Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

(K)ein Austrofaschismus?

Juni 2022

In einem neuen Sammelband mit dem Titel „(K)ein Austrofaschismus?“ des Schweizer Historikers Carlo Moos loten Daniel Segesser und Wolfgang Weber Vorarlberg auf dieses Phänomen hin aus. Damit treten sie Alt-Landeshauptmann und Alt-Bundeskanzler Otto Ender näher, der an der „autoritären“ Verfassung des „Bundesstaates Österreich“ maßgeblich mitwirkte und für die „Kanzlerdiktatur“ oder die „Dollfuß/Schuschnigg-Diktatur“ – um es mit anderen Worten zu sagen – mitverantwortlich zeichnete.

Bei der Buchpräsentation an der PH Vorarlberg erzählte der Herausgeber Carlo Moos, dass der Verlag (LIT-Verlag aus Deutschland) mit dem Ansinnen auf ihn zugekommen sei, sich dieses Themas anzunehmen. Dabei hätten ihn viele seiner Historikerkollegen gewarnt, dieses Thema sei ein heißes Eisen. Als Schweizer Historiker schien er deshalb für diesen Band als Herausgeber prädestiniert zu sein und Emerich Tálos schrieb den ersten Beitrag im Band.
Mit der „Maiverfassung“, die Bundeskanzler Engelbert Dollfuß am 1. Mai 1934 erließ, wurde die Republik Österreich abgeschafft und durch den „Bundesstaat Österreich“ ersetzt. Die 1. Republik Österreich endete also nicht erst 1938 mit dem Einmarsch deutscher Truppen, sondern spätestens 1934. Dollfuß regierte in der Folge auf Basis des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes aus 1917, das also noch aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und der Monarchie stammte. So verweist Helga Embacher im Band auf Oliver Rathkolb, dass ursprünglich die USA forderten, dass auch die Jahre 1934 bis 1938 in die österreichische Entnazifizierung einbezogen werden sollten, was aber aufgrund der personellen Überschneidungen im christlich-sozialen Lager nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht möglich gewesen wäre. Dass die österreichische Bevölkerung sich für diese Zeit wenig interessierte, ergab eine Umfrage im Jahre 2008. Fast die Hälfte der befragten Bevölkerung konnte diese geschichtliche Periode nicht einmal mehr als Faktum einordnen. Dollfuß und Schuschnigg als Personen sind heute weitgehend aus dem Allgemeinwissen verschwunden. 
Bei Otto Ender, 1875-1960, Landeshauptmann von Vorarlberg bis 1934, Kurzzeit-Bundeskanzler und Minister, aus Götzis stammend, ist es nicht viel anders, auch wenn er durch ein Buch des Vorarlberger Historikers Peter Melichar 2018 umfassend beschrieben und wieder kurzzeitig in den Diskurs gehoben wurde. Dieser Publikation folgend beschreiben Weber und Segesser Otto Ender als „enttäuschten Demokraten“, dem „Ruhe und Ordnung“ seine Maxime waren. „Dass Ender den Faschismus und dessen Ideen nicht klar ablehnte“, unterstreichen die Autoren mit Enders Wahrnehmung Italiens zu Weihnachten 1925: Dort vermochte „die Regierung des Faschisten Benito Mussolini zu erreichen, dass sich Ordnung und Disziplin durchgesetzt hätten“, auch wenn Ender als „Negativ am Faschismus“ „dessen Umgang mit der deutschen Sprachminderheit in Südtirol sowie seine Neigung zu Gewalt“ bewertete. Aber der „Parlamentarismus in seiner heutigen Form“ [1933] habe sich „ausgelebt“. „Zum Glück habe sich das Parlament nun durch den Rücktritt der drei Parlamentspräsidenten selber ausgeschaltet und damit der Regierung unter Engelbert Dollfuss jene Vollmachten verschafft, … dass Dollfuss nun Unterstützung finde, um durch Notverordnungen die Versäumnisse des Parlaments zu kompensieren.“ 
Übrigens, die Reaktionen auf den Band waren bescheiden, wie der Herausgeber bei der Buchpräsentation auf diese Frage antwortete. Mehr als innerhalb der Historikerzunft wurde darüber nicht diskutiert, und sogar dort blieben die Reaktionen weit hinter denen, die ein „heißes Eisen“ erwarten ließen. Aber eigentlich war es auch nicht anders zu erwarten, wenn sogar der jetzige ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer kein Problem mehr hat, diese Zeit mit „Austrofaschismus“ zu betiteln. Sogar vor dem Hintergrund, dass der amtierende Innenminister Gerhard Karner als Bürgermeister der Gemeinde Texingtal im Geburtshaus von Engelbert Dollfuß einem, laut Historikern, „unkritischen“ Dollfuß-Museum vorstand. Dass dem Titel des Bandes das „(K)“ vorangestellt wurde, erschließt sich heute als Terminologiestreit zwischen Historikern und Essayisten. Der Herausgeber Carlo Moos erklärt, dass der Faschismus nach Roger Griffin, als „Wurzelstock“ verstanden werden könne, bei dem sich Wurzeln aus dem italienischen Faschismus heraus in andere Länder verbreiteten. In Österreich infolgedessen als „österreichische Spielart“, als die „österreichische Variante des Faschismus“. Dass es Unterschiede in der Ausprägung des Faschismus gab, stehe außer Zweifel, aber der Austrofaschismus passe in das Konzept des europäischen Faschismus. Aber „heißes Eisen“ sei dieser Begriff keiner mehr und selbst der Streit innerhalb der Historikerzunft gehe zu Ende. Tatsächlich stört sich auch niemand öffentlich über eine Ehrentafel für Dollfuß bei der Pfarrkirche in Marul oder am Doppeladler des Ständestaates auf der Fassade der HTL in Bregenz. 
Lesenswert ist der Band, denn er bietet einen vielschichtigen Zugang zu dieser Zeit und zeichnet die geschichtlichen Linien eines Staates nahe an der Verzweiflung nach, was auch für die Gegenwart lehrreich sein kann. Schon in der Einleitung schreibt der Herausgeber, dass Otto Bauer (Begründer des Austromarxismus) „zum einen die Möglichkeiten dieses Faschismus“ unterschätzte und „zum anderen die Widerstandskraft der Sozialdemokratie“ überschätzte. Am 11. März 1938 gab das austrofaschistische System Österreichs unter Schuschnigg dem Druck Hitlers nach und deren Vertreter wurden zu Opfern des faschistischen Deutschen Reiches, das den bis dahin gekannten Rahmen an Gewalt sprengte. Helga Embacher schreibt in ihrem Beitrag: „Sie [die Austrofaschisten] trugen aber auch die Verantwortung für die Ausschaltung der österreichischen Demokratie, die Verfolgung von politisch Andersdenkenden und bereiteten den Boden für den National­sozialismus vor.“

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