Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Europa der Herzen

März 2021

Dass George Pire (1910-1969), wie er mit bürgerlichem Namen hieß, sich zeitlebens für Flüchtlinge einsetzte, hat seinen Ursprung wohl in seiner Kindheit. Denn als 1914 die deutschen Truppen gegen Belgien vorrückten, musste seine Familie nach Frankreich flüchten und fand nach der Rückkehr vier Jahren später das verlassene Haus nur noch verkohlt vor. Mit 18 Jahren trat er in den Dominikanerorden ein, studierte in Rom und kehrte als Professor für Soziologie und Philosophie nach Belgien zurück. 1938 begann das soziale Engagement Pater Pires, das sich dann ab 1949 ganz auf die Problematik der Flüchtlinge in Europa konzentrierte. Nach dem Gewinn des Friedensnobelpreises 1958 erweiterten sich seine Aktivitäten bis nach Pakistan, wo er im ländlichen Raum Hilfe zur Selbsthilfe initiierte.

Es ist faszinierend, wie die Digitalisierung und nachfolgende Veröffentlichung im Internet Fotosammlungen zu neuem Wert verhelfen, da sich so früher kaum auffindbare Quellen zu einem Thema öffnen. Im Nachlass des Bregenzer Pressefotografen Oskar Spang, der im Moment in Kooperation des Stadtarchivs Bregenz und der Vor­arlberger Landesbibliothek bearbeitet wird, finden sich Fotos vom Europadorf in Hörbranz, wo ein Treffen des damaligen Vorarlberger Landeshauptmanns Ulrich Ilg mit dem späteren Friedensnobelpreisträger Dominique Pire stattfand. Spang war als freier Pressefotograf immer auf der Suche nach Motiven, die bei regionalen und internationalen Zeitungen Abnehmer finden konnten. Offensichtlich übte das Projekt in Hörbranz aber eine so große Anziehungskraft aus, dass auch der Freiburger Pressefotograf Willy Pragher nach Hörbranz reiste, um das Europadorf zu dokumentieren. Der Nachlass von Pragher (1908-1992) umfasst mehr als eine Million Fotos, darunter Glasplatten, Negative, Dias und befindet sich im Staatsarchiv Freiburg (Abteilung des Landesarchivs Baden-Württemberg), wo Teile des Bestandes digitalisiert wurden. Viele Institutionen bieten ihr Fotomaterial sehr benutzerfreundlich an und oft ist nur die Namensnennung des Besitzers notwendig, um ein Bild für eine Publikation zu verwenden. 
Die Geschichte des Europadorfs begann in Vorarlberg 1956 mit einem unangemeldeten Besuch des belgischen Paters Dominique Pire bei der Vorarlberger Landesregierung. Dort teilte er mit, dass er in Bregenz, nahe der Bregenzerache, elf Häuser für heimatvertriebene Ausländer bauen wolle. Kurz zuvor hatte Pire die Idee des Europadorfes geboren, und Bregenz sollte Standort für das zweite Dorf von insgesamt sieben sein, die schlussendlich in Österreich, Deutschland und Belgien errichtet wurden. Mit diesen Dörfern wollte er den vielen Entwurzelten der Nachkriegszeit – allein in Österreich gab es 1956 noch 40.000 sogenannte Displaced Persons – eine neue menschenwürdige Heimat geben. Als Voraussetzung für seine Aktivitäten informierte Pater Pire regelmäßig die Öffentlichkeit über die prekäre Lage der Heimatlosen zehn Jahre nach Beendigung des 2. Weltkriegs. Mit Hilfe von Patenschaften sammelte er besonders in Belgien und Frankreich erhebliche Summen für das Projekt. Das Ergebnis all dieser Aktivitäten war der Bau von Häusern, wobei Pater Pire zuerst in Belgien mit dem Bau von vier Altersheimen begann, um kranke und vereinsamte Vertriebene aufzunehmen. 1956 wurde das erste Europadorf in Aachen gebaut, Hörbranz, das schließlich anstatt Bregenz Standort wurde, sollte dann kurz danach das erste Projekt dieser Art in Österreich sein.
Der Bregenzer Architekt Robert Fabach verfasste vor einigen Jahren einen bemerkenswerten Artikel über das Europadorf in Hörbranz. Er beschreibt das baukulturelle Erbe, das die weitgehend unbekannten Architekten Heinz Köhler und Otto Gruber hier hinterlassen haben. Sie gehörten beide zu einer Gruppe innovativer Architekten und realisierten auch mit den Vorarlberger Pionieren Hans Purin und Ernst Hiesmayr verschiedene Projekte. „Mit minimalen Mitteln wurde so ein qualitätsvolles Wohnquartier geschaffen, das eine kommunikative Mitte hatte und offener Spiel- und Freiraum für die Kinder war.“ Insgesamt wurden für 20 Familien elf Doppelhäuser errichtet, die jeweils einer größeren und einer kleineren Wohnung Platz boten. Vom ursprünglichen Ensemble sind heute nur noch Teile erhalten, denn Häuser wurden verkauft, umgebaut oder sogar abgerissen. Peripher zu den Ortskernen von Hörbranz war nicht nur die geographische Lage des Dorfes, auch die Bewohner blieben lange fremd und ausgegrenzt. Zwar wuchsen die Siedlungsbewohner Zeitzeugen zufolge trotz unterschiedlicher Kulturen und Herkunftsgeschichten rasch zu einer Gemeinschaft zusammen, Sprachbarrieren der meist osteuropäischen Familien erschwerten jedoch zunächst die Integration in die einheimische Gesellschaft. Diese gelang dann später häufig in den örtlichen Vereinen, so entwickelten sich Bewohner des Europadorfs beispielsweise zu tragenden Säulen in den lokalen Sportvereinen.

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