Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, seit 2001 bei der „Presse“ in Wien, seit 2005 im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technologie, Raumfahrt, Militärwesen und Geschichte.

Untersee Das filet vom bodensee

Mai 2019

Westlich von Konstanz füllt der Rhein ein kleineres, feineres, doch auch im Ländle weniger bekanntes Becken des Bodensees. Die Ufer sind natürlicher, das Hinterland magisch, voller Vulkane, Streuobst – und einer Zauberzwiebel.

Der Wienerwald, so heißt es, sei für viele, ja die meisten Wiener ein unentdecktes Land, das man fast schon meidet. Er ist zwar dicht vor der Hauptstadt, und sehr bukolisch. Aber das ist denen dort großteils wurscht. Nun ja, viele Wiener kommen ohnehin ungern aus ihrem urbanen Nest heraus. Vor allem vor dem Westen scheinen sich manche fast zu fürchten.
Dort, bei uns im Westen, gibt’s aber auch so ein Ignoranz-Phänomen: Da liegt Vorarlberg am Bodensee, Mitteleuropas drittgrößtem See, der mit seiner Einfassung aus Bergen und Hügelland, Fachwerk, Barock, Wein, High-Tech und der badisch-württembergisch-bayerisch-vorarlbergisch-schweizerischen Kultur und Lebensart samt eines Hauchs Atmosphäre vom nahen Frankreich gewiss eine der schönsten Regionen der Welt ist. Doch viele Vorarlberger ignorieren diesen ihren Schatz: Emotional überspitzt formuliert, halbiert sich im Ländle das Interesse an der Wasserwunderwelt mit jedem Kilometer Abstand des Wohnorts vom See.
„Was söll i dött?“, murrten etwa Freunde in Dornbirn skeptisch, kaum zehn Kilometer oder, bei guter Verkehrslage, um die 15 Autominuten entfernt. „Ah, des isch mir z’wit!“, tönte es in Feldkirch, läppische 20–30 Minuten im Süden. Bei Heimatbesuchen muss ich als Seebrünzler meine Vorder- bzw. Oberländer Freunde fast schon überreden, einen Sprung an den See auf Wein und Co. zu kommen. Das scheint eine Reise jenseits des Weltbildes oder Ereignishorizontes zu sein und endete mehrfach in Debatten über regionales Interesse und Mobilität über die engere Wohn- und Arbeitsscholle hinaus, aber lassen wir das.

