Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Architektur gleicht einem Eisberg: Der gefährliche Teil ist unsichtbar“

März 2018

Gerald A. Matt sprach mit Wolf D. Prix (76), dem wohl international erfolgreichsten österreichischen Architekten. Prix, 1968 Mitgründer der Architektengruppe „Coop Himmelb(l)au“, ist ein streitbarer Geist und ein interessanter Gesprächspartner, der im Zusammenhang mit Architektur auch immer wieder engagiert Stellung zu politischen und gesellschaftlichen Fragen nimmt.

Sie gelten als Weltstar der Architektur. Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl, erfolgreich zu sein?

Nie.

Im Frühjahr 2015 wurde die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt eröffnet, eine Kathedrale des Geldes, das größte und teuerste Gebäude, das Sie je gebaut haben. Ein Riesenerfolg, aber auch ein Gebäude, das Protest auslöste. Ein Pyrrhussieg für einen Revolutionär?

Ich stand zum ersten Mal auf der anderen Seite des Zauns, aber der Protest richtete sich nicht gegen die Architektur, sondern gegen die Politik der Banken.

Hatten Sie trotzdem Bauchweh?

Nein, überhaupt nicht.

Kann man alles für jeden bauen oder gibt es klare Grenzen für Sie?

Man, oder besser ich, kann nicht alles bauen, nicht für jeden: kein Gefängnis, keine Militäranlagen, kein Kernkraftwerk. Aber ich kann für jeden bauen, der sich unsere Art zu bauen wünscht. Es ist reine Doppelmoral, wenn man in China wegen der Regierung nicht baut. Es kommt immer darauf an, was man baut. Brunelleschi hat wunderbare Bauten für die Kirche gebaut, das wohl autoritärste System überhaupt. Er hat aber nicht das System legitimiert, sondern die Architektur. Was sich aber in China zu bauen verbietet, ist „chinesische“ Architektur, denn das wäre die wahre Verbeugung vor dem System.

Sie, die Architekten von „Coop Himmel­b(l)au“, haben den Ruf, Enfants terribles zu sein. Radikalität und Kompromisslosigkeit sind Ihre Haltung und Losung bis heute. Muss gute Architektur so sein – und kann sie dies bei Großprojekten und ihren politischen und wirtschaftlichen Auflagen überhaupt noch sein?

Ja, auch große Bauten, wie wir Sie gebaut haben, müssen diesen Ansprüchen genügen, dies dauert manchmal kürzer, manchmal länger und hat mit der unsichtbaren Architektur zu tun. Denn Architektur gleicht einem Eisberg: Drei Zehntel nur sind sichtbar, der gefährliche Teil ist unsichtbar. Das sind die Politik, die Ökonomie, Regeln und Klischees und insbesondere der Unwille mancher Auftraggeber. Die Arbeit an dieser unsichtbaren Architektur und an der Überwindung der Widerstände ist wesentlicher Teil von Architektur. Geradezu für infam halte ich aber die zunehmende Kostenvorhalte und -vergleiche bei Kulturbauten durch die Politik. Mein Museum in Lyon hat nur eineinhalb Mal so viel gekostet wie ein Eurofighter. Geld für Kultur ist ein Problem, für Waffen aber keines. Das ist der Skandal.

Mit dem Doppelturm für die EZB haben Sie ein signifikantes Zeichen in Frankfurt gesetzt. Müssen gute Gebäude auch spektakulär sein?

Nur Gegner nennen unsere Architektur spektakulär. Um was es geht und was wir erschaffen, sind merkbare Ikonen im Angesicht der Stadt.

Zu Ihren Signaturbauten gehören Großprojekte wie die BMW-Welt in München, der Ufa-Kristallpalast in Dresden, das Busan Cinema Center in Südkorea, das Dalian International Conference Center in China, das Museum des Confluences und nun die EZB in Frankfurt. Was ist ihnen gemeinsam, was macht ihre Qualität aus?

Gemeinsam ist ihnen – und das ist auch ihre unbedingte Qualität – die Verbindung von privatem und öffentlichem Raum. Das gilt auch für die EZB, nur ist es dort durch die Sicherheit limitiert. In Lyon funktioniert es wunderbar, mehr als 800.000 Besucher kamen allein im ersten Dreivierteljahr.

Gibt es so etwas wie Ihren wichtigsten Bau – vielleicht ein Bau, mit dem Ihnen der internationale Durchbruch gelungen ist?

