 2020

Großgewachsen, schlank, im Alter eher langsam und schlaksig dahingehend, mit gutmütigen, großen Augen hinter seiner Brille und sehr geduldig und zurückhaltend, so habe ich ihn vor Augen, jenen Mann, dem in seinen jungen Mannesjahren die letzte Nummer der KZ-Häftlinge in Auschwitz eintätowiert wurde. Und – er hatte überlebt und wohnte in meiner Gemeinde Alberschwende, ohne dass ich oder wohl ein anderer davon wusste.
Er lebte in unserem Dorf mit seiner Familie ein bescheidenes und – von außen besehen – ein unaufgeregtes Leben. Aus den Akten wissen wir, dass er mit der Häftlingsnummer 202.499 am 18. 1. 1945 in das KZ Auschwitz als „Berufsverbrecher“ eingeliefert wurde. Grundlage dafür war das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ von 1933, mit dem eine zeitlich unbefristete Sicherungsverwahrung möglich war. Also auch für „Kleinkriminelle“ und Unliebsame des Regimes wurde Unrecht zu Recht. 

Die Häftlingszahl 202.499 soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass im KZ Auschwitz-Birkenau über eine Million Menschen grausamst ermordet wurden, 90 Prozent davon waren jüdisch und wurden zumeist gar nicht registriert, sondern von der Rampe weg direkt in den Tod geschickt. Am 27. Jänner, also 9 Tage nach der Ankunft des Häftlings mit der letzten Nummer, wurde das KZ von russischen Truppen befreit, und bereits ab dem 17. Jänner wurden noch Tausende von Häftlingen von der SS erschossen oder auf sogenannte Todesmärsche geschickt. Diese Evakuierung startete also schon einen Tag bevor er dort ankam und registriert wurde. Die Erklärung fand eine Journalistin aus Hamburg: Alexandra Rojkov im „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“ der polnischen Historikerin Danuta Czech. In einer Fußnote fand sie den Satz „Dieser Häftling wird in das KZ Auschwitz überstellt, um ihn in die SS-Sondereinheit Direlwanger einzugliedern.“ Schon seit dem Juli 1942 wurden diesem Sonderkommando KZ-Häftlinge zugewiesen, und ab 1943 waren aus den Reihen der „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“ in den KZs „freiwillige“ Häftlinge für Dirlewanger zu ernennen. Diese Dirlewanger-Einheit wurde von dem Zeithistoriker Hellmuth Auerbach wie folgt beschrieben: „Den Kernbestand der Einheit bildeten Wildschützen. Diese echten Wildschützen wurden von Hitler ihres Wagemutes wegen hoch geachtet.“ Das sah auch die SS: „Der Wilddieb ist kein ,Charakter-Verbrecher‘, kein Rechtsbrecher aus Minderwertigkeit, sondern aus Leidenschaft. Man wird ihm eine schwere Last abnehmen, wenn man ihm die Chance gibt, sich vor dem Feind für seine Heimat zu bewähren, und er kann dabei seine Jagdleidenschaft in den weiten Wäldern und Sümpfen des Ostens im Kampf gegen Partisanen ausnützen.“ Tatsächlich war diese Dirlewanger-Brigade eine der berüchtigtsten Einheiten, die sich durch ihre Brutalität und ihre mannigfachen Kriegsverbrechen „auszeichnete“. An erster Stelle wird immer die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes genannt, bei der die Dirlewanger-Truppe ein fürchterliches Gemetzel anrichtete und davor und danach schon mit äußerster unmenschlicher Brutalität durch Osteuropa marodierte. Dr. Oskar Dirlewanger war auch privat ein Verbrecher, Sadist und Menschenverachter, was ihn sogar vor die deutschen Rechtsbehörden brachte. Erst nach Kriegsende soll ihn ein ehemaliger KZ-Häftling im Gefängnis erkannt haben, und dort sei er von polnischen Aufsehern zu Tode gefoltert worden.
Und es ist an Zynismus fast nicht zu überbieten, dass gerade KZ-Häftlinge, darunter auch solche, die wegen regimefeindlichem Verhalten als Kommunisten und Widerstandskämpfer im KZ waren, für diese Einheit zwangsrekrutiert wurden, um als Opfer zu Tätern zu werden. 

Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, dass in mir immer noch dieser bescheidene, ruhige und stille Mann vor Augen erscheint, wenn ich an ihn denke, ohne zu wissen, was wirklich war, was er tat oder auch nicht tat. Mittlerweile ist er gestorben und seine Familie weggezogen. Auf alle Fälle erlebte er mehr als vier Jahre KZ-Haft, die ihn zum Opfer des NS-Staates machte. Seine Einlieferung in ein mörderisches KZ war, wie in allen Fällen, nicht nur von damals so bezeichneten „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“, grenzenlose totalitäre Menschenverachtung. Und wie freiwillig die „Bewährung“ durch die Dirlewanger-Einheit war, zeigt eine Aussage eines politischen Häftlings, dem eröffnet worden sei, es gäbe für ihn nur zwei Möglichkeiten: Genickschuss oder „Sonderkommando Dirlewanger“, und sie hätten nicht den Tod gewollt. Und wenn schon in der Dirlewanger-Brigade eine „mittelalterliche“ Regimentsführung angesagt war, sei die Behandlung der ehemaligen KZ-Häftlinge besonders rigoros gewesen und sie seien weiterhin wie Häftlinge behandelt und auf bloße Verdächtigung hin von Dirlewanger persönlich erschossen worden. „Über die KZ-Häftlinge erhält der Kommandeur des Bataillons, SS-Obersturmbannführer Dirlewanger, die Gerichtsbarkeit über Leben und Tod.“ 
Was der KZ-Auschwitz-Häftling mit der letzten Nummer in der Dirlewanger-Brigade tat oder nicht tat, entzieht sich unserer Kenntnis und kann ihm in Folge dessen nicht angelastet werden. Die KZ-Häftlinge, die Mitte Jänner rekrutiert worden waren, erhielten etwa zwei Wochen militärische Ausbildung, und die gesamte Brigade wurde Ende Januar 1945 nach Deutschland transportiert, wo sie am 12. Februar eingetroffen sei und am 27. April bei Halle in sowjetische Gefangenschaft geriet. Ab da war das Dirlewanger-Regiment die 36. Waffen-Grenadier-Division der SS und im Verteidigungskampf gegen die anrückenden sowjetischen Truppen. Die grausamen und menschenverachtenden Ausschreitungen Dirlewangers und seiner Brigade können ab dieser Zeit nicht festgestellt werden, wie es sie vorher in den besetzten Gebieten fast überall gab, wo Dirlewanger mit seiner Brigade im Einsatz war. Möglicherweise entzog sich der „letzte Häftling“ aber schon früher durch Desertion, um zu überleben, was gegen Ende des Krieges gar nicht so selten geschah. Sie wollten überleben und das tat er, der Häftling mit der letzten Nummer. Er wurde sogar sehr alt, mitsamt seinem Wissen und seiner tragischen Geschichte im Kopf und wohl auch im Herzen.

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