Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Kindermord im Krankenhaus im National–Sozialismus

Februar 2022

Warum Ärztinnen, Ärzte und Pflegerinnen mitmachten.

Schwestern hielten Kinder fest, während eine Ärztin ihnen die Todesspritze verabreichte.“ „Es ist technisch unmöglich bei einem Kinde eine Injektion von über 5 ccm zu machen, ohne dass das Kind gehalten wird. Das Kind wehrt sich und die Kanüle würde sofort abbrechen. Darüber hinaus spritzt sich die ölige Flüssigkeit von Luminal so schwer, dass jemand assistieren muss“, erklärte die Ärztin Dr. Helene Sonnemann in den Ermittlungsakten.
Diese Zitate stammen aus dem Buch „Kindermord im Krankenhaus“ von Andreas Babel. Im Untertitel heißt das Buch „Warum Mediziner während des Nationalsozialismus in Rothenburgsort (ein Krankenhaus in Hamburg, Anm.) behinderte Kinder töteten“. 
Euthanasie hatte gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast weltweit Konjunktur. Der „Gnadentod“ für unheilbar Leidende, auch wenn vor allem bei schwer kognitiv beeinträchtigten Menschen, damals wie heute, nicht von Leiden gesprochen werden kann und darf. Auch Eugenik – also die Lehre von der Erbgesundheit – war vor allem in den englischsprachigen Ländern Teil der medizinischen Wissenschaftsdebatte. Aber – kein Land hat das dann so konsequent umzusetzen versucht, wie eben das Dritte Reich. Allein die Kinder-„Euthanasie“ forderte über 5000 Opfer. Der nationalsozialistischen „Euthanasie“ fielen insgesamt über 200.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen zum Opfer. Auf der Suche nach dem Warum gibt es mehrere Zugänge. Einen davon wählte Andreas Babel, indem er sich in den Einzelbiographien der TäterInnen im Kinderkrankenhaus auf die Suche machte. Das Verhalten der ÄrztInnen offenbare, wie das NS-Regime aus einer bereits lange vor ihm bestehenden menschenverachtenden Weltanschauung aus „ganz normalen“, scheinbar gefestigten und gebildeten Bürgern, Mörder machte. Es seien keine Monster, die getötet hätten, sondern Menschen wie du und ich, meint der Autor im Vorwort. Man fühlt sich an Hannah Arendt erinnert, die Adolf Eichmann, „Hitlers Buchhalter des Todes“, der die Verfolgung, Vertreibung und Deportation der jüdischen Mitmenschen organisierte, als „normalen Menschen“, der weder übermäßig antisemitisch noch psychisch auffällig gewesen sei, beschrieb. Er sei kein „Dämon oder Ungeheuer“ gewesen und habe seiner Meinung gemäß nur „seine Pflicht“ erfüllt. Sie sprach von der „Banalität des Bösen“ und meinte damit so etwas wie das selbstverständliche Böse als allgegenwärtige Gefahr. Aber sie betonte auch die Willensfreiheit, Eichmann hätte sich anders entscheiden können, so wie es viele andere taten: gegen das „Böse“ und für das Menschliche. 
Es ist wohltuend, im Band auch über Ärztinnen zu lesen, die sich der NS-„Euthanasie“ verweigerten. Wie die Motive für das Mitmachen unterschiedlich sind, sind es auch die Motive für das Nichtmitmachen. An erster Stelle im Buch – und vielleicht auch in der Motivlage der ÄrztInnen – steht der überzeugte „Rassenwahnsinnige“ und Eugenikbefürworter Krankenhausleiter Dr. Wilhelm Bayer. Er war wohl ein überzeugter Anhänger der sozialdarwinistischen Lehre, wonach alles Kranke und Schwache beseitigt werden muss, in stetigem Kampf ums Überleben. Nur jenes Volk könne überleben und sich bewähren, dem es gelinge, seine Besten zu fördern und alles eliminiere, was das Volk schwäche. So habe er