Das kann ich nicht sagen, unsere Bauten funktionieren so gut, wie sie gedacht und geplant wurden; jede unserer Bauten ist mir die wichtigste.

Ist es Ihnen recht, wenn man Sie einen Künstlerarchitekten nennt?

Heute ist das ja schon fast abwertend, aber ja, ich finde das richtig und ich bin stolz darauf. Teile meiner Architekturen und Arbeiten sind Plastiken, Großplastiken, die Innen und Außen, Privates und Öffentliches verbinden.

Können Sie etwas zu Ihrem familiären Hintergrund sagen? War Architektur ein Thema zuhause?

Selbstverständlich, mein Vater war Architekt. Ich bin im Architekturbüro meines Vaters aufgewachsen und bin dann irgendwie in meinem eigenen gelandet. Aber richtig bewusst wurde mir, dass ich Architekt werden wollte, nachdem ich das Kloster Sainte-Marie de La Tourette von Le Corbusier gesehen habe. Die Räume faszinierten mich, organisch geformt, statt Fenster setzte Corbusier Röhren für das Licht ein. Und ich wusste, wenn das Architektur ist, dann will ich Architekt werden.

Wie kam es zum Namen Coop Himmelb(l)au, warum Baukooperative, warum Himmelblau? Da gibt es unterschiedliche Gründungsmythen.

Erstens wollten wir einen Gruppennamen, so wie die Beatles und Rolling Stones einen hatten. Und wir wollten bauen, zusammen bauen, zusammen Ideen entwickeln und realisieren. Himmelblau ist keine Farbe, sondern bedeutet Veränderung. An Veränderung arbeite ich noch heute. Ohne Veränderung gibt es keinen Fortschritt. Und wer nicht fortschreitet, stirbt. Aber das kommt vom Erwin Ringel und damit spricht er ein elementares gesellschaftliches Problem an. Zur Namenseingebung, ein Mythos: Wir saßen im Flugzeug von Spanien nach Wien und beschlossen, eine Gruppe zu gründen. Ich hab damals „Hamlet“ gelesen. Da gibt es die Szene, in der Hamlet zu Polonius sagt: „Seht Ihr die Wolke dort, beinah in Gestalt eines Kamels?“ Sogleich verbessert er sich: „Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Krokodil.“ Und dann: „Oder wie ein Walfisch?“ Es geht also um die Veränderbarkeit der Wolken und beim Fliegen ist der Himmel dunkelblau – ein herrliches Blau! Ich sah aus dem Fenster, es gab eine einzelne Wolke, ganz nah zum Flügel. Und die veränderte sich. Wir wollten Architektur wie Wolken bauen, uns aber nicht „Wolkenbauer“ nennen, daher „Himmelblau“. Das ist aber, wie wir es formulierten, „keine Farbe, sondern die Idee, Architektur mit Fantasie leicht und veränderbar wie Wolken zu machen“.

Warum das „l“ in der Klammer?

Ganz einfach, weil wir inzwischen bauen ...

Was wollten Sie damals erreichen? War da das Ziel, die Welt zu verändern und kann Architektur das überhaupt?

Radikal, ja, und zwar sofort, das wollten wir. Die Welt verändern, das ist immerhin einen Versuch wert. Was Architektur jedenfalls kann, ist eine Veränderung im visuellen Verhalten der Menschen zu erreichen.

Damals galt der Slogan: Alle Macht der Fantasie. War es damals leichter, Visionen zu haben und sie zu realisieren?

Haben ja, realisieren nein.

Wie geht es Ihnen mit Bauherren und deren ökonomischen Zwängen und persönlichen Vorurteilen? Ist der Bauherr mehr Verhinderer als Ermöglicher?

Vorweg: Bauherren gibt es nicht mehr – und das ist gut so. Heute gibt es Auftraggeber und Architekten und die dürfen, wenn gute Architektur entstehen soll, sich nicht auseinanderdividieren lassen. Das müssen Teamplayer sein, wie beim Fußball. Gute Architektur entsteht nur, wenn das Team passt und zusammenspielt. Fußballstrategien ähneln sehr der Architekturentwicklung. Und da ist der FC Barcelona mit Pep Guardiola das Vorbild.

Mit Helmut Swiczinsky und Michael Holzer haben Sie 1968 Coop Himmelb(l)au entwickelt. Wie kann man sich Ihre Zusammenarbeit vorstellen?

In Kürze: Ideen gemeinsam entwickeln, das Spiel aufbauen, Pässe zuspielen, und dann den genialen Pass mit unvorsehbaren Chancen, Tikitaka, wie es der FC Barcelona perfekt beherrscht.

