Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, seit 2001 bei der „Presse“ in Wien, seit 2005 im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technologie, Raumfahrt, Militärwesen und Geschichte.

Vater wäre heuer 100 geworden

November 2023

Berühmte Leute wie Henry Kissinger feiern dieses Jahr ihren Hunderter, in Vorarlberg gab’s zuletzt mehr als 60 Menschen dieser Kategorie. Karl Greber, einst Arzt in Bregenz, schaffte es leider nicht. Ein Porträt meines Vaters, der zu früh gehen musste.

Im Herbst 2005 fuhr ich im Lift in eine der obersten Etagen des New Yorker Luxushotels „Four Seasons“. Als Journalist der „Presse“ war ich in der Entourage von Bundespräsident Heinz Fischer und folgte Kollegen, die ein Interview mit dem Doyen der US-Außenpolitik hatten: Henry Kissinger. Der legendäre Ex-Politiker mit fränkischen Wurzeln, 1969 bis 1977 Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister, Friedensnobelpreisträger 1973 wegen des Abzugs aus Vietnam, war Anfang 80 und weiter als Berater und Autor aktiv. Leider sah ich ihn nicht persönlich, denn die Kollegen trafen ihn in seiner Suite doba im Hotel exklusiv. Aber man hörte bis ins Vorzimmer das sonore Bassbrummen seiner Stimme.
Heuer ist er 100 geworden und immer noch schaffig. Im Vorjahr publizierte er ein Buch über Staatskunst im 21. Jahrhundert. 100 Jahre alt wurden heuer auch etwa der US-kanadische Chemienobelpreisträger Rudolph Marcus, der Wiener Pionier der Nuklearmedizin, Rudolf Höfer, Japans Prinzessin Mikasa. In Vorarlberg gab’s laut Statistikamt Ende September 66 Menschen im Alter von mindestens 100 Jahren, davon 57 Frauen.
Mein Dad hätte heuer auch 100 werden können. Aber es kam vor langer Zeit anders. Eines frühen Morgens im Oktober 1982 verließ er unsere Wohnung in einem jener Hochhäuser in der Bregenzer Weiherstraße, von wo aus man so schön über den See sieht. Er kam nicht lebend zurück. Das Letzte, was ich von ihm mitbekam, war, wie er (ich lag noch im Bett) die Tür absperrte, und wie der Lift seine knackenden und schürfenden Geräusche machte, als er sieben Stockwerke nach dunna sauste.
Er hieß Karl Josef Greber, war lange mitten in Bregenz Zahnarzt und daher kein so Unbekannter. Und weil mein Sohn Max, sein Enkel, seit September älter ist, als ich es bei Vaters Tod war (zwölf Jahre, drei Monate), will ich von Vater, hier bisweilen Karl genannt, erzählen.**
Er kam am 6. Juni 1923 in Außer­braz im Klostertal zur Welt, Sternzeichen Zwilling. Eine harte Zeit. Die junge Republik (Bundeskanzler war der Christlichsoziale Ignaz Seipel, ein Priester) war polarisiert und ökonomisch schwach, wenngleich die Hyperinflation von 1921/22 abklang. In Deutschland raste sie 1923 teils auf fast 30.000 Prozent im Monat; in meiner Schachtel mit alten Dingen ist ein Geldschein von damals in Höhe von einer Milliarde Mark, wofür es Ende 1923 nicht einmal ein Kilogramm Kartoffeln gab.