Es duftet apfelig vergoren

Ach, ihr Kleinräumigen! Dann hupft’s halt in eure kleinen, überfüllten Schwimmbäder und Baggerlöcher! Aber dann, an einem Herbstabend im Vorjahr auf einer Uferwiese, Füße im Wasser, ein Glas Weißburgunder in der Hand, die Sonne steht tief und dottergelb, färbt die Wasserfläche dunkelblau und streut funkelnde Lichtkristalle darüber, Schwäne ziehen vorbei, von Streuobstwiesen duftet es apfelig und leicht vergoren, merkte ich, dass man sogar als Bregenzer über vier Jahrzehnte eine Seeschranke im Kopf haben kann: Ich war nämlich erstmals so richtig am Untersee – jenem Teil des Bodensees, der sich im Westen aus dem größeren Obersee herausstülpt, nachdem der sich bei Konstanz verengt und ein paar Kilometer als 100 bis 500 Meter breiter Seerhein fließt.
Der 62 Quadratkilometer große Untersee zwischen dem historischen Großherzogtum Baden im Norden und den Schweizer Kantonen Thurgau und Schaffhausen im Süden und Westen gilt als stillerer, edlerer, natürlicherer Teil des Bodensees. Konstanz, die mittelalterliche Stadt an der Schweizer Grenze und Verwaltungssitz des gleichnamigen deutschen Landkreises am Untersee, ist nur 46 km Luftlinie von Bregenz entfernt, man kann sie an klaren Tagen vom 1064 Meter hohen Pfänder aus ausmachen. Aber im Kopf ist Konstanz doch irgendwie weit weg von Bregenz.
Man kennt die Stadt als Ort des Konzils 1414–1418, auf dem drei Päpste um ihren Titel rangen und man die hussitischen Kirchenreformer Jan Hus und Hieronymus von Prag verbrannte. Aber Konstanz, gegen Jahresende wieder Schauplatz des berühmten Weihnachtsmarkts, ist eine eigene Geschichte.
Der rund 820 Quadratkilometer große Landkreis Konstanz (etwa ein Drittel der Fläche Vorarlbergs) mit gut 280.000 Einwohnern, die in Weilern, Dörfern und wenigen mittleren Städten (außer Konstanz) wie Radolfzell und Singen wohnen, hat nämlich noch mehr zu bieten. Ein Unmaß an Natur, sanftem Hügelland, wenig berührten Ufern, versteckten Buchten, Inseln, kleinen Nebenseen und ruppigen Berg­rücken, wo der Frühling jetzt die Wälder, Gärten und Obstplantagen färbelt. 
Man muss „Hach!“ sagen – sonst explodiert man!
Da sind gepflegte Naturschutzgebiete mit seltenen Pflanzen und seltenem Getier, etwa beim zwischen Wald und Wiesen eingebetteten Mindelsee auf der Landzunge Bodanrück östlich von Radolfzell. Oder das EU-zertifizierte Wollmatinger Ried bei Konstanz. Im dortigen Teil des Untersees bzw. dem Ermatinger Becken, so erzählt eine Führerin vom deutschen Naturschutzbund, lebt im Sommer die Hälfte des (Wasser-)Vogelbestands des Bodensees, obwohl dieser Raum nur 0,6 Prozent der Seefläche ausmacht. Die Aussicht vom Beobachtungshaus über Schilfland, Schlick- und Wasserflächen bis zum grünen Schweizer Ufer ist genial.
Am Land sind viele Wander- und Radwege, Wiesen, die statt mit Obstplantagen meist noch mit Streuobstbäumen gespickt sind, und Äpfel, Birnen, Zwetschken hervorbringen. Tief in der Schweiz sieht man bei gutem Wetter die Alpen wie einen grauweißen Burgwall hochragen. Es gibt wenige Stellen, wo man angesichts der Aussicht, speziell auf den See, nicht „Hach!“ sagen muss – sonst explodiert man!

Garten Eden im Doppelpack

Die Leute sind stolz auf die reichlichen Früchte des Bodens, auf Baumobst, Beeren, Kräuter, Spargel, Rettich, Wein. Gleich zwei Gärten Eden sind die superromantische Insel Reichenau mit ihren drei romanischen Kirchen, wo Abt Walahfrid Strabo im 9. Jahrhundert eine Wiege des europäischen Gartenbaus schuf, und die viel größere Halbinsel Höri: Ein breiter, teilweise mittelgebirgiger Landbalkon, der von der Radolfzeller Aach nahe dem gleichnamigen mittelalterlichen Städtchen bis Stein am Rhein im Westen hervorragt, wo der Hochrhein anfängt.
Die Aach ist ein Kuriosum, denn sie entspringt 14 Kilometer Luftlinie nördlich der Mündung in den Untersee einer Quelle namens Aachtopf, die von der jungen Donau genährt wird, obwohl diese zwölf Kilometer von jener Quelle entfernt vorbeifließt. Wie das geht? Die Donau passiert da oben eine Stelle, wo in einem Karstgebiet im Raum Tuttlingen Teile ihres Wassers in unterirdische Kanäle rinnen, und so bis in die Aachquelle. Oft – vor allem im Sommer, zusammengerechnet kann das mehr als ein halbes Jahr ergeben – verschwindet die Donau bei dieser „Donauversickerung“ ganz, jedenfalls oberflächlich. Also fließt die Donau, wie man weithin glaubt, nicht nur ins Schwarze Meer, sondern via Bodensee und Rhein auch in die Nordsee!
Zurück zur bukolischen Höri, die so heißen soll, weil Gott nach ihrer Erschaffung und der des Bodenseeraums am sechsten Tag sagte: „Jetzt hör i uff.“ Das bäuerliche Land zieht Künstler an, spätestens seit dem Schriftsteller Hermann Hesse, der 1904–1912 im Dorf Gaienhofen ansässig war. Das Haus steht noch. Zur Nazi-Zeit zogen missliebige Künstler wie der Maler Otto Dix (1891–1969) her, da es in dieser Randlage Deutschlands ruhiger war und man zur Not auf Flucht in die Schweiz hoffen konnte.
Man kommt zu Fuß oder per Rad tatsächlich locker hinüber in den Kanton Schaffhausen oder mietet im fröhlich-schrägen Bootsstüble der Künstler/Bootsbauerfamilie Floetemeyer in Wangen, das auch Lokal, Unterkunft und Veranstaltungsort ist, ein Kanu, und rudert zum waldigen Schweizer Ufer 800 Meter vis-à-vis.