Architektur ist vornehmlich Planung. Welche Rolle spielt der Zufall?

Planung hat für mich mit Ahnung zu tun. Der Zufall spielt eine essenzielle Rolle in der Architektur, in meiner Architektur, so wie in der Evolution, in der Lösungen erprobt werden und jene, die sich bewähren, weiterentwickelt werden. Das ist auch die Basis einer offenen Gesellschaft, um einen Begriff von Karl Popper zu verwenden.

Sie haben E-Gitarre gespielt. Inwieweit hängen Musik und Architektur für sie zusammen?

Ich spiele noch immer. Musik und Architektur haben sehr viel miteinander zu tun. Ich kenne keinen guten Architekten, der nicht an Musik interessiert ist. Ich liebe Berg und Bach und vieles mehr.

„Architektur muss brennen“, haben Sie Anfang der 1970er-Jahre geschrieben, ein Aufruf zur Leidenschaft oder Pathos der Zerstörung?

Da geht es um Leidenschaft, aber nicht um Zerstörung, dann wäre ich ja Sprengmeister.

Muss gute Architektur immer kontroversiell sein?

Ja.

Muss Sie funktional sein?

Ja, das ist Zweck und Ziel von Architektur, aber Funktionalität macht noch keine gute Architektur.

Am Anfang Ihrer Arbeit standen experimentelle Projekte wie „Villa Rosa“, mobile Wohnräume, pneumatische Wohneinheiten aus Ballons und Schläuchen. Waren das Ihre Luftschlösser?

Ja. Pneumatik gab uns die Möglichkeit, Räume schnell und billig herzustellen. Wir hatten damals keine Aufträge und da habe ich mich selbst beauftragt. Architektur zu machen, ohne einen Auftrag zu haben, das vermisse ich bei jungen Architekten.

Heute scheint Architektur vielen Menschen fremd zu sein. Welche Rolle spielt der Mensch in Ihrer Arbeit?

Eine absolut zentrale Rolle. Gebäude haben nicht nur physischen, sondern auch psychischen Charakter. Architektur gibt dabei Gestalt und Charakter. Sie dient zur menschlichen Identifikation. Unsere Bauten schaffen Heimat. Was anfangs als Fremdes abgelehnt wird, wird oft schon nach kurzer Zeit angenommen. Unsere EZB gilt jetzt schon als Architektur-Ikone Frankfurts.

Coop Himmelb(l)au war eine wichtige Position in der Ausstellung „Deconstructivist Architecture“, die Phillip Johnson und Mark Wrigley im Museum of Modern Art (MoMA) in New York organisierten. Fühlen Sie sich heute noch wohl mit dieser Etikettierung?

Es gibt viele Stars, aber wenige, die eine Architekturrichtung mitbegründet haben. In Österreich ist das neben Hans Hollein wohl nur Coop-Himmelb(l)au.

Was ärgert Sie am meisten an Österreich und Wien?

Die Zwergpudelmentalitat, diese zunehmende Biederkeit, Mut- und Fantasielosigkeit. Damit ist alles gesagt.

Mies van der Rohe sagte einmal: „Schönheit ist der Glanz des Wahren.“ Können Sie mit diesem Satz etwas anfangen?

Nein, Schönheit ist keine Kategorie für meine Architektur. Im Gegenteil, ich habe meine Sprache dadurch gefunden, dass ich beispielsweise an einem Projekt, einer Installation in Stuttgart, die mir nicht gelang, konsequent arbeitete. Von da an ging es bergauf.

Architekten scheinen eine besonders hohe Lebenserwartung zu haben, ich denke da an Oskar Niemeyer, der berühmte brasilianische Architekt, der über 100 Jahre alt wurde. Ist das Architektendasein ein so erfüllender Beruf oder muss man einfach durchhalten, weil man erst im hohen Alter zum Bauen kommt?

Sowohl als auch. Da muss ich von einem Erlebnis mit Oskar Niemeyer erzählen, der mich, als ich ihn einmal besuchte, durch sein Atelier führte und vor dem Bild einer nackten Frau stehen blieb. Er sagte: „Look, this is what keeps us alive.“

Oskar Niemeyer sagte in seinem Buch „Wir müssen die Welt verändern“ auch: „Die Architektur ist nur ein Vorwand. Wichtig ist das Leben.“ Teilen Sie diese Haltung?

Recht hat er.

Vielen Dank für das Gespräch!

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