Karls Eltern waren Rudolf (1890-1954, aus Innerbraz) und Zäzilia Stephanie (1891-1975, gebürtige Konzett aus Außerbraz). Rudolfs Vater Kaspar Alois war aus Schoppernau abgewandert, um beim Bau und Betrieb der Vorarlberger Bahn und Arlbergbahn in den 1870ern/80ern mitzuwirken. Opa Rudolf, eines von zehn Geschwistern, wurde 1914 bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs als Soldat des 4. Kaiserjägerregiments in Galizien durch einen Bauchschuss verwundet, für ihn war der Krieg vorbei. Später kam er zur Bahn, die 1923 zur ÖBB wurde. Da war er Chef der Haltestelle Braz.
Zurück zu Karl. 1924 wurde seine Schwester Elvira geboren. Es gab noch einen Bruder namens Edmund, von dem ich nur sein Sterbebildchen kenne: Er erlag als Schulkind Ende der 20er/Anfang der 30er einer Lungenentzündung. Auf dem Foto trägt er schönes Gewand, blickt mit geschlossenen Augen irgendwie entrückt drein und hält in den zusammengebundenen Händen eine Kerze. Vater bekam feuchte Augen, wenn man ihn nach Edmund, meinem Onkel, fragte.
1934 zog die Familie aus dem schattigen Tal nach Rankweil, wo Opa Bahnhofsleiter wurde. Nach einigen Jahren bezog man ein schmuckes Haus in der Hörnlingerstraße. Vater besuchte Hauptschule und BG Feldkirch, nach dem Anschluss 1938 „Staatliche Oberschule für Jungen“. Irgendjemand in der Familie bewahrte ein „Vorarlberger Tagblatt“ vom 14. März 38 auf, es ist in meiner Schachtel.
Ein guter Schüler ist Karl, zeigen die Zeugnisse, „kräftig“, „leistungsfreudig“ im Sport, „mit guter Haltung“ und „begabt“, auch in Englisch, Italienisch, Spanisch. Einer seiner Langzeitfreunde wird Kinderdorf-Gründer Hermann Gmeiner (1919-86).
Karl registriert sich fürs Medizinstudium in Innsbruck, aber dem kommt die Wehrmacht zuvor: Sie zieht ihn Ende 1942 ein zum Infanterie-Ersatzbataillon 488 in Lindau. Schneidig sieht er in Uniform aus mit seinem schmalen Gesicht, den gewellten braunen Haaren und blaugrünen Augen. Dabei haben ihn die Führer der Rankler Hitlerjugend 1940 öffentlich verwarnt, wegen ungenannter Fehlverhalten. (Ja: Man musste mitmachen. Heute kann jeder bequem den Antifaschisten geben, dazu gehört kein Mut mehr.)
Ein Freund schreibt Karl, wie er sich jetzt wohl als „kleiner Soldat“ fühle, „wo Du vorher ein großer Herr warst“. Der kleine Soldat kommt ins riesige Hinterland der Heeresgruppe Süd an der Ostfront, zur 147. Reserve-Division in Swjahel (Nowohrad-Wolynskyj) in den Sonnenblumenebenen der Westukraine, als Sanitäter. Womöglich war er Juli 1943 im Rahmen der 4. Panzerarmee in der titanischen Schlacht von Kursk (Unternehmen Zitadelle), jedenfalls erzählte er von Panzerschlachten, und wie man abends Leichenteile aufgeklaubt habe. „200 Meter entfernt haben die Russen die ihren eingesammelt.“ „Habt ihr auf sie geschossen?“, fragte ich naiv. „Sanis tun das nicht“, sagte er.
Fotos zeigen ihn in bäuerlicher Umgebung mit Kameraden scherzen. Den Eltern schreibt er, wie entsetzlich kalt es im Winter sei, dass er bei -36 Grad fast erfroren wäre. Daheim in Rankweil hat er eine Freundin: Ruth, eine attraktive Blonde aus Hamburg, die wohl im Rahmen des „Bunds Deutscher Mädel“ in Vorarlberg war. In ein Notizbuch zeichnet er ein Holzhaus im Wald am Rankler Schafplatz, und kritzelt darunter: „Hier in diesem Häuschen küsste Karl sein Mäuschen, bis ihr schöner Rosenmund von seinen Küssen wurde wund.“