Tanz um die Tränentreiberin

Einen wahren Tanz machen sie in Höri und Umland um die „Bülle“: Eine rote Zwiebel, die nur dort (und in den Pyrenäen) wächst, edel schmeckt, einen kaum stinken lässt und die man nur händisch ernten kann, weil sie recht weich ist. Man kann die EU-geschützte Tränentreiberin auch zu Zöpfen geflochten kaufen und ehrt sie mit Festen, vor allem mit dem Büllefest (immer am ersten Sonntag im Oktober in der Gemeinde Moos). Weltweit gibt es nur wenige Feste zu Ehren von Zwiebeln, etwa in Givet (Belgien) und Laa an der Thaya (Niederösterreich).
Es ist ratsam, in Moos, einem Örtchen gleich im Südwesten von Radolfzell, im Gasthaus „Grüner Baum“ von Hubert Neidhart zu Dinkel- und Emmerbroten mit Butter und Bülleringen einzukehren, gefolgt von der leeegendären Bodenseefischsuppe. Der 64-Jährige ist sozusagen der frankreichgeprüfte Bodensee-Bocuse, nur bodenständiger, er kommt zu den Gästen heraus und tratscht.
Die Wurzeln des Wirtshauses reichen bis 1873 zurück, und Neidhart erzählt diese Geschichte in einem coolen Kochbuch, das leicht nachkochbare Rezepte und allerhand schräge Details aus der Vergangenheit enthält; etwa, wie gegen Neidharts Vater Gottfried im Juni 1956 polizeilich ermittelt wurde, weil drei Männer 50 Minuten über die Sperrstunde hinaus (24 Uhr) im Schankraum Karten gespielt hatten. Die Anzeige samt namentlicher Nennung der Übeltäter ist im Buch abgedruckt, daneben steht der Vermerk des Autors, dass die Gastfreundschaft im „Grünen Baum“ „bis in die 50er-Jahre hinein zu regelmäßigen polizeilichen Ermittlungen“ geführt habe.

Der Hecht mit dem Ohrring

Oder da ist die Geschichte, wie einmal eine junge Frau mit den Fischen im Aquarium im Gastraum, die man sich zur frischen Zubereitung aussuchen konnte, dermaßen Mitleid hatte, dass sie ihren Begleiter überredete, wenigstens einen davon – einen prächtigen Hecht – von Neidhart freizukaufen. Der Raubfisch wurde tatsächlich im Rahmen einer regelrechten Prozession zum See gebracht und entlassen. Zuvor war ihm allerdings ein Ohrring der tierliebenden Dame an der Rückenflosse befestigt worden: Sie hatte nämlich zusätzlich Bedenken bekommen, dass der befreite Hecht erneut ins Netz gehen und in den Kochtopf wandern könnte. Wirt Neidhart versprach, für seine Freilassung zu sorgen, sollte der derart markierte Fisch wieder gefangen werden.
Der „Grüne Baum“ ist übrigens eine der vier Stationen der im Voraus zu buchenden „Rettich, Bülle und Salat“-Radtouren, die über rund 19 Kilometer bzw. vier (Speisen-)Gänge führen, darunter zum „Hirschen“ in Gaienhofen-Horn neben der spätromanischen Kirche auf dem Hügel, von wo aus der Blick wieder einmal hach! ist. Die Räder (Elektroräder!) bekommt man dabei geliehen, zuletzt kostete alles etwa 50 Euro pro Person.

