Angelika Schwarz

* 1975 in Feldkirch, ist Journalistin, studierte Germanistin und Anglistin, langjährige ORF-Redakteurin und -Moderatorin (Radio und Fernsehen). Angelika Schwarz arbeitet in der Unternehmenskommunikation der Landeskrankenhäuser Vorarlberg.

Zu wenig des Guten

Juni 2022

Es klingt beim ersten Hinhören beinahe absurd, wenn man in unserer vielzitierten Überfluss-Gesellschaft von „Mangelernährung“ spricht. Tatsächlich ist dieses Phänomen insbesondere bei kranken und älteren Menschen ein weit verbreitetes – und ein gefährliches: Rund 35 Prozent aller Patient:innen im Spital sind mangelernährt. Für weitere 45 Prozent ist das Risiko, eine Mangelernährung aufgrund ihres Gesundheitszustandes zu entwickeln, sehr hoch. Umso wichtiger ist es, eine Mangelernährung zu erkennen und als Diagnose wahrzunehmen. „Allein in der Abteilung für Onkologie haben vier von fünf stationären Patient:innen mit Gewichtsverlust und dessen Auswirkungen zu kämpfen. Im chirurgischen Bereich liegt ihr Anteil immerhin noch bei 50 bis 60 Prozent“, verdeutlicht Dr. Patrick Clemens, geschäftsführender Oberarzt der Abteilung für Strahlentherapie und Radio-Onkologie am LKH Feldkirch. Der Facharzt und diplomierte Ernährungsmediziner leitet dort das bereichsübergreifende Ernährungsteam. Grundlage einer Ernährungstherapie ist die Interdisziplinarität, dementsprechend sind im Team unterschiedliche Abteilungen und Fachrichtungen vertreten – Ärzt:innen, Pflegefachkräfte, Apotheker:innen sowie Physiotherapeut:innen, Diätolog:innen und Logopäd:innen.
Unter den Patient:innen mit Mangelernährung sind sowohl Menschen, die aufgrund ihres schlechten Ernährungszustandes krank geworden sind, als auch solche, die durch eine schwere Krankheit im wahrsten Sinn des Wortes „ausgezehrt“ sind. Die Zahl an mangelernährten Menschen zeigt sich daher in Gesundheitseinrichtungen besonders deutlich. Einmal jährlich werden diese Daten weltweit ganz exakt erhoben: Am „Nutrition Day“ wird von Österreich ausgehend die Ernährungssituation der Menschen in Spitälern und Pflegeheimen in eine internationale Datenbank eingespeist. Auch das LKH Feldkirch beteiligt sich seit Jahren an dieser Initiative zur Bekämpfung von Mangelernährung. Ziel ist es, das Bewusstsein zu stärken und die Qualität der Ernährungsversorgung zu verbessern. „Zudem veranstalten wir gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft für klinische Ernährung (AKE) regelmäßig Fachkongresse, auf denen wir uns austauschen und auf den neusten Stand bringen“, erklärt Dr. Patrick Clemens. 

Bewegung und Ernährung hängen zusammen

Mangelernährung bedeutet ein Zuwenig an Kilokalorien oder auch einen Mangel an Muskelmasse. Erkrankungen – vor allem Krebserkrankungen – steigern das Risiko, eine Mangelernährung zu entwickeln. „Bei onkologischen Patient:innen kann bereits ein kleiner Tumor den Stoffwechsel im gesamten Körper beeinflussen und zu Appetitlosigkeit führen“, erklärt der Facharzt. Manchmal können sich kranke und pflegebedürftige Menschen auch selbst nicht angemessen ernähren und brauchen Unterstützung. „Ein oft unterschätztes Problem bei älteren Menschen ist etwa eine Schluckstörung.“
Vor allem bei älteren Kranken führt die verminderte Nahrungsaufnahme in Kombination mit Bewegungsmangel dazu, dass auch die Muskelkraft abnimmt. Um Leistung zu erbringen, braucht der Körper ausreichend energie- und proteinreiche Nahrung. Bei Ernährungsmangel holt sich der Körper das Eiweiß aus den eigenen Quellen und Reserven. Von diesem – in der Fachsprache „Sarkopenie“ genannten – Muskelschwund können auch jene betroffen sein, die durch einen hohen Fettanteil viele Kilos auf die Waage bringen. Durch den Mangel an Muskelmasse gelten sie trotzdem als mangelernährt: „Gerade wenn jemand viel Gewicht hat, geht die Diagnose oft unter und bleibt unentdeckt“, betont Dr. Clemens. „Patient:innen mit einem BMI von 35 können sehr wohl mangelernährt sein. Man sieht es nur nicht auf den ersten Blick. Wir müssen da genauer hinschauen.“

Mangelernährung als Diagnose

Mangelernährung ist eine Diagnose, die, obwohl sie so häufig vorkommt, zu wenig gestellt und beachtet wird. Die Folgen einer nicht diagnostizierten Mangelernährung sind unter anderem eine schlechtere Wundheilung, höhere Infektanfälligkeit, mehr Komplikationen bei Operationen und ungünstige Langzeitprognosen: „Mangelernährte Tumorpatient:innen beispielsweise sprechen schlechter auf eine antitumoröse Therapie an“, verdeutlicht der Ernährungsmediziner. Häufigere und verlängerte Krankenhausaufenthalte schlagen sich wiederum in höheren Kosten für das Gesundheitssystem nieder. 
Kürzlich veröffentlichte Studien untermauern nun erstmals auch mit Zahlen, wie wichtig es ist, diese – oft zusätzliche – Diagnose zu stellen: „Eine Untersuchung in der Schweiz mit über 2000 Patient:innen zeigt, dass mit gezielter Ernährungstherapie um drei Prozent mehr Spitals-Patient:innen ihre Krankheiten überleben – und das bereits während eines Zeitraums von nur 30 Tagen. Daneben haben sich durch eine individualisierte Ernährung auch die Behandlungsergebnisse verbessert, und es sind im Vergleich weniger Komplikationen bei Eingriffen aufgetreten. Wenn man also auch die Mangelernährung behandelt, sind die Chancen, eine andere Krankheit zu überleben, größer“, fasst Dr. Patrick Clemens zusammen. Erkennt man eine Mangelernährung rechtzeitig, kann man gut gegensteuern und damit auch einen Erkrankungsverlauf aktiv positiv beeinflussen: „Wir können die Fett- und Muskelzusammensetzung mit völlig schmerzfreien Methoden messen, etwa mit Ultraschall. Außerdem gibt es Fragebögen, die gezielt auf eine Mangelernährung als mögliche Diagnose hin ausgerichtet sind“, beschreibt Dr. Clemens die Abläufe im Spital. „Liegt ein Befund vor, kann das Behandlungsteam für die individuell abgestimmte Kalorien- und Nährstoffzufuhr sorgen. Bei einer optimalen Ernährungstherapie arbeiten die beteiligten medizinischen Berufsgruppen zusammen.“
In der Onkologie sollte die Untersuchung der Patient:innen auf ihren Ernährungszustand hin Standard sein. Ein Screening, bei dem alle ins Spital eingewiesenen Patient:innen erfasst werden, ist jedoch noch Zukunftsmusik. OA Dr. Patrick Clemens ist aber zuversichtlich und verweist zum Vergleich auf das längst etablierte Modell einer Vorsorgeuntersuchung: „Auf langfristige Sicht zahlen hier die einzelnen Untersuchungen in das gesamte Gesundheitssystem ein. So sehe ich das auch im Bereich der Ernährung.“

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