Jänner 1944 wird seine Division bei Swjahel eingekesselt, kämpft sich frei, eine Kugel trifft ihn am Arm. Später dient er in Lazaretten in Bayern und Lazarettzügen, die aus Polen beziehungsweise Norwegen Verwundete holen. Auf einem Foto schaut er mit nacktem Oberkörper aus einem Zugfenster, schildert in Briefen Bombenangriffe auf München, Hamburg und Trondheim und mahnt seine Mutter, sie möge in Briefen „vorsichtiger“ schreiben. Verklausuliert flucht er über Hitler, „dieses Schwein“, das nicht mehr wisse, wohin.
Anfang Mai 1945 ist Karl Greber in einer Brückenwacheinheit nahe Augsburg. Er setzt sich ab, nimmt ein Fahrrad und radelt nach Rankweil.
In Innsbruck studiert er Medizin, wobei er oft mit einem Motorroller dorthin fährt und einen Topf Riebel mitnimmt. Elvira, von ihrem Bruder „Aphrodite von Rankweil“ genannt, zieht derweil nach Südfrankreich – ein Besatzungssoldat aus Korsika namens Joseph Dionisi, Lehrer für Deutsch und Mathe, hat sie „entführt“, sie gründen eine Familie, die sehr groß werden sollte.
In den 50ern ging Vater als Turnusarzt ans Spital in Wels (OÖ). Dort lernte er Maria Martina Schirz (*1929) kennen, Krankenschwester aus dem Mühlviertel. Heirat 1956, im Jahr darauf kam Beate zu Welt. Irgendwann in den 60ern konnte er in Bregenz eine Zahnarztpraxis übernehmen, an der Ecke Montfortstraße/Weiherstraße. Im Parterre dort ist heute ein Tattoo-Studio. Der Vorgänger hatte Suizid begangen, die Praxis im ersten Stock war Teil einer riesigen Wohnung, wo die Witwe lebte. Sie lud Vater ein, hier samt Familie Zimmer zu beziehen, bis er eine richtige Wohnung hatte. Das dauerte einige Jahre, bis zumindest Ende 1968, als 50 Meter entfernt das Hochhaus Weiherstraße 3 fertig wurde. Die Wohnung war im siebten Stock. Im August 1970 war ich das erste Baby in dem Haus, der erste „Dreier-Weiher-Hochhausschreier“, wie jemand schrieb.
Vater lebte eher sparsam und fiel kaum als Nachtschwärmer auf. Er liebte frühe Spaziergänge am See vor Arbeitsbeginn, ging oft bergsteigen, wovon endlose Diaserien künden. Mit Mutter reiste er in die USA und ins damalige Persien, mit uns als Familie nach Südfrankreich. Er kleidete sich relativ bieder, typisch bürgerlicher Style der 60er/70er, und wenn er manchmal kurze Jeans trug, war’s fast peinlich. Im Anzug hingegen ging er als Dean-Martin-Typ durch.
Bei den Patienten war er beliebt. Er vollbrachte keine bekannten Großtaten, ward nicht berühmt wie Hermann Gmeiner, aber half tausenden Menschen. Einmal schneite ein Fremder mit Zahnweh herein. Vater erkannte ihn wegen einer „Aktenzeichen-XY“-Sendung als Großbetrüger, behandelte ihn und sagte, er wolle kein Honorar, aber der Typ müsse verduften. Es war offenbar eine Frage der Schweigepflicht.
Mutter erkrankte 1976 am grauenhaften Nervenleiden ALS und starb 1979, sie war 49. Vater fuhr mehrfach nach Frankreich, um bei Elvira Trost zu suchen, zudem auch etwa nach Griechenland, Brasilien.