sich bei den Ermittlungen gegen ihn gerechtfertigt, dass die Ärztinnen freiwillig mitmachten, weil einige überzeugt waren, das Richtige zu tun, nämlich Kinder von ihrem Leiden zu „erlösen“ und deren Familien von der Last zu „befreien“. Vorgeschoben wurde hier ein altruistisches Motiv, das das Menschenrecht auf Leben und Würde des betroffenen Menschen völlig außer Acht lässt. Dieses Denken entsprang der nationalsozialistischen Ideologie vom „unwerten“ oder „minderwertigen“ Leben, das es nicht zu schützen, sondern vielmehr auszumerzen galt. Und dieses Motiv findet sich eben in der NS-Rassenlehre, die den Vernichtungsfeldzug gegen die „Untermenschen“ im Osten gleichermaßen rechtfertigen sollte, wie die Ermordung der jüdischen Menschen im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten. Nach dem Krieg gab es zwar Anzeigen und auch Ermittlungen gegen die involvierten Ärzte und Ärztinnen, sie blieben aber ohne gravierende Sühnemaßnahmen. „Die Ärzte und Ärztinnen hätten nicht erkennen können, dass ihr Handeln Unrecht war.“ So argumentierte auch der ermittelnde Staatsanwalt und ehemalige NS-Richter, Dr. Walter Tyrolf, der 1963 eine der Ärztinnen, der sechs Kindermorde zugeordnet wurden, ehelichte. 
Neben den ÜberzeugungstäterInnen findet Andreas Babel auch jene Ärztinnen, die bereitwillig auf Geheiß „von oben“ oder von außerhalb des Krankenhauses, durch den Reichsausschuss in Berlin, ihren „Beitrag“ im Rahmen eines arbeitsteiligen Prozesses leisteten, ohne dadurch Verantwortung für die Taten übernehmen zu wollen und in der Nachkriegsjustiz auch zu müssen. Ein Gesetz oder einen unumgehbaren Befehl dazu gab es allerdings nicht, vielmehr war es auch nach damaligem Gesetzbuch verboten, jemanden vorsätzlich zu töten. Anders als in der Tötungsanstalt Schloss Hartheim, wo der Silbertaler Josef Vallaster mordete, gab es im Krankenhaus keine großartigen finanziellen Anreize. Was Babel aber findet, ist der Wunsch, Karriere zu machen, und dazu schien es schon opportun, beim Morden mitzumachen. Er fand auch Ärztinnen, die „Euthanasie“ ablehnten, aber dann, vor die Entscheidung gestellt, die tödliche Spritze verabreichten. Das Karrieremotiv findet sich in vielen Entscheidungen von Angehörigen der NSDAP und deren Unterorganisationen. (Vorauseilender) Gehorsam und Engagement im Sinne der Ideologie sollten das Ihre leisten. Und manchmal geschah das auch – und zwar über den Nationalsozialismus hinaus, was Babel sowohl an ärztlichem Personal, wie auch bei Justizpersonal belegen kann. 
Wer sich noch tiefer nach dem Warum der NS-Ärzte und Ärztinnen einlesen will, dem sei immer noch das Buch „Ärzte im Dritten Reich“ von Robert. J. Lifton empfohlen, der für das Verhalten der NS-Ärzteschaft den Begriff der „Dopplung“ prägte. Damit meinte er die Aufspaltung eines Menschen in zwei funktionierende Teile seiner Persönlichkeit: hier der mordende KZ-Arzt und nach Dienstschluss der liebevolle Vater und Ehegatte. Dass es dazu eine entsprechende psychische Disposition braucht, wie auch ein entsprechend soziales Umfeld der Erziehung und des Milieus, macht Hoffnung. Lifton überschrieb dieses Kapitel mit dem Zitat von Dürrenmatt: „Jeder von uns könnte der Mann sein, der seinem Doppelgänger begegnet.“ Vielleicht wäre es gut, wenn wir unserem Doppelgänger zu Zeiten begegnen, in denen wir mit ihm ins Gespräch kommen und ihm/uns ins Gewissen reden können.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.