Wolfgang Weber

Er etablierte 2003 die Grundlagenlehr­veranstaltung „Politische Bildung“ für Lehramtsstudierende in Geschichte und Sozialkunde an der Universität Innsbruck. Neben der Lehre ist seine Fachexpertise als demokratiepolitischer Bildner auch in Vermittlung und Forschung gefragt, etwa bei Ausstellungsprojekten mit Klassen der Mittelschule Lauterach (2006) und des Bundesgymnasiums Lustenau (2008) und gegenwärtig als Fachexperte im EU-finanzierten Forschungs- und Vermittlungsprojekt „World Class Teacher“ mit Standorten in England, Österreich, Polen und der Slowakei.

Die vergessene Regierung

Juli 2020

Empowerment und Selbstverwaltung als Handlungsalternativen 1945

Im Zuge der Befreiung Vorarlbergs von der NS-Diktatur vor 75 Jahren fand ein bemerkenswerter Feldversuch zur Implementierung alternativer Regierungs- und Wirtschaftsformen statt. Als solcher wurde er bis heute nicht benannt und daher auch nicht rezipiert. Seine Proponenten waren weit weg von der Andy Warhol zugeschriebenen Aussage aus dem Jahr 1968 über jene 15 Minuten Ruhm, die seiner Ansicht nach jeder und jede in einem Leben haben werde. Zum einen fehlten für diese Menschen unter den spezifischen Bedingungen des Frühjahrs 1945 die in modernen Gesellschaften notwendigen Medien zur Steigerung ihres Bekanntheitsgrades. Zum anderen gab und gibt es ein staats­politisches und damit ein historiographisches Interesse, eben solche Akteure der menschlichen Vergangenheit aus der kollektiven Geschichtstradition hinaus zu schreiben. Am 7. Juni 1945 wurde die überparteiliche „Österreichische demokratische Widerstandsbewegung Land Vorarlberg“ im Schloss Glopper bei Hohenems gegründet.

Fremdbestimmtes Empowerment

In der ersten Maiwoche 1945 befreiten Kampfeinheiten der 1. Französischen Armee Vorarlberg von der NS-Diktatur. Noch am Tag der Befreiung setzten die französischen Kampfkommandanten in den Gemeinden eine aus Ortsansässigen zusammengesetzte Verwaltung ein. Bei der Nominierung dieser neuen Kommunalverwaltungen waren die Kommandanten auf die Unterstützung lokaler Persönlichkeiten angewiesen. Denn Frankreich hatte im Unterschied etwa zu den USA, das sowohl für Deutschland als auch für Österreich ein sog. Military Handbook mit eindeutigen Anweisungen und Verwaltungsregeln zur Besatzung aufgelegt hatte, absolut keine Vorstellung, wie es mit den von ihr befreiten und besetzten Gebieten NS-Deutschlands kurz- und mittelfristig umgehen wird.
Für Österreich und damit für Vorarlberg war lediglich klar, dass es ein „pays ami“ war. Daher wurde es im Mai 1945 auch befreit und nicht besetzt. Dieser Zugang manifestierte sich auch in jenem Bild, welches in den vergangenen Jahrzehnten viel publiziert und damit zu einer Ikone des Kriegsendes 1945 in Vorarlberg wurde: Ein französisches Militärfahrzeug fährt beim ehemaligen und in der Folge wiedererrichteten deutsch-österreichischen Grenzübergang Unterhochsteg nach Vorarlberg hinein und passiert dabei ein Schild, auf dem es heißt. „Ici l’Autriche, pays ami.“
Inwieweit es diese positive Grundhaltung zu Österreich war, die französische Kampfkommandanten nach der Befreiung einer Ortschaft zu retrospektiv zumindest als eigenartig zu bezeichnenden Personalentscheidungen motivierte, ist 75 Jahre nach Kriegsende angesichts fehlender Egodokumente dieser Offiziere nicht nachvollziehbar. Alliierte Zeitgenossen kommentierten solche Nominierungen jedenfalls mit Verwunderung.

