
Der Jesuit und der Freimaurer – Streitgespräch auf dem Zauberberg
Diesmal widmet sich Gerald A. Matt dem berühmten und von ihm geliebten Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, einem Epochenroman, der nicht zuletzt durch leidenschaftliche Streitgespräche über Politik, Philosophie, Liebe und Tod nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Mehr als 100 Jahre sind seit der ersten Veröffentlichung des berühmten Romans Der Zauberberg (1924) von Thomas Mann vergangen. Bis heute ist Der Zauberberg das international meistgelesene Werk Thomas Manns, ein Roman, den ich erstmals in der achten Klasse des Gymnasiums las und dessen Faszination ich mich bis heute nicht entziehen kann. Mehr denn je bewundere ich seine elegante Ironie und Sprachmacht. War es Der Zauberberg, der mit seinen Bezügen zu Schopenhauer, Hegel in mir aber auch die Neugier für Grundfragen der Philosophie weckte?
Thomas Mann erzählt die Geschichte des jungen Ingenieurs Hans Castorp, der im Sommer 1907 seinen an Lungentuberkulose leidenden Vetter in einem Davoser Lungensanatorium besucht. Bald erliegt er dem Zauber des morbiden Charmes des „Berghofs“ in den Schweizer Alpen und seinem isolierten, dem Alltag entrückten Leben zwischen Krankheit, Angst, Hoffnung, Tod und Eros, und verbleibt mit einem leichten Schatten auf der Lunge für sieben Jahre bei „denen da oben“, auf dem Zauberberg. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs schließt das Sanatorium, Castorps Spuren verlieren sich auf den Schlachtfeldern Flanderns.
Unser Augenmerk gilt zwei Intellektuellen, dem italienischen Liberalen und Freimaurer Lodovico Settembrini und dessen ideologischem, dialektisch geschultem Widerpart, dem erzreaktionären Jesuiten Leo Naphta, zwei Charaktere, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Die Debatten zwischen den beiden – der Humanismus Settembrinis und der Fanatismus Naphtas – sowie seine Erfahrungen begleiten und prägen die siebenjährige geistige Reise des Hans Castorp auf dem Zauberberg und machen den Roman für die Leser, damals auch für mich, zu einem Erziehungs- und Bildungsroman zugleich.
Der Roman spiegelt die geistige und politische Metamorphose des Autors wider. Zeigte sich Thomas Mann mit seinen Texten Gedanken im Kriege und Betrachtungen eines Unpolitischen noch 1918 als glühender Verehrer des Kaisers und der alten feudalen Anordnung, als konservativer Kriegsbefürworter und überaus skeptisch, ja ablehnend der Freimaurerei gegenüber, so wandelt er sich nach dem Ersten Weltkrieg zum mutigen Verteidiger der Weimarer Republik und der Menschenrechte und zum entschiedenen Gegner der Nazis und ihrer Barbarei.
Mann forderte Widerstand, Humanitas und Caritas ein und durchlebte gleichsam eine osmotische Wandlung von der Position des radikal-totalitären Naphtas zu der demokratischen und liberalen Haltung Settembrinis – und auch zu einer zunehmenden Sympathie für die Freimaurerei und ihre Werte. Mit seinen Radiosendungen Deutsche Hörer! aus dem freiwilligen amerikanischen Exil wird er später zum Gegenspieler Adolf Hitlers.
Der Disput Naphtas und Settembrinis nimmt mehr als hundert Seiten des Romans in Beschlag und gibt ihm seinen philosophisch-politischen Rahmen. Zwischen Settembrini und Naphta kommt es immer wieder zu heftigen Kontroversen, bei denen sich der Zuhörer Castorp zwischen beiden hin- und hergerissen fühlt.
Beide, Settembrini wie Naphta, sind dem Tode geweiht; die Tuberkulose zerfrisst ihre Lungen, beide buhlen um die geistige Gunst des jungen Castorp. Settembrini, der Freimaurer, glaubt an die Selbstbestimmung und die Veredelung des Menschen, ist Literat, ein Mann von enzyklopädischer Bildung, überzeugter Humanist, glühender Republikaner und zieht die Vernunft dem Gefühl vor. Er sieht sich als pädagogischer Förderer Castorps, belehrt ihn in philosophischen und politischen Fragen und wird ihm allmählich zum Freund.
Sein Gegenspieler, der asketische Jesuit Naphta, ein zum Katholizismus konvertierter galizischer Jude, war Professor für alte Sprachen an Feldkirchs berühmter Stella Matutina. In Bildung und Wissen Settembrini ebenbürtig, ist er ihm in Zynismus und Misanthropie weit überlegen. Naphta ist ein rhetorisch brillanter, in sophistischer Logik geschulter Verfechter einer totalitären Ideologie zwischen einem inquisitorisch-blutigen Katholizismus und einer Art durch totalitäre Mittel erzielten Urkommunismus. Naphta stellt sich bald zwischen Castorp und Settembrini, der vergeblich versucht, seinen jungen Freund von dessen Einflüssen und, wie er sagt, teuflischen Reden fernzuhalten.