Land der Vulkankegel

Man soll aber auch nicht dauernd am See picken wie die Menschen in den Pfahlbauten vor Tausenden Jahren, denn eine zauberische Welt entrollt sich auch im Hinterland im Norden, dem Hegau, einem Gau des mittelalterlichen Herzogtums Schwaben, der das Gros des Kreises Konstanz ausmacht. Vor 14 bis sechs Millionen Jahren bedeckten Vulkane ihn mit weichem Auswurfgestein (Tuff) über 100 Meter dick. Vor etwa 150.000 Jahren hobelten Gletscher der Riß-Eiszeit den Tuff und Sedimentgesteine ab. Harte Vulkangesteine und Basalt, die innen die Schlote ausfüllten, blieben übrig.
Nun stehen neun bewaldete Vulkane, eigentlich ihre Kerne, im eher flachen Hegau verstreut. Am höchsten ist der Hohenhewen (circa 844 Meter). Auf jedem Kegel entstand eine Burg, darum ist der Hegau eine der Regionen mit der weltweit höchsten Burgendichte. Wegen der neun Kegelberge spricht man vom „Hegauer Kegelspiel“, der Bekannteste ist der Hohentwiel (686 Meter) bei der Industriestadt Singen mit der Festung Hohentwiel, deren Anfänge um 914 liegen. Es ist Deutschlands größte Burgruine. Die Ur-Burg wurde ausgebaut, später zur Staatsfestung Württembergs als Enklave in Baden (komplizierte Sache), und nie erobert. Anno 1800 kapitulierte die kleine Garnison vor den Franzosen, weil sich die österreichischen Truppen aus den dortigen Gebieten des damaligen Vorderösterreichs zurückgezogen hatten und die Festung alleine keine Chance hatte.

Deutschlands oberste Reben

Chancen gibt die hübsche Staatsdomäne Hohentwiel auf den Wiesen um den Berg indes einer sanften Landwirtschaft mit Schafzucht samt Schlachtung, mit Obst, feinen Obstsäften und Schnäpsen, es gibt Führungen durch die Gegend.
Wer aber schon am Hohentwiel ist, muss nach dem vielen „Hach!“-Hauchen auch beim dortigen Weingut am Südwesthang bei Hilzingen volltanken. Beate und Georg Vollmayer und ihre drei Töchter zaubern dort von Deutschlands höchsten Lagen aus (bis 560 Meter) tolle Weine in Fässer und Flaschen. Müller-Thurgau, Riesling, Chardonnay und Burgunder etwa, die bei der Austrian Wine Challenge Vienna schon mehrere Medaillen geholt haben. Österreich, sagt Beate Vollmayer, sei bei der Weinkultur insgesamt „unglaublich gut“ und ein Vorbild auch für sie am Bodensee.
Am Bodensee, genauer gesagt am Obersee-Teilarm Überlinger See, im Dörfchen Bodman an dessen Ende, gibt es übrigens mit dem „Königsweingarten“ den angeblich ältesten immer noch bewirtschafteten Weinberg Deutschlands. 884 ließ dort der Karolingerkönig und Römische Kaiser Karl III. (der Dicke) der Überlieferung nach Rebstöcke vom Spätburgunder anpflanzen. In Österreich ist der Spätburgunder vermutlich besser bekannt unter dem Namen Pinot noir.
Doch zurück zum Untersee: Dieser und der Hegau, wohl aber auch das (nicht ganz billige) Schweizer Ufer sind für viele, auch im Ländle, gewiss ein unentdecktes Land. Diesmal sollte es aber nicht wurscht sein.

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