Weiterführung von NS-Verwaltungen

Am 25. Mai 1945 berichtete der britische Oberst Thornby nach London, dass er im Zuge einer Inspektionsreise durch Vorarlberg in der dritten Maiwoche u.a. die dortigen vier Städte besucht und festgestellt habe, dass etwa in Dornbirn und Feldkirch weiterhin die ehemaligen nationalsozialistischen Bürgermeister im Amt seien. In Dornbirn würde gar die Zivile SS Polizeidienste versehen. Tatsächlich war in Dornbirn mit Josef Dreher ein sog. Blutordensträger und vormals illegaler Gau- bzw. Kreisleiter der NSDAP sowie kurzfristiger SA- und SS-Landesleiter von Frankreich als Bürgermeister bestätigt worden. Er blieb bis 18./22. Mai im Amt. In Feldkirch führte der NS-Bürgermeister Hermann Lange ebenfalls die Geschäfte bis in die dritte Maiwoche weiter. Erst dann wurde er durch Dr. Arthur Ender ersetzt – und von diesem als Vizebürgermeister übernommen.
Rechtsanwalt Ender war eine international gut vernetzte Persönlichkeit. Im Februar 1945 hatte er vom Britischen Geheimdienst den Auftrag erhalten, den Alliierten nach der Befreiung eine Liste mit möglichen Mitgliedern einer zivilen Vorarlberger Landesregierung zu übergeben. Diesem war er am 3. Mai bei der Befreiung von Feldkirch nachgekommen. Zwischen 1934 und 1938 war Ender bekannt dafür, illegalen Nationalsozialisten als Strafverteidiger zur Seite zu stehen. Zwischen 1938 und 1945 vertrat er christlichsoziale Verfolgte der NS-Diktatur. Er selbst war wie der spätere ÖVP-Bundeskanzler Julius Raab Mitglied der ÖCV Verbindung Norica. Trotzdem unterhielt er während der NS-Herrschaft auch Kontakte zum kommunistischen Widerstand in Feldkirch und schlug dessen Kopf Heinrich Reisecker als Mitglied einer künftigen Landesregierung vor. Überraschenderweise stand Ender jedoch im Unterschied zu Reisecker und seinem zweiten Nachfolger als Feldkircher Bürgermeister, Lorenz Tiefenthaler, nicht Pate bei der Gründung der „Österreichischen demokratischen Widerstandsbewegung Land Vorarlberg“. Reisecker und Tiefenthaler hingegen wurden zu deren Obmannstellvertretern gewählt. Ender als überparteilicher und basisbewegter Akteur der Landesgeschichte ist wie viele andere in den letzten Kriegstagen aus dem Nichts erschienene Geschichtsgestalter nach der Befreiung im Mai 1945 in dieser Rolle nicht mehr greifbar. Geschichte und Politik ließen sie und ihre Verdienste um die Vorarlberger Gesellschaft vergessen.

Verordnete Selbstverwaltung

Mit der Institutionalisierung des antinationalsozialistischen Widerstandes als „Österreichische demokratische Widerstandsbewegung Land Vorarlberg“ endete das Empowerment parteipolitisch und ideologisch ungebundener Menschen, welches für die französischen Kampfkommandanten bei der Befreiung im Mai 1945 die Ultima Ratio ihres Tuns war. Die Versorgung der Bevölkerung musste garantiert und das Entstehen eines politischen Vakuums durch eine funktionierende Verwaltung bis zum Eintreffen der Besatzungstruppen verhindert werden. Dafür griff Frankreich auf die wenigen vor Ort befindlichen Persönlichkeiten des vorzugsweise parteilich ungebundenen Widerstandes zu. Da es von diesen nur wenige gab, ermöglichte das manchen NS-Funktionären ein Verbleiben in ihren kommunalen Ämtern. Sie wurden darin jedoch zumindest durch französische Ortskommandanten und Widerstandsgruppen kontrolliert.
Bis zum Herbst 1945 kam der institutionalisierten Widerstandsbewegung der Nachkriegszeit allerdings nur mehr eine durch Frankreich eingeforderte politische Selbstverwaltung bei der Entnazifizierung der Vorarlberger Gesellschaft, Verwaltung und Wirtschaft zu. Sie erstellte jene Gutachten, welche für eine Arbeitsbewilligung, eine Gewerbeberechtigung oder Lebensmittel- und Wohnungszuweisungen elementar waren. Nach der Zulassung politischer Parteien und der Anerkennung der Wiedergründung der Republik Österreich durch die erste Länderkonferenz im September 1945 sowie der damit verbundenen Ausschreibung von Landtags- und Nationalratswahlen für den 25. November 1945 war auch diese Aufgabe erschöpft. Sie wurde im Februar 1946 in eine andere Selbstverwaltung, jene der Länder unter Aufsicht des Bundes überführt. Damit endete in Österreich wie in Vorarlberg der äußerst kurze Frühling von Empowerment und Selbstverwaltung des Gemeinwesens als politische und ökonomische Handlungsalternative.
Am längsten hielt sie sich in der Vor­arlberger Flüchtlingspolitik. Dort gestatteten Vorarlberger Zivil- und französische Militärregierung den betroffenen Menschen bis 1949 die Selbstverwaltung ihrer Lager. Der bekannteste Name unter diesen autonomen Lagerleitern in Vorarlberg war Dr. Heinrich Belcredi. Er war ein Enkel des ehemaligen k.u.k. Ministerpräsidenten Richard Graf Belcredi und Vater des langjährigen ORF-Wetter-Moderators Carl Michael Belcredi.

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