Leidenschaftlich streiten die beiden – in einem Wettstreit um Geist und Seele Castorps – über Politik, Philosophie, Liebe, Krankheit und Tod. Während Castorp vom „genialen Prinzip der Krankheit“ schwärmt, rät ihm Settembrini wiederholt abzureisen, die Hermetik des Zauberbergs zu verlassen; er warnt ihn vor der Entfremdung vom wirklichen Leben durch die Hingabe an die Krankheit und vor allem vor der lasterhaften Anziehungskraft des Todes. Settembrini sagt zu Castorp: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“
Im Gegensatz zum Freimaurer Settembrini strebt Naphta nach der Wiederherstellung des „anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustands“ der „Staat- und Gewaltlosigkeit“, wo es „weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenunterschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Vollkommenheit“. Um diese zu erreichen und zu erhalten, bedürfe es – nach Abschaffung „der Greuel des modernen Händler- und Spekulantentums“ und „der Satansherrschaft des Geldes, des Geschäfts“ – eines totalitären, auf Terror gestützten Gottesstaates; das Prinzip der Freiheit sei ein überlebter Anachronismus. Naphta sieht im Krieg die einzige Lösung für diese Welt.
Auch verachtet Naphta die Freimaurerei und ihre Werte, bezeichnet den Geist der Freimaurerei als tot – nur Settembrini wisse es noch nicht. Naphta spricht vom „Köhlerglauben an die Vernunft, die Freiheit, den Menschheitsfortschritt und diese ganze Mottenkiste bourgeoiser Tugendideologie“, nennt sie einen „als Mysterium eingekleideten“, „atheistischen Republikanismus“, „altmodisches und Rückständiges“, bürgerliche Aufklärung von vorgestern, welche nichts weiter sei als ein armseliger Geisterspuk.
Demgegenüber sieht der überzeugte Freimaurer und Liberale Settembrini zwei Prinzipien im ewigen Kampf um die Welt: Die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen, das Beharren und der Fortschritt. Dabei stehe Naphta für die Finsternis, das Böse, Tyrannei, Aberglaube und Tod. Er, Settembrini, und die Freimaurerei engagieren sich für „die Sonne der Aufklärung, der vernunftgemäßen Vervollkommnung und Vollendung der Menschheit“, „die Schönheit, die Freiheit, den Körper, die Heiterkeit, den Genuss“. Er vertrete die „Interessen des Lebens“ gegen „sentimentale Weltflucht“ oder menschenverachtende Gewalt und Todesromantik.
Der weltanschauliche Streit der beiden eskaliert zunehmend, und Naphta besteht auf einem Pistolenduell. Settembrini kommentiert das Duell als „die Rückkehr zum Urstande der Natur“ und sieht darin, „jegliche Gesprächskultur vor die Hunde gehen, sie beißt im Duell sowie im Kriegstreiben ins Gras.“ Settembrini schießt mit Absicht in die Luft, woraufhin Naphta – der ihm wütend und verzweifelt Feigheit vorwirft – seine Niederlage erkennt und sich aus Enttäuschung selbst erschießt. Als Castorp zur Front abreist und das Sanatorium schließt, verabschiedet sich Settembrini mit einem Wangenkuss und einem Du („Giovanni mio“), was Hans fast die Fassung verlieren lässt.
Es sind insbesondere die endlosen, streitbaren Dialoge zwischen den so gegensätzlichen Charakteren – dem mit Kommunismus und Faschismus gleichermaßen sympathisierenden Leo Naphta und dem Aufklärungsoptimisten Lodovico Settembrini – die dem Buch seine Aktualität und ideologische Polarisierung geben. Es sind brillante Rededuelle um wesentliche Fragen unserer Zeit: Freiheit versus Ordnung und Sicherheit, Glaube und Vernunft, um Menschenrechte und Humanität versus totalitäre Macht und elitäre Dünkel, Aufklärung versus Reaktion, Führung oder Selbstbestimmtheit, Menschlichkeit und Toleranz.
Es ist der Widerstreit zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden. Heute sind es Diktatoren wie Putin oder mit autoritären Strukturen liebäugelnde US-Präsidenten und religiöse sowie politische Fundamentalismen verschiedener Art, die Demokratie, Pluralismus, Diversität, Menschenrechte und nicht zuletzt unsere Freiheit bedrohen. Thomas Manns Zauberberg ist aktueller denn je.








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