J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Überraschende Funde in den Korallen-Sammlungen zweier Museen

Februar 2020

Für den einen sind es einfach nur Steine. Gleichförmig grau und ohne erkennbare Strukturen erscheinen sie langweilig, gerade als Baumaterial geeignet. Wer jedoch gelernt hat, in den Steinen zu lesen, dem offenbaren sich faszinierende Einblicke in die Tierwelt aus Lebensräumen, die längst verschwunden sind, und aus Zeiten, als das Antlitz der Erde völlig anders aussah als heute.
Die versteinerten Reste von Lebewesen sind die wichtigsten Zeugen, wenn es gilt, die Lebensräume vor Jahrmillionen zu rekonstruieren. Der Sand und Schlamm am Meeresboden entsteht aus dem Zerreibsel tierischer Gehäuse. Die Kristallisation von feinstem Kalk aus dem Meerwasser wird durch Mikroorganismen erst möglich gemacht. Am anderen Ende des Größenspektrums stehen Tiere, deren kalkige Skelette starre Strukturen bilden, die über ihre Umgebung aufragen: Wir kennen sie als Riffe, und Steinkorallen sind ihre wichtigsten Baumeister. Das Korallengerüst bietet anderen Organismen Lebensraum und Schutz: Korallenstöcke werden von Kalkalgen und Moostierchen, von Röhrenschnecken und Röhrenwürmern umkrustet, in den Hohlräumen dazwischen tummeln sich Fische und Krebse. Manche Muscheln bohren sich gar in das harte Skelett der Korallen, um dort vor Fressfeinden geschützt zu sein, während Seeigel wiederum auf der Suche nach Nahrung den Kalk abraspeln und so zur Sandproduktion beitragen. Von all diesen Lebewesen lassen sich versteinerte Reste finden. Doch im Riff leben auch Tiere ohne festes Skelett. Ihre einstige Anwesenheit können wir nur aus dem Vergleich mit heutigen Riffen erahnen.
Abgesehen von ihrem ökologischen Informationsgehalt zählen Korallen zu den vernachlässigten Fossilien, die nur von wenigen Paläontologen studiert werden. So formenreich Korallenstöcke auch sein mögen – um sie auf Artniveau bestimmen zu können, muss ihr Innenbau (und dessen Veränderung während der Lebenszeit des Tieres) betrachtet werden. Doch halt – streng genommen ist solch ein Korallenstock gar kein einheitlicher Organismus. Er setzt sich aus manchmal wenigen, oft aber vielen Tausenden Einzeltieren, den Polypen, zusammen. So ein Polyp ist recht einfach gebaut. Ein zylindrischer Hohlraum dient der Nahrungsaufnahme. Über eine zentrale Öffnung steht er mit dem Umgebungswasser in Verbindung. Außen sorgt ein Tentakelkranz dafür, dass immer neue Nahrung ins Innere gelangt. Auf den Tentakeln sitzen Nesselzellen, die Fressfeinde mit schmerzhaften Giftinjektionen vertreiben. Symbiontische Algen betreiben Photosynthese und versorgen so die Polypen mit Energie.
Dennoch muss ein Polyp reichlich Nahrung zu sich nehmen, um sein Kalkskelett bilden zu können. Ein ungegliederter Verdauungssack wäre dabei wenig effizient. Der zentrale Hohlraum ist durch mindestens sechs Scheidewände gegliedert. Meist aber beträgt die Zahl der Wände ein Vielfaches von sechs – die Fläche für die Nahrungsaufnahme wird dadurch deutlich vergrößert.
Jeder Polyp sitzt in einem eigenen Kelch aus dem Kalk-Mineral Aragonit, dem Korallit. Dieser spiegelt den Aufbau des Weichkörpers wider. Wo im Weichkörper des Polyps eine Trennwand ist, besitzt auch der Korallit eine Rippe. Ihre Zahl bleibt nicht konstant. Der Polyp beginnt mit sechs Wänden (bzw. Kalkrippen im Korallit), und im Laufe des Wachstums kommen immer neue hinzu. Wie diese Septen eingeschaltet werden, wie sie aussehen, ob eine zentrale Säule vorhanden ist, und ob die Koralliten direkt verwachsen oder aber durch Außenwände getrennt sind – all dies sind die wichtigsten (und meist einzigen) Merkmale, welche die einzelnen Arten charakterisieren. Um also einen versteinerten Korallenstock einer konkreten Art zuordnen zu können, muss er zersägt und geschliffen werden, so dünn, dass man im Mikroskop die einzelnen Bauteile der Koralliten erkennen kann. Und auch dadurch wird die Bestimmung nicht einfacher – Aussehen und Aufbau der Koralliten hängen oft von ihrer Position innerhalb des Korallenstocks ab. Oder wie ein Paläontologe einmal scherzhaft meinte: „Gebt mir ein paar Jahre Zeit, und ich mache aus diesem Korallenstock fünf Arten in drei unterschiedlichen Gattungen“! Für Rätselraten ist also gesorgt.
Völlig korrekt hingegen ging es zu, als vor wenigen Jahren die Korallen-Spezialistin Rosemarie Baron-Szabo von der Smithsonian Institution (Washington) die Vorarlberger Korallen der Kreidezeit studierte. Sie kam mit geringen Erwartungen ins Ländle – schließlich waren die Korallen aus dem circa 120 Millionen Jahre alten Schrattenkalk im Allgäu einst ihr Dissertationsthema gewesen. Was konnte da noch Neues gefunden werden?! Und doch fand sie Neues, nicht durch eigene Aufsammlungen im Gelände, sondern in zwei Museen. In der Studiensammlung der „inatura“ wurde sie auf einen Korallenstock aufmerksam, den sie rasch der Gattung Paraclausastrea zuordnen konnte. Doch die Zahl der Septen war größer als in allen bisher bekannten Arten dieser Gattung. So erkannte sie das zuvor nur provisorisch unbestimmte Fossil als neue Art. Es trägt heute den Namen Paraclausastrea vorarlbergensis. Eine noch größere Überraschung verbarg sich im Walsermuseum Riezlern. Ein dort verwahrter Korallenstock entzog sich zunächst der erfolgreichen Bestimmung. Vergleiche mit den Korallen anderer Fundstellen brachten die Lösung: Es handelt sich nicht nur um eine neue Art, sondern gleich um eine neue Gattung! Zu Ehren ihres Fachkollegen Stephen D. Cairns und des Finders Joseph Merbeler hat Rosemarie Baron-Szabo diese Koralle Cairnsipsammia merbeleri genannt.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.