Im Sommer 1982 waren wir auf Korsika, im bekannten Feriendorf „Störrischer Esel“. Wenig später, im Oktober, verlässt Vater frühmorgens die Wohnung. Ich höre, wie der Lift seine knackenden und schürfenden Geräusche macht, als er nach unten saust. Vater reist zu einem Ärztekongress nach Istanbul, es wird auch feuchtfröhlich. Beim Rückflug nach Zürich hat er einen Herzinfarkt. Der Jet landet in Wien, Vater kommt ins Spital. Dort fällt ihn der zweite Infarkt – just an dem Tag, da meine Schwester und ihr Mann nach Wien fahren, um ihn abzuholen.
Eine Welt stürzte ein. Aber das ist nicht mehr die Geschichte von Karl Greber, dem Iisabahnabüable aus dem Klostertal. Seither gôôts aamôôl uuf und aamôôl ab, aamôôl bischt doba, amôôl dunna. Wia uf anra Giigagampfa.
So eine gab’s am Spielplatz bei der Seepromenade. Vater hat dort mit mir giigagampfat, von ihm kenn ich dieses Oberländerwort. Und was von ihm noch? Nun, er war milde und scherzte gern, unterhielt locker-jovial ganze Tischgemeinschaften, war abseits davon aber nicht sehr extrovertiert. Ab und zu konnte er aufbrausen. Etwa, als ich einmal allein im Auto den Zündschlüssel drehte und der Mercedes mit einem Satz in den Baum davor krachte. Oje!
Wir badeten an der Pipeline, fuhren mit dem Rad zur Leiblach, die nasse Gegend dort nannte er „Froschland“. Oft ging es ins Haus nach Rankweil mit dem Apfelgarten, in „die Höhe“, speziell auf den Pfänder, in die Üble Schlucht, Silvretta und Verwall. Bei sonntäglichen Gasthausbesuchen war seine Leibspeise Zwiebelrostbraten. Nach Mutters Tod begann er wieder zu rauchen. Ich glaube, das tat ihm nicht gut.
Vater benutzte stark duftendes Rasierwasser wie „Old Spice“ und roch nach der Arbeit nach chemischen Sachen aus der Zahnarztpraxis. Vor größeren Reisen belegte er Basis-Sprachkurse, also kam er zu Kenntnissen etwa in Portugiesisch, Hebräisch, Türkisch. Er war sehr belesen und die Wohnung voller Bücher über Geschichte, Reisen, Archäologie, Technik, Astronomie. Und den Zweiten Weltkrieg. All die Interessen erbte ich. Als im April 1981 die US-Raumfähre Space Shuttle erstmals startete, sah ich das live im TV und war so überdreht, dass ich schrie: „Das ist die größte Erfindung in der Geschichte der Menschheit!“ Vater erwiderte trocken: „Nein. Die größte Erfindung war das Feuer.“
Beim Spielplatz an der Seepromenade steht heute noch der große Steinfisch, den ich schon als Baby kannte, die Dampflok ebenso. Und die Giigagampfa. Max, mein Sohn, sein Enkel, kennt all das auch, vom Steinfisch übers Froschland bis zur Üblen Schlucht und Lünersee. Und schöö ischs uf dr Giigagampfa.
** Manche Details sind unklar, ich habe nicht mehr viele Quellen und schreibe viel aus der Erinnerung, versuche aber mein Bestes.

Giigagampfa
Aamôôl uuf
und aamôôl ab
Aamôôl doba
aamôôl dunna
Wia uf anra Giigagampfa
Aamôôl dunna
aamôôl doba
Aamôôl ab
und aamôôl uuf
So gôôts uf dr Giigagampfa:
uuf und ab
und ab und uuf
Inge Dapunt*

* Inge Dapunt-Morscher, * 1943 in Zams, schrieb in den 1960/70ern als Mundartdichterin geniale Texte im Bludenzer Dialekt, zuletzt in Neuauflage 2014 im Buch „Vom Schtädtle und vom Ländle“.
Ihr Text hier ist leicht verändert. Eine Giigagampfa ist eine Wippschaukel auf Spielplätzen.

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