Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Ein Leben für die Wissenschaft

Oktober 2024

Es war in der „Marie – die Vorarlberger Straßenzeitung“, in der 2016 erstmals ausführlicher über Herbert Spencer Gasser berichtet wurde. Unter der Überschrift „Nobelpreis für Auswanderer aus Vorarlberg“ würdigte der Journalist Gerhard Thoma dort dessen außergewöhnliche Leistungen sowie seine Vorarlberger Wurzeln. Der Preisträger war freilich kein direkt aus Vorarlberg Ausgewanderter, sondern es war sein Großvater, der Schuhmacher Johann Kaspar Gasser, der sich 1866 von Dornbirn-Sägen auf den Weg nach Wisconsin machte. Mit dabei sein 1856 geborener Sohn Hermann, der sich später in der kleinen Stadt Platteville (Wisconsin) niederließ, dort zunächst als Ladengehilfe arbeitete, dann aber noch ein Medizinstudium nachholte und schließlich Landarzt wurde. Eines seiner drei Kinder wurde 1888 auf den ungewöhnlichen Vornamen Herbert Spencer getauft, was als weltanschauliches Statement der Eltern gewertet werden kann. Sie hatten sich über einen in einer regionalen Zeitung erschienenen Artikel, der die Evolutionstheorie in Frage stellte, so empört, dass sie ihren Sohn nach dem englischen Philosophen und Soziologen Herbert Spencer benannten, der im ausgehenden 19. Jahrhundert versucht hatte, das gesamte Wissen seiner Zeit unter einem evolutionstheoretischen Aspekt zusammenzufassen. 
Herbert Spencer Gasser, geboren 1888, begann 1910 ein Studium der Medizin in Madison (Wisconsin), wo es zu einer schicksalhaften Begegnung mit Joseph Erlanger (1874-1965), seinem Professor für Physiologie, kam. Dieser erkannte sofort das außerordentliche Talent des jungen Mannes, förderte ihn, machte ihn zu seinem Mitarbeiter und verfolgte mit ihm gemeinsame Projekte, auch noch als Gasser selbst schon längst Universitätsprofessor war. Für ihre gemeinsame Arbeit wurde ihnen 1944 sogar der Nobelpreis in Medizin oder Physiologie verliehen. Ihre Leistung wurde vom Nobelpreis-Komitee wie folgt beschrieben: „Signale im Nervensystem werden durch schwache elektrische Ströme und chemische Substanzen übermittelt. In den 1920er-Jahren untersuchten Herbert Spencer Gasser und Joseph Erlanger die Eigenschaften und die Verteilung von Nervenfasern. Sie teilten Nervenfasern in zwei verschiedene Typen mit unterschiedlicher Dicke ein und zeigten, dass die dickeren Fasern Nervenimpulse schneller weiterleiten.“
Zwischen 1935 und 1953 war Gasser Direktor des renommierten Rockefeller Instituts for Medical Research in New York, der besten Adresse für medizinische Forschung in den USA. In dieser Funktion war er eigenwillig, innovativ, aber von allen respektiert. Vor allem von seinen Mitarbeitern, denen er maximale Freiheiten zubilligte, wenn er von ihren Fähigkeiten überzeugt war. Nach seinen Angaben verließ er sich bei deren Auswahl nicht auf lange Publikationslisten, sondern es genügte ihm die Lektüre eines einzigen wissenschaftlichen Artikels, um Kompetenz und Originalität eines Bewerbers zu erkennen.
Einmal in den Mitarbeiterstab aufgenommen, genoss man bei Gasser größtmögliche Freiheiten, da er überzeugt war, dass nur so innovative Forschung möglich sei. Diese Grundhaltung fand auch Eingang in organisatorische Strukturen des Rockefeller Instituts: Neues Wissen zu generieren sei ein Prozess, der nicht vorhersehbar und planbar sei. Staatliche Zuschüsse, sogenannte Grants, seien Gift für die Wissenschaft, da sie nur für klar definierte und zeitlich begrenzte Projekte vergeben werden. Daher verhinderten finanzielle Zuwendungen dieser Art prinzipiell gute Forschung und wurden deshalb von Gasser während seiner Amtszeit kategorisch abgelehnt. Eine Linie, die allerdings nach seiner Pensionierung sofort geändert wurde.
Gasser hasste triviale Konversation und Smalltalk, hingegen liebte er engagierte wissenschaftliche Diskussionen. In Seminarräumen, privaten Wohnzimmern, aber auch in der Cafeteria und im Restaurant wurde weit über die bezahlte Arbeitszeit hinaus über wissenschaftliche Probleme diskutiert. Diagramme von Gasser fanden sich auf Restaurantrechnungen, Kuverts oder sogar auf Tischdecken. Gasser konnte sich so intensiv in Probleme vertiefen, dass er die Geduld von Kollegen, auf die am Abend zuhause Familien warteten, auf eine schwere Probe stellte.
Eine immer wieder erwähnte Eigenschaft Gassers war seine unglaubliche Bescheidenheit: Als er 1938 erfuhr, dass Kollegen ihn und Joseph Erlanger für den Nobelpreis vorgeschlagen hatten und die Nominierten Informationen über ihre Forschungen beisteuern sollten, verweigerte er die Herausgabe, da ihm dies wie Eigenlob erschien. Freunde von ihm schrieben daher zusammenfassend, dass diese Haltung heute wohl exotisch erscheinen mag, darin aber die in Gasser tief verwurzelte Abneigung von Eigenwerbung und Eitelkeit zum Ausdruck kam.
Herbert Spencer Gasser muss ein sehr bemerkenswerter Mensch gewesen sein. Freunde beschreiben ihn als auffällige Person, groß und bis in Alter hinein von jugendlicher Erscheinung. Er liebte die Kunst, klassische Musik, gutes Essen und wird von seinen Freunden als warmherzig und mitfühlend beschrieben. Kurz vor seinem Tod schrieb er, von sich in der dritten Person berichtend, einen Rückblick auf sein Leben und besonders prägende Stationen. So etwa seine idyllische Kindheit in einer ländlichen Kleinstadt in Wisconsin, die von zahlreichen Ausflügen in die Umgebung geprägt war. Im Sommer fischten die Jungs in den umliegenden Flüssen, im Winter wurde eisgelaufen. Man bewegte sich noch sehr traditionell mit Pferd und Wagen und das erste Auto in Platteville beschreibt Gasser als absolute Attraktion, etwa mit einem Zirkusbesuch vergleichbar. Das Leben war unberührt von modernen Ablenkungen wie Radio und Fernsehen. Um sich zu beschäftigen, waren die Kinder weitgehend von eigenen Initiativen abhängig. Für Gasser war dies hauptsächlich das Lesen.
Gasser blieb ein Leben lang unverheiratet und kinderlos. Er erlitt im Alter von 73 Jahren einen Schlaganfall, wurde in ein New Yorker Krankenhaus eingeliefert und erholte sich nur teilweise. Er verstarb schließlich an einer nachfolgenden Atemwegsinfektion am 11. Mai